Reformationsjubiläum

„Der Diskurs über Reform und Islam ist ein Selbstgespräch“

Forderungen nach einer Reform des Islams seitens sogenannter Islamkritiker haben Hochkonjunktur. Auf welche gesellschaftlichen Missstände dieser „Erfolg“ hinweist und wie der Islam sich qua Tradition unentwegt weiterentwickelt, erklären Dr. Hakkı Arslan und Dr. Silvia Horsch in einem IslamiQ-Gastbeitrag.

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2017
Martin Luther, Reformation © shutterstock
Zum Gedenken an Martin Luther und die Reformation: Statue in Erfurt © shutterstock

Und täglich grüßt die Islamkritik, fordert „Reform“ und einen „aufgeklärten Islam“. Muslimische Akteure, die sich solche Kategorien zu eigen machen, werden im Diskurs honoriert und hofiert. Das deutlichste Beispiel aus diesem Jahr – dem Jahr des 500-jährigen Jubiläums der Reformation – ist die Eröffnung der „liberalen“ Ibn Ruschd-Goethe-Moschee in Berlin. An ihren Veranstaltungen müssen mehr PressevertreterInnen als Gläubige teilnehmen, will man die Flut der wohlwollenden Berichterstattung erklären. Zuletzt sorgte der Anschlag von 40 Thesen von Abdel-Hakim Ourghi an eine Neuköllner Moschee für anerkennende Schlagzeilen. Einige wenige, vornehmlich evangelische Kommentatoren erkannten darin die PR-Aktion, die es war, ansonsten wurden in der Presse zumeist distanzlos seine Positionen wiedergegeben und Ourghi gar als „muslimischer Luther“ bezeichnet. Vielleicht hoffte man auf eine Bannbulle einer größeren islamischen Religionsgemeinschaft, um dem Luther-Skript weiter folgen zu können – die belästigte Moschee deeskalierte jedoch souverän, indem sie Ourghi zum Tee einlud.

Während solche Aktionen vor allem von der Boulevard- und Tagespresse aufgegriffen werden, erhalten die Ideen muslimischer Islamkritiker ebenso wie die „liberaler“ Theologen – die Grenzen sind hier fließend – ein breites Forum, auch in Wochenzeitungen und Zeitschriften wie der „Zeit“ und „Cicero“, „Aufklärung und Kritik“, und zahlreichen anderen Medien. Daran wäre nichts auszusetzen, wenn auch die Kritik an den jeweiligen Thesen Raum bekäme. Wer jedoch als Muslim – und sei es mit den besten inhaltlichen Argumenten – Positionen eines sich selbst als „liberal“ oder „modern“ bezeichnenden Reformprojekts kritisiert, zieht die spiegelbildlich entgegengesetzten Zuschreibungen auf sich und gilt als „konservativ“ oder gar „fundamentalistisch“. Beiträge, die solche Dichotomien unterlaufen, finden im derzeit aufgeheizten Klima kaum Gehör. Deshalb handelt es sich bei der gesellschaftlichen Debatte um den Islam oft nur um ein eurozentristisches Selbstgespräch. Autoren wie Abdel-Hakim Ourghi, Seyran Ateş oder Hamed Abdel Samad sind sich uneinig darüber, ob eine Reform des Islams gelingen kann – dass eine solche notwendig ist und dass sie entlang der Maßgaben der europäischen Aufklärung zu erfolgen hat, steht für alle außer Frage. Dabei wird die Sinnhaftigkeit der Forderung nach einer islamischen Aufklärung nicht nur von muslimischen Gelehrten, sondern auch in der Islamwissenschaft schon länger bestritten.[1]

Abgeschlossener Text, endlose Deutung

Solange der Koran den Muslimen als Gottes Wort gelte, sei der Islam unveränderlich – diesem häufig vorgetragenen Kurzschluss widersprechen durchaus nicht nur „liberale“ Theologen, sondern auch die früheren klassischen und heutigen traditionsorientierten Gelehrten.

Der Koran als Text ist abgeschlossen, nicht aber seine Deutung.

Thomas Bauer verweist in seinem Standardwerk „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ auf den Korangelehrten Ibn al-Dschazari (gest. 1429), dem zufolge keine Generation aufhören werde, im Koran neue, zuvor unbekannte Bedeutungen zu entdecken und aus ihm neue rechtliche Urteile abzuleiten. Der Koran als Text ist abgeschlossen, nicht aber seine Deutung.

Wie sich Deutungen verändern, zeigt sich besonders gut an der vieldiskutierten Frage der Gewalt: Weil im Koran Verse mit Aufforderungen zur Gewaltanwendung zu finden seien, argumentieren Ourghi und andere, habe der Islam per se ein Problem mit Gewalt. So weit, so kurzschlüssig. Die Verse im Koran stehen im Kontext spezifischer historischer Situationen und liefern daher weder allgemein gültigen Handlungsanweisungen noch eine Theorie des Krieges. Muslimische Gelehrte entwickelten ein Kriegsrecht aus den Texten des Korans und der Hadithe in Auseinandersetzung mit ihren (vormodernen) Kontexten. Ihre Konzepte genügen unseren heutigen Ansprüchen nicht mehr, aber die Gelehrten von damals wären wohl selbst erstaunt gewesen, wenn ihre Ansichten unverändert bis ins 21. Jahrhundert Gültigkeit behalten hätten: „Die Änderungen der Regelungen aufgrund der Änderungen der Zeiten darf nicht abgelehnt werden“, lautet eine allgemein anerkannte Maxime des islamischen Rechts.

Diese Stimmen, die weder Beifall heischend nach Aufklärung rufen, noch medienwirksam den Westen verdammen, sondern eine Jahrhunderte alte diskursive Tradition fortführen, gehen im hiesigen Diskurs weitgehend unter.

Heute gehen die Gelehrten in der ganz überwiegenden Mehrheit davon aus, dass militärischer Dschihad nur im Verteidigungsfall zur Anwendung kommen darf.[2] Neue Rahmenbedingungen wie das internationale Völkerrecht und nationalstaatliche Beziehungen führten dazu, dass die klassischen Konzepte überdacht wurden. Der Gelehrte Abdullah Bin Bayyah nennt diese Herangehensweise „islamisches Recht im Kontext“ (fiqh al-waqiʿ). Bekannte traditionsorientierte Gelehrte wie Bin Bayyah, Said Ramadan al-Buti oder die zahlreichen Unterzeichner der verschiedenen Fatwas gegen religiösen Extremismus lehnen jegliche Gewalt gegenüber Andersgläubigen oder auch Apostaten ab – nicht indem sie sich von der traditionellen Lehre distanzieren, sondern indem sie diese weiterdenken und neu kontextualisieren. Diese Stimmen, die weder Beifall heischend nach Aufklärung rufen, noch medienwirksam den Westen verdammen, sondern eine Jahrhunderte alte diskursive Tradition fortführen, gehen im hiesigen Diskurs weitgehend unter. Ungleich mehr Aufmerksamkeit erhalten extreme Deutungen. Die Tatsache, dass sich radikale Gruppen für ihre Taten auf den Koran berufen, verleiht ihren Deutungen jedoch keine Gültigkeit – es sei denn, wir akzeptieren Extremisten als maßgebliche Repräsentanten einer Religion, aber dann müssen wir uns auch das Christentum von der Lord’s Resistance Army erklären lassen und den Buddhismus von Mördern in Myanmar.

Mangelnde Kenntnis der Tradition

Das zweite Lieblingsthema der Islamkritik ist das Verhältnis der Geschlechter. Ein patriarchales Geschlechterverhältnis mag über weite Strecken der Geschichte und in vielen Regionen der islamischen Welt auch bis heute vorherrschend sein. Das heißt aber nicht, dass innerhalb des Islams andere Entwürfe nicht möglich sind und es diese nicht auch gegeben hat und gibt. Einige unbekannte Fakten: Muslimische Frauen spielten vor der Kolonialzeit über den Stiftungssektor eine bedeutende Rolle in der Gestaltung ihrer Gesellschaften; zwischen 30% und 50% der Stiftungen in den islamischen Kernländern wurden von Frauen nicht nur gestiftet, sondern auch kontrolliert.

Gleichberechtigung lässt sich leicht von anderen fordern, eigene Privilegien abzugeben ist ungleich schwieriger.

Biographiensammlungen enthalten tausende Beispiele von Frauen, die in den Bereichen Dichtung, Politik oder Wissenschaft anerkannt waren. Die Kenntnis davon hätte es den GründerInnen der „Ibn Rushd-Goethe-Moschee“ – in der immerhin der Koran feministisch ausgelegt werden soll – ermöglicht, ihr Projekt nicht nur nach Männern zu benennen. Frauen beteiligten sich auch an der religiösen Lehre: Der Anteil der Frauen unter den Hadithgelehrten lag im sogenannten Mittelalter bei 15% – eine Quote, die heutzutage unbefriedigend wäre, für die sich aber z.B. das 35-köpfige Herausgeberteam von „Aufklärung und Kritik“, das 2017 die erste Frau aufgenommen hat, immer noch mächtig ins Zeug legen muss. Gleichberechtigung lässt sich leicht von anderen fordern, eigene Privilegien abzugeben ist ungleich schwieriger.

Liberale Eindimensionalität

Freiheitlich demokratische Grundwerte könne ein Muslim, der sich nicht einem radikalen Reformprojekt verschreibe, nicht widerspruchsfrei vertreten. So ein weiterer häufig geäußerter Vorwurf. Gläubige Muslime erscheinen so als insgeheime Antisemiten, Homophobe, Feinde der Menschenrechte und der Gleichberechtigung. Solche Annahmen sind in mehrfacher Hinsicht problematisch:

Zunächst sind Einstellungen wie Antisemitismus oder Homophobie – beides europäische Exportgüter – zwar unter zeitgenössischen Muslimen vorhanden, diese sind jedoch gerade nicht Merkmale des traditionellen Islams, wie etwa Thomas Bauer und Khaled Rouayheb zur Homophobie, Stephan Wild und Marc Cohen zum Antisemitismus gezeigt haben.[3] Wer beides dem Islam pauschal vorwirft, hält derzeitige Gesichter des Islams, wie sie sich in autoritären Staaten im Osten und unter Druck stehenden Minderheiten im Westen darstellen, für sein essentielles Wesen. Außerdem sind Musliminnen und Muslime ohnehin – wie alle anderen Menschen in Deutschland auch – gar nicht zu mehr verpflichtet, als sich an die Rechtsordnung zu halten. „Kein Glaube muss mit dem Grundgesetz vereinbar sein, aber nicht alles, was ein Glaube fordert, darf unter dem Grundgesetz verwirklicht werden“, schrieb Dieter Grimm, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, in einem Gastbeitrag für die FAZ.[4] Man muss keine Widerspruchsfreiheit behaupten, wie es liberale Theologen oft tun, denn sowohl das Grundgesetz als auch gläubige Musliminnen und Muslime können solche Widersprüche aushalten. Unbequeme Koranverse lassen sich nicht einfach „für ungültig erklären“, wie Ourghi es unter großem Beifall fordert, da sie aufgrund der Tatsache, dass sie aufgeklärten Sensibilitäten widersprechen, nicht aufhören Teil der Rede Gottes zu sein.

Die im Koran genannten Strafen verdeutlichen die Schwere der jeweiligen Vergehen, ihre Anwendung steht jedoch auf einem anderen Blatt.

Daraus folgt aber weder, dass es notwendig ist, den Koran nicht mehr als Offenbarung zu verstehen, noch dass die Einführung von Körperstrafen das Ziel aller gläubigen Muslime sein muss. Nicht erst die aufgeklärte Moderne verspürt ein Unbehagen gegenüber drastischen Strafen, das war schon in der islamischen Geschichte so: Man bemühte sich um ihre Abwendung, zu der es auch einen prophetischen Auftrag gibt: „Wendet die Strafen durch Ungewissheiten ab!“ Untersuchungen von Chroniken zeigen z.B., dass Steinigungen praktisch nicht vorkamen – ganz im Gegensatz zu einigen sogenannten islamischen Ländern heute. Die im Koran genannten Strafen verdeutlichen die Schwere der jeweiligen Vergehen, ihre Anwendung steht jedoch auf einem anderen Blatt.

Im Unterschied dazu kennt die Moderne – zu der auch extremistische Strömungen gehören – nur Alles-oder-Nichts-Lösungen: Strafen können nur angewandt oder abgeschafft werden, dazwischen gibt es nichts. Für die Fähigkeit der islamischen Tradition, Mehrdeutigkeiten auszuhalten und unterschiedliche Register nebeneinander existieren zu lassen, hat Thomas Bauer den treffenden Begriff der Ambiguitätstoleranz eingeführt. Wer diese Toleranz als einen Hinweis auf mangelnde Islamkonformität wertet, macht sich das Deutungsschema der Extremisten zu eigen, die in der klassischen Tradition nur den Verfall sehen können.

Hat die liberale Moderne einen Platz für religiöse Menschen?

Das Grundgesetz und die meisten religiösen Menschen können mit diesem Spannungsverhältnis leben, die Frage ist, ob unsere säkulare Gesellschaft insgesamt es kann. Religiöse Menschen – nicht nur Muslime! -, die ihre Religion nicht entsprechend dem aufgeklärt-protestantischen Paradigma als rein innerlichen, privaten Glauben auffassen, stellen den postulierten Pluralismus auf die Probe.

Darf Säkularismus auch durch Religiöse kritisiert werden oder geht das nur umgekehrt?

Können praktizierende Muslime, orthodoxe Juden oder freikirchliche Christen ihre Lebensentwürfe leben ohne sich ständig vorwerfen lassen zu müssen, sie seien rückständig? Dürfen Menschen die große Erzählung des stetigen Fortschritts anzweifeln und auf dem Wert religiöser Traditionen bestehen, ohne aus dem gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen zu werden? Darf Säkularismus auch durch Religiöse kritisiert werden oder geht das nur umgekehrt? Ein Papst oder Bischof kann das wohl in verträglichen Dosen tun, für Angehörige einer als fremd wahrgenommenen Religion ist das ungleich schwieriger. Damit wird jedoch die freiheitlich-demokratische Gesellschaft ihren eigenen Prinzipien nicht gerecht und die diskursethischen Ansprüche auf gleichberechtigte Teilhabe fallen in der Praxis in ein Selbstgespräch unter Gleichgesinnten zusammen.

[1] Vgl. z.B. den Beitrag von Frank Griffel in der Süddeutschen Zeitung vom 27. Mai 2016, „Eine Reform des Islams ist sinnlos“, URL: http://www.sueddeutsche.de/kultur/geschichte-der-toleranz-alles-ausser-aufruhr-1.3008818

[2] Diese Position wird dargestellt in der Broschüre „Jihad and the Islamic Law of War“ (2009) des Royal Islamic Strategic Studies Centre, Amman, Jordanien, URL: http://rissc.jo/jihad-and-the-islamic-law-of-war/

[3] Vgl. ein Interview mit Stefan Wild in Der Freitag vom 07.05.2004, „Wie antisemitisch ist der Islam?“, URL: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/wie-antisemitisch-ist-der-islam

[4] FAZ vom 22.04.2016, URL: www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/islam-vs-grundgesetz-debatte-ueber-religionsfreiheit-14191706-p2.html

Leserkommentare

Manuel sagt:
So jemand wie Muslim muss genauso bekämpft werden wie die Rechtsextremen, den beide sind zwei Seiten der selben Medaille. Er ist ein Extremist, der am liebsten auch bei uns das Steinigen, Auspeitschen und Handabschneiden einführen will. Für so jemanden zählt ein Menschenleben nichts, wenn es die falsche Religion hat.
10.11.17
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