Wer oder was ist „liberaler Islam“?

„Liberaler Islam“: Ein Projekt voller Fragezeichen

Der sog. “liberale Islam“ will als säkulare und humanistische Alternative zum “konservativen Islam“ dienen. Welche Probleme ein liberal-islamisches Denken birgt und was er bedeutet, erklärt IslamiQ-Chefredakteur Ali Mete.

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Wer oder was ist der "liberale Islam"? © shutterstock
Wer oder was ist der "liberale Islam"? © shutterstock

Immer öfter wird von einem „liberalen Islam“ gesprochen. Sogenannte „praktizierende Muslime“ wie auch „Kulturmuslime“, die sich als liberale, humanistische, säkulare usw. Muslime bezeichnen, melden sich vermehrt zu Wort. In diesem Beitrag sollen Positionen zum liberalen Islam und Probleme liberal-islamischen Denkens dargestellt werden.

Forderungen 

„Liberale Muslime“, so die gängige Bezeichnung, möchten ein humanistisches, modernes und aufgeklärtes Islamverständnis im zeitgemäßen Kontext“ fördern. Sie fordern u. a. eine moderne, historisch-kritische Lesart des Korans, eine humanistische, individualisierte Theologie, geschlechtergemischte Gebete ohne Bekleidungsvorschriften und mit Predigten auf deutsch, aber mit der Möglichkeit, das diese von „Imaminnen“ geleitet werden. „Liberale Muslime“ fordern zudem die Einbindung in die Vertretungsstrukturen der Muslime in Deutschland, einen „humanistisch orientierten“ islamischen Religionsunterricht und mehr Einsatz im Kampf gegen Gewalt und Extremismus.[1] Ferner gehören auch Themen wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Akzeptanz und Inklusion Homosexueller in die muslimische Gemeinschaft zum Grundbestand liberal-islamischer Anliegen.[2]

Daten und Fakten 

Wie viele „liberale Muslime“ es gibt, ist in der Gesamtheit nur schwer festzustellen. Bekannt ist, dass der 2010 gegründete Liberal-Islamische Bund (LIB) und damit der älteste der wenigen Vereine und Gesprächsgruppen des „liberalen Islams“ deutschlandweit lediglich 350 Mitglieder hat.[3] Gemeinden gibt es in Köln, Frankfurt und Berlin, während in Stuttgart, Hamburg und im Raum Ennepe-Ruhr einzelne Gruppen bestehen.[4] Zum Vergleich: Die vier größten islamischen Religionsgemeinschaften in Deutschland[5] vertreten ca. 85 Prozent der 2500 Moscheegemeinden in Deutschland und damit einen großen Teil des muslimischen Gemeindelebens.[6] Die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) mit Sitz in Köln, um ein Beispiel zu nennen, ist nur ein, wenn auch das größte Mitglied des Islamrates. Sie besteht mit ihren Vorgängerorganisationen seit den 70er Jahren, hat 36 Regional-/Landesverbände (davon 16 in Deutschland), mehr als 2300 Ortsgemeinden, 613 Moscheen, über 20.500 ehrenamtliche Funktionäre und rund 146.000 Mitglieder weltweit.[7] 

Von liberal-muslimischen Akteuren ist des Öfteren zu hören, sie würden der „schweigenden Mehrheit der Muslime“ eine Stimme geben, nämlich jener, die sich nicht durch die etablierten islamischen Religionsgemeinschaften vertreten fühle. So schreibt Lamya Kaddor: „Doch wir liberalen Muslime, wir, die schweigende Mehrheit, müssen sie (die „Orthodoxen“, AM) davon überzeugen, das ein bisschen mehr Machtverteilung, ein bisschen mehr Ausgleich und Kompromissbereitschaft am Ende allen guttun werden.“[8] Doch um welche Macht geht es hier? Die bestehenden islamischen Religionsgemeinschaften haben die Aufgabe und den Anspruch, für ihre Gemeinschaften zu sprechen und sich für ihr Islamverständnis stark zu machen – nicht mehr und nicht weniger. Die Gemeinschaften stehen für keinen Islam, der von oben herab „etabliert“ wird.

Der inzwischen medial präsente Abdel-Hakim Ourghi, Mitglied der Interessengruppe „Säkulare Muslime“ und Verfasser des Buches „Reform des Islam“ sieht das anscheinend anders. Er setzt einen Gegensatz zwischen Konservatismus und Modernismus/Humanismus voraus und schreibt, dass „die muslimischen Dachverbände nicht in die geeigneten Ansprechpartner des Staates und der beiden Kirchen sind“, da sie „einen konservativen Islam vertreten“ und daher „keine Garantie für die Etablierung eines modernen und humanistischen Islam“ seien.[9] Ihm schwebt vielmehr ein Rat vor, „der sich aus Mitgliedern konservativer Verbände sowie Mitgliedern eines reformierten liberalen Islams zusammensetzt“.[10]

Öffentliches Auftreten

Die Politik unterstützt liberale Bestrebungen, um die Vielfältigkeit des Islam“ zu fördern.[11] Nur einige Beispiele: Die Gründungsversammlung des Verbands Demokratisch-Europäischer Muslime (VDEM) fand 2010 mit Unterstützung des Aachener Oberbürgermeisters Marcel Philip statt.[12] Das Muslimische Forum Deutschland (MFD) wurde mit finanzieller und organisatorischer Unterstützung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung gegründet.[13] Der Kölner Friedensmarsch #Nichtmituns[14], welcher von der LIB-Gründerin Lamya Kaddor und dem Aktivisten Tarek Mohamad initiiert und organisiert wurde, fand einen großen und prominenten Unterstützerkreis aus der Politik und Gesellschaft[15]. Trotzdem haben am Ende nach Polizeiangaben lediglich bis zu 1000 Personen teilgenommen.[16]

Entgegen der unverhältnismäßigen Präsenz und Förderung liberaler Muslime vonseiten der Politik und der Medien ist die Zahl der Veröffentlichungen liberaler Vereine qualitativ und quantitativ recht überschaubar. Auf der Homepage des 2010 gegründeten LIB befinden sich insgesamt sieben recht kurze und teilweise rudimentäre und so gut wie gar nicht mit Quellen belegte Positionspapiere, denen man bestenfalls ansatzweise liberal-islamische Positionen und Ideen entnehmen kann, sowie knapp 40 größtenteils frei geschriebene „Freitagsgedanken“. Die jüngste auf der Seite auffindbare Pressemitteilung ist von Ende 2015, der letzte Medienbeitrag von Mitte 2016.[17] Auf den Internetpräsenzen anderer, noch kleinerer Gruppen sieht es nicht besser aus.

Etwas mehr findet man auf dem deutschsprachigen Buchmarkt, auch wenn es sich hierbei um Werke von Einzelpersonen und nicht Einrichtungen handelt und es in diesen Büchern nicht systematisch um „den liberalen Islam“, sondern eher um einzelne Aspekte und Perspektiven eines „zeitgemäßen Islams“ geht. Hierzu gehören z. B. Lamya Kaddors Muslimisch – weiblich – deutsch! – Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam“ (2010), Hilal Sezgins „Mohammed und die Zeichen Gottes – Der Koran und die Zukunft des Islam“ (2008) oder Mouhanad Khorchides Gott glaubt an den Menschen – Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus“ (2015), „Scharia – der missverstandene Gott. Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik“ (2013) und „Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion“ (2012).

Probleme „liberal-islamischen“ Denkens

Muslime und islamische Vereinigungen, die sich über Label wie „liberal“, „säkular“, „humanistisch“ usw. definieren, beanspruchen für sich, eine in den Hintergrund gedrängte, vergessene Strömung des Islams zu repräsentieren, die „über Jahrhunderte hinweg von vielen muslimischen Denkern weitergetragen“[18] worden sei. Aus dieser Position ergeben sich einige Probleme.

Der politische Begriff „liberal“

Das erste Problem ist der Name: „liberaler Islam“. Der Begriff „liberal“ ist ein moderner politischer (Kampf)Begriff und lebt von der Abgrenzung. Denn „(e)ine politische oder soziale Handlungseinheit konstituiert sich erst durch Begriffe, kraft derer sie sich eingrenzt und damit andere ausgrenzt und d. h. kraft derer sie sich selbst bestimmt.“[19] Dessen scheint sich zumindest der LIB bewusst zu sein, da er sonst nicht klarstellen würde, dass „das Wort ‚liberal’ kein auf den politischen Kontext begrenzter Begriff“ sei und „nichts anderes als ‚freiheitlich (gesinnt)’ und ‚vorurteilsfrei’“ bedeute.[20] Aber trotzdem vergleicht LIB-Gründerin Lamya Kaddor das Verhältnis von „Orthodoxie“ und „liberaler Auffassung“ mit „unserem funktionierenden politischen System“: „Wir können darin die verschiedenen Grundeinstellungen zwischen Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus beobachten.“[21]

Jedoch ganz und gar nicht vorurteilsfrei versuchen „liberale Muslime“ oft, sich begrifflich, politisch und theologisch von anderen Muslimen und deren Gemeinschaften abzugrenzen, wobei deren Selbstbezeichnung „islamische Religionsgemeinschaft“ tunlichst gemieden wird. Diese oft drastische, bei liberalen Akteuren wie Abdel-Hakim Ourghi fast schon kriminalisierende Art der Profilierung durch Abgrenzung beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Während etwa Ourghi islamischen Religionsgemeinschaften fast jedwede Befugnis und das Existenzrecht abspricht[22], haben Vertreter und Vertreterinnen der etablierten islamischen Religionsgemeinschaften liberale Aktivitäten bisher kaum wahr- oder ernstgenommen und berechtigterweise nur wenig Bedarf verspürt, sich abzugrenzen. Sie haben früh erkannt, dass es sich um eine Scheindebatte handelt und sich nicht auf die „politische Denkschablone“ liberal-konservativ eingelassen.[23]

Die Suche nach einer Anbindung an die Tradition

Die Abgrenzung liberaler Muslime von den Vertretern eines traditionellen Islams steht in einem Spannungsverhältnis zum Versuch, ihr Denken in der islamischen Tradition zu verankern, allein schon deshalb, um den Anschein, ein Kind der Moderne zu sein, zu vermeiden, was ja schon der zeitgenössische Begriff „liberal“ nahelegt.

Um diesen Eindruck zu vermeiden wird nach Anknüpfungspunkten in der islamischen Tradition gesucht. Hierbei fallen die Namen von Strömungen wie der Mutazila und Gelehrten wie Ibn Hazm (gest. 1064), Ibn Ruschd (gest. 1198), Ibn Arabî (gest. 1240), Schâtibî (gest. 1388), Dschamal ad-Dîn al-Afgâni (gest. 1897), Muhammad Abduh (gest. 1905) und Muhammad Ikbal (gest. 1938). Denn dem LIB zufolge ist der liberal-islamische Ansatz weder eine Erfindung des Abendlands noch eine der Moderne“: Zu allen Perioden der islamischen Geschichte hat es wichtige spirituelle Vorbilder (z. B. Ibn Arabi, 1165-1240), Gelehrte (z. B. Muhammad Abduh, 1849-1905) und reformatorische Bewegungen (z. B. die Mu’tazila ab dem 8. Jhd.) gegeben, die den Islam in seinen freiheitlichen Aspekten betonten.[24

Es bleibt bei der bloßen Nennung dieser Personen. Eine tiefergehende Erörterung, inwiefern die Mutazila und die genannten Gelehrten für ein liberal-islamisches Verständnis stehen, gibt es von Seiten der liberalen Vereine nicht. Lediglich Mouhanad Khrochide behandelt in seinen Büchern diese und ähnliche Frage, jedoch nur oberflächlich und nicht in gebotener akademischer Manier, da die Bücher laut eigenen Angaben auf eine „auch für Laien verständliche Weise“[25] geschrieben wurden.

Ohnehin ist fraglich, inwieweit eine zu ihrer Entstehungszeit wichtige Bewegung wie die Mutazila, für teilweise salopp daherkommende liberale Bestrebungen herhalten kann. Allein die Betonung der Vernunft bei der Mutazila als gemeinsames Merkmal hinzustellen, ist zu kurz gegriffen. Dies wird der Mutazila nicht gerecht, die u. a. aus dem Bedarf heraus entstanden ist, den islamischen Glauben angesichts der Glaubenslehren systematisch zu erklären bzw. zu verteidigen, weshalb sie besonders in den damaligen Metropolen Kufa und Basra stark vertreten war.

Die Vernunft bzw. Ratio (Akl) war ein – zentrales und wichtiges – Mittel der Mutazila, aber kein Selbstzweck. Unter ihren folgenden fünf zentralen Prinzipien befindet sich kein „Prinzip der Vernunft“: 1. die Einheit Allahs (Tawhîd), 2. die Gerechtigkeit Allahs (Adl), 3. die Verheißung und Drohung (al-Wad wa al-Waîd), 4. die Zwischenstellung zwischen zwei Aufenthaltsorten (al-Manzila bayn al-Manzilatayn) und 5. das Gebieten des Guten und das Verbieten des Verwerflichen (al-Amr bil-Maruf wan-Nahy anil-Munkar).[26]

Die starke Bezugnahme auf die Mutazila bei heutigen liberalen Muslimen hinterlässt den Eindruck als wären alle anderen Denkschulen gegen den Einsatz rationaler Argumente und würden sich ausschließlich an den Wortlaut halten. Dieser verengte und vermutlich auch dem aktuellen Image des Islams geschuldete Blick ist nicht zutreffend, jedoch aufschlussreich hinsichtlich der Vorstellung vermeintlich liberal denkender Muslime. Denn so einflussreich die Mutazila auch war, im Zuge von zahlreichen Disputen durchgesetzt haben sich mit der Aschariyya und der Maturidiyya zwei Theologieschulen, die ihre Aufgabe darin sahen, dem rationalistischen Gedankengebäude der Mutazila eine ebenfalls auf rationalistischen Argumenten beruhende Verteidigung der islamischen Glaubensfundamente entgegen zu stellen. Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime folgt – bewusst oder unbewusst – der Maturidiyya, da diese unter Hanafiten traditionell vorherrschend ist.[27]

Ähnlich verhält es sich mit der Bezugnahme auf bestimmte Gelehrte. Im LIB-Positionspapier zur Homosexualität wird auf Ibn Hazm verwiesen, demzufolge die Überlieferungen zu homosexuellen Akten „allesamt als gänzlich zweifelhaft und unzuverlässig“ seien. „Liwat galt Ibn Hazm als Form von außerehelicher Sexualität als sündhaft, er erkannte jedoch ihre von anderen Gelehrten betriebene weitere Kriminalisierung nicht an und betrachtete eine solche als nicht im Einklang mit den eigentlichen Quellen des Islams.“[28] Nun muss man aber wissen, dass der andalusische Rechts- und Hadithgelehrte Ibn Hazm einer der bekanntesten Vertreter der kleinen und kurzlebigen Zâhiriyya war. Das Hauptmerkmal dieser Rechtsschule war ihr unbeirrbares Festhalten an dem Wortlaut der Quellen, weshalb z. B. Schâtibî die Zahiriyya stark kritisierte und Ibn Hazm in die Nähe der Hâridschiten rückte, die wiederum so gar nicht freiheitlich-liberal waren. Vor diesem Hintergrund ist verwunderlich, dass sich das Positionspapier auf Ibn Hazm bezieht und kann nur mit Mangel an Alternativen bzw. fehlender Expertise erklärt werden.

Individualisierung und Methodenlosigkeit in theologischen Fragen

Ein Kennzeichen bzw. Problem liberal-islamischen Denkens ist die ambivalente Haltung gegenüber dem Idschma und den Hadithen mit gleichzeitiger Betonung des Idschtihads. Einerseits ist diese Haltung nachvollziehbar, denn ohne die Infragestellung von Hadith und Idschma wären viele Positionen und Wünsche liberaler Muslime gar nicht mehr islamisch-theologisch begründbar. Die Gefahr der ausartenden Individualisierung und der damit verbundenen Methodenlosigkeit bei der Urteilsfindung in theologischen Fragen ist groß. Denn Idschtihad heißt nicht einfach nur, dass man von seinem Verstand Gebrauch macht und vom Wortlaut der deutschen Koranübersetzung seinen Glauben und seine religiöse Praxis ableiten könnte.

Vor diesem Hintergrund ist auffällig, dass sich keiner der liberal-islamischen Gruppen damit auseinandersetzt, unter welchen Bedingungen, von wem und mit welchen Qualifikationen ein Idschtihad heute vorgenommen werden kann. Einfach nur theologisch bewandert zu sein, reicht – vor allem angesichts der heutigen komplexen Lebensrealität – bei weitem nicht aus.

Welche Folgen eine theologische Individualisierung gepaart mit Methodenlosigkeit haben kann, kann anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden.

In einem „Freitagsgedanken“ des LIB macht sich Katharina F. Gedanken über das Opfern und Spenden. Sie kommt zu dem Ergebnis: Meiner Ansicht nach muss heutzutage nicht unbedingt ein Tier geopfert werden, sondern es geht hauptsächlich darum etwas von sich für andere zu geben bzw. andere am Opfer teilhaben zu lassen. Und ob ich nun Geld spende, damit irgendwo auf der Welt ein Tier geschlachtet und dessen Fleisch an Bedürftige verteilt wird oder ob ich es spende damit die bereits erwähnten Hilfsgüter verteilt werden, ist eigentlich egal. Ich denke, dass beides als Opfergabe von Gott angenommen wird.[29]

Ein anderer Text derselben Verfasserin beschäftigt sich mit der Frage der Sprache beim Gebet und kommt zum Schluss: Wo steht im Koran geschrieben, dass das Gebet auf Arabisch Pflicht ist? Nirgends. Ein solches Gebot existiert nicht. Das Argument mancher Muslime, dass man auf Arabisch beten müsse, weil der Koran auf Arabisch offenbart wurde, ist falsch. Man kann ohne Bedenken auch auf Deutsch oder jeder anderen Sprache beten.[30]

Damit hat Katharina F. quasi aus dem Stegreif heraus zwei tief verwurzelte religiöse Praktiken problematisiert und in wenigen Sätzen einer für sich selbst plausiblen Lösung zugeführt. Man kann, wenn man die nötige Qualifikation dazu hat, den Idschma kritisieren und auch Hadithkritik betreiben. Das ist das Tagesgeschäft muslimischer Gelehrter und Akademiker. Aber schreit das Vorgehen wie es hier geschildert wird, nicht gerade nach dem Vorwurf der Beliebigkeit, den liberale Muslime strikt von sich weisen? Denn mit derselben Logik könnte ohne Weiteres das fünfmalige Gebet auf zwei oder drei reduziert, das Fasten auf den Verzicht von einigen wenigen Genüssen und Gewohnheiten abgestuft oder das Kopftuch abgeschafft werden, wie es Lamya Kaddor ja bereits getan hat: „Gott verlangt sittsames Verhalten. […] Das Kopftuch spielt in meinem Deutschland des 21. Jahrhunderts keine Rolle mehr.“[31]

Es drängt sich der Verdacht auf, liberalen Muslimen gehe es darum, bestimmte Lebensentwürfe theologisch zu begründen. In einem Schweizer Papier wird das deutlich: „Die Reformziele […] umfassen die Anpassung des Islam an die Erfordernisse des heutigen gesellschaftlichen Lebens, die Konformität mit den UNO-Menschenrechtsdeklarationen und den Willen, als BürgerInnen und MuslimInnen einen Beitrag zur Bewältigung der Zukunftsprobleme der Menschheit zu leisten.“[32] In der Religion wird somit nicht mehr etwas Wesentliches gesehen, dass das Leben ordnet, sondern als etwas, das beliebig und zum eigenen Vorteil geordnet werden kann und muss.

Ausblick

Der Islam ist nie statisch gewesen, schon gar nicht so wie ihn vermeintlich liberal denkende Menschen sehen möchten, um ihn gemäß ihren Vorstellungen neu zu ordnen. Selbstverständlich gab und gibt es Muslime, die Fehler machen, ein verzerrtes Verständnis ihrer Religion haben oder Erlaubtes für verboten und Verbotenes für erlaubt erklären. Doch schon immer hat es Bewegungen und Gelehrte gegeben, die mit Wissen, Demut und Hingabe versucht haben, diese Missstände zu korrigieren, indem sie aus der unendlichen Fülle koranischer und prophetischer Weisheit und der Methoden, die im Laufe der Jahrhunderte entwickelt wurden. In diesem Rahmen können Muslime ihre Religion reflektieren und praktizieren. Der Islam bedarf keiner Pseudoreform, schon gar nicht einer vermeintlich liberalen, denn der Islam ist immer und überall lebbar.

 

[1] http://saekulare-muslime.org/freiburger-deklaration/

[2] https://lib-ev.jimdo.com/wir-%C3%BCber-uns/

[3] http://www.badische-zeitung.de/deutschland-1/heftige-angriffe-gegen-liberale-muslime–138705010.html

[4] http://www.liberale-muslime-deutschland.de/

[5] Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB); Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IRD); Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und Verband islamischer Kulturzentren (VIKZ)

[6] http://www.deutsche-islam-konferenz.de/DIK/DE/Magazin/Gemeindeleben/BekanntheitOrg/bekanntheit-org-mld-node.html

[7] Tätigkeitsbericht bei der 9. Hauptversammlung der IGMG, S. 39, https://www.igmg.org/wp-content/uploads/2016/05/IGMG_Genel-Kurul_Inhalt_160509_mudu.pdf

[8] „Muslimisch – weiblich – deutsch! – Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam“, Lamya Kaddor, München 2010, S. 85.

[9] „Der Islam und die Muslime in Deutschland“, in: „Islam und Staat“, Gerda Hasselfeldt, Ursula Männle (Hrsg.), Berlin 2017, S. 16.

[10] http://saekulare-muslime.org/freiburger-deklaration/index.html

[11] So NRW-Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) in einem Bericht auf RP ONLINE. In der gleichen Nachricht hießt es ironischerweise: „Wichtig sei, dass sich keine religiöse Gemeinschaft vor einen politischen Karren spannen lasse, ganz gleich aus welcher Himmelsrichtung.“ http://www.rp-online.de/nrw/landespolitik/nrw-unterstuetzt-liberale-moscheen-nach-dem-vorbild-der-ibn-rushd-goethe-moschee-in-berlin-aid-1.7000328

[12] http://www.vdem.eu/, 9.8.2017

[13] https://www.islamiq.de/2015/10/08/zweiter-anlauf-eines-fragwuerdigen-projekts/

[14] http://www.ramadan-friedensmarsch.de/

[15] http://www.ramadan-friedensmarsch.de/seiten/unterzeichnerinnen.html

[16] https://www.landtag.nrw.de/Dokumentenservice/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD17-280.pdf

[17] https://lib-ev.jimdo.com/medien-presse/pressemitteilungen-archiv/

[18] „Liberaler Islam“ – Positionspapier des Liberal-Islamischen Bundes e.V., https://lib-ev.jimdo.com/inhalte-und-ziele/positionspapiere/, S. 1.

[19] „Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe“, Reinhart Koselleck, in: „Positionen der Negativität“, Harald Weinrich (Hg.), München 1979, S. 65.

[20] „Liberaler Islam“, ebd.

[21] „Muslimisch – weiblich – deutsch!“ S. 87.

[22] „Der Islam und die Muslime in Deutschland“, S. 11 ff.

[23] „Islam ohne Seele oder alles nur PR?“, Muhammad Sameer Murtaza, http://islam.de/20577

[24] „Liberaler Islam“, S. 2.

[25] „Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion“, Mouhanad Khorchide, Freiburg im Breisgau 2012, S. 27.; „Scharia – der missverstandene Gott. Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik“, Mouhanad Khorchide, Freiburg im Breisgau 2013, S. 22.

[26] „Mu’tezile“, TDV İslam Ansiklopedisi, Bd. 31, S. 391 ff., http://www.islamansiklopedisi.info/dia/pdf/c31/c310262.pdf

[27] „Mâtürîdiyye“, TDV İslam Ansiklopedisi, Bd. 28, S. 165 ff., http://www.islamansiklopedisi.info/dia/pdf/c28/c280089.pdf

[28] „Homosexualität im Islam“ – Positionspapier des Liberal-Islamischen Bundes e.V., https://lib-ev.jimdo.com/inhalte-und-ziele/positionspapiere/

[29] „2016_09_02: „Opferfest und Spenden““, von Katharina F., https://lib-ev.jimdo.com/freitagsgedanken/

[30] „2016_04_08: „Darf man auf deutsch beten?““ v. Katharina F., https://lib-ev.jimdo.com/freitagsgedanken/

[31] „Muslimisch – weiblich – deutsch!“ S. 56.

[32] http://www.forum-islam.ch/de/reformbewegungen/index.php

Leserkommentare

Johannes Disch sagt:
@Muslim (Ihr Post vom 14.11.17, 7:52) So einfach ist die Sache nicht. Es kommt darauf an, für welchen Islam Sie werben. Wenn Sie damit werben, der Islam wäre die einzig wahre Religion und allen anderen ´Religionen überlegen, so widerspricht das dem Geist unserer Verfassung.
14.11.17
19:12
grege sagt:
Anhänger des liberalen Islams erregen also die Missgunst Allahs, wie unser Freund Dilaver hier nassforsch behauptet. Wer Allah diese Eigenschaft unterstellt, begibt sich in die Nähe der Gottelästerung !?
15.11.17
18:23
Johannes Disch sagt:
@Liberaler Islam Die intellektuellen Pirouetten, die Ali Mete in seinem Artikel dreht, sind völlig überflüssig. Das Etikett ist im allgemeinen egal. Aber klare Begriffe helfen, sich darüber klar zu werden, worüber man redet. Und was unter "liberal" zu verstehen ist, darüber herrscht im großen und ganzen Einigkeit. Das Etikett "liberal" würde der Islam dann verdienen, wenn er sich von gewissen Grundsätzen trennt, die in Europa und Deutschland nicht kompatibel sind mit unserem Verständnis von Freiheit und Gleichheit. Welche Doktrin das sind, das habe ich bereits wiederholt aufgezählt. "Religionsfreiheit" bedeutet bei uns im Westen nicht nur, dass man einer Religion anhängen und sie praktizieren darf. Es bedeutet auch, dass man einen Glauben ablegen und wechseln darf. Zum Beispiel die Doktrin des "Takfir", --jemanden zum "Kufar" ("Ungläubigen") zu erklären-- muss der Islam ohne wenn und aber ad acta legen. Das wäre ein erster Schritt, um das Etikett "Liberaler Islam" zu recht zu bekommen.
15.11.17
18:55
Manuel sagt:
@Muslim: Für einen Extremisten und Fanatiker wie Sie einer sind, dann sicher!
15.11.17
19:38
Manuel sagt:
@Muslim: Man braucht sich nur die islamischen Länder ansehen, dann sieht man wie "überlegen" die sind! Auspeitschen, Steinigen und den Kopf mit Mittelalter vollkleben führt halt nicht zu Entwicklung und Innovation, Sie sind das beste Beispiel dafür!
15.11.17
19:48
Ute Fabel sagt:
Liberaler Islam ist zwar wie liberales Christentum sympathisch, aber intellektuell unredlich. Die Liberalen versuchen nichts anderes, als ihre aufgeklärten Werte, die sie in Wahrheit in der säkularen Welt erworben haben, irgendwie krampfhaft in die Texte hineinzuprojezieren. Der Wortlaut der Heiligen Schriften ist meiner Überzeugung nach - leider - klar auf Seiten der Engstirnigen.
16.11.17
8:37
Haiko Hoffmann sagt:
Dr. Lale Akgün und ihr Islamverständnis Vorbemerkungen Am 27. September 2013 gab es im Schweriner Schleswig-Holstein-Haus eine Buchlesung der ehemaligen Bundestagsabgeordneten, früheren Islambeauftragten der SPD, Kölner Lokalpolitikerin und Autorin Dr. Lale Akgün. Sie las aus ihren Büchern „Tante Semra im Leberkäseland“ und „Aufstand der Kopftuchmädchen“. Veranstalter war die Arbeiterwohlfahrt, namentlich der AWO Kreisverband Schwerin-Parchim e.V., in Kooperation mit der Gleichstellungsbeauftragten der Landeshauptstadt Schwerin. Begleitet wurde die Autorin von einer örtlichen ZDF-Mitarbeiterin. Zunächst las die Autorin aus dem autobiografisch gehaltenen Buch „Tante Semra im Leberkäseland“, indem einige Episoden der Ankunft der Familie in den Sechzigern als Gastarbeiter in der Bundesrepublik humorvoll thematisiert wurden. Die Autorin bewies eindrucksvoll ihren Humor und literarische Begabung, mit der sie ihre Erinnerungen an diese Zeiten darbot. Hier sei angemerkt, dass in diesem Bericht bzw. Kommentar nicht beabsichtigt ist, ihre Vorlesungen auszuwerten, sondern allenfalls Anmerkungen dazu zu machen, wenn es erforderlich ist für ein besseres Verständnis. Parallel zum genannten Buch las sie aus dem bzw. kommentierte sie zu ihrem 2011 bei Piper erschienenen Buch „Aufstand der Kopftuchmädchen. Deutsche Musliminnen wehren sich gegen den Islamismus“, in dem Sie ihre Sicht der Dinge hinsichtlich der islamischen Regeln versus deutsche Gesellschaft darlegte. Während ihres Vortrags legte sie wiederholt großen Wert darauf, dass sie einer allgemein und auch islamisch-theologisch sehr gebildeten Familie entstamme und nannte sich selbst eine liberale Muslimin. Rückversichernd betonte sie, dass sie dieses Buch in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Beyza Bilgin, ehemalige Dekanin für Religionspädagogik an der Islamisch-Theologischen Fakultät der Universität Ankara, welche nach Dr. Akgün den sog. liberalen Islam vertrete, erarbeitet habe. Die sog. Schule von Ankara ist laut Wikipedia Mitte der 1990er Jahre an der Universität Ankara entstanden und verbreitet seit 1996 ihre Ideen durch die islamwissenschaftlich-theologische Zeitschrift „islamiyat“ dem türkischen Publikum. Der Qur’ân wird hier nicht als zeitlose Offenbarung betrachtet, sondern sei aktuelle Rede Gottes an eine bestimmte Gruppe Menschen zu einer bestimmten Zeit. Demzufolge ließe sich die übergeschichtliche Botschaft des Qur’âns erst durch Aufarbeitung seines Textes in diesem historischen Kontext entnehmen. So sei die Annahme der normativen Vorschriften inakzeptabel. Aus diesem Grunde wird meist die Definition der übergeschichtlichen Ereignisse recht schwierig. Das hat laut "Die Zeit" zur Folge, dass die Autorin trotz ihrer völlig richtigen Aussage, dass der Islam mit dem Verstand korrespondieren müsse, zu solchen Schlussfolgerungen kommen kann, z.B. dass ein gläubiger Muslim Alkohol trinken dürfe, wenn auch in Maßen. Gegenteilige und eindeutige Texte des Qur’ân werden hier schlicht negiert bzw. als nicht mehr gültig erachtet, was zwangsläufig zu Widerspruch führen muss. Er muss auch nicht fünf Mal am Tag beten, um seinem Gott nahe zu sein. Und eine Muslimin muss kein Kopftuch tragen - "korrekte islamische Kleidung" gäbe es sowieso nicht. Außerdem seien laut Qur’ân Frauen und Männer in allen Lebensbereichen gleichberechtigt. (http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-01/islam-buch-akguen). Das vermeintlich nicht bestehende Alkoholverbot und die angebliche Nichtpflicht zum Gebet hatte sie auf der Schweriner Lesung allerdings nicht angesprochen, sei aber der Vollständigkeit und zum Verständnis insgesamt hier mit erwähnt. Des Weiteren kritisiert sie leidenschaftlich die Verschleierung der Frau. Sie verkündete, dass ein bekannter Theologe die Qur’ân-Stelle, wo vom Bedecken der weiblichen Scham die Rede sei (Qur'ân 24:31), etwas lakonisch gesagt habe, dass man seitens der Männer inzwischen die ganze Frau als Schamzone betrachte. Dass dies so gar nicht im Qur’ân steht, sondern, dass es um Scham im Sinne von Keuschheit schlechthin bzw. nicht um Körperpartien (z.B. Schamgegend als Sexualorgan) geht, wurde hier ausgeklammert. Sie sagte, dass sie v.a. die Vollverschleierung ablehnt. Auch verwies sie darauf, dass es in Deutschland gewisse Umgangsformen als ungeschriebene Gesetze gibt, so dass etwa das Nicht-die-Hand-Geben bei einer Frau inakzeptabel sei. Und sie meinte, dass es bei einer Anerkennung der Bedeckungspflicht der Frau dies für Männer doch genauso gelten müsse. Diese Aussage wurde vom vornehmlich weiblichen und nichtmuslimischen Publikum mit tosendem Beifall honoriert. Die Verhüllung der Frau sei ohnehin nur eine Erfindung der Männer. Man kann sicher noch viel mehr anführen, was die Autorin gesagt hatte und was mit großem Beifall aufgenommen wurde. An dieser Stelle sei es genug der Beispiele. Kommentar Worum es hier nun aber im Folgenden gehen soll, ist vielmehr einiges zur Methodik, zur Art der Vermittlung von Inhalten auf dieser Lesung. Zunächst muss berücksichtigt werden, dass das Publikum zumeist weiblich und v.a. in Sachen Islam bzw. Qur’ân kaum oder nicht kundig ist. Es ist vorstellbar, dass dies bei ihren Lesungen die Regel ist. Hinzu kommt die im Vortrag immer wieder fast schon gebetsmühlenartig postulierte Abstammung von einer hochgebildeten und islamisch-theologisch geschulten Familie, was dem Publikum sagen soll, dass alles stimme, was da zum Islam gesagt wird, nach dem Motto „Die müssen es ja wissen“. Nur einmal wurde beiläufig erwähnt im Zusammenhang mit ihrer Mentorin Prof. Dr. Bilkin, dass dies die sog. liberal-islamische Lehrmeinung jener Schule von Ankara darstellt, d.h. lediglich einer einzelnen Schule mit ihrer eigenen Interpretationsweise, die von den meisten Muslimen nicht geteilt wird, also vielleicht aus eigener Sicht revolutionär aber dennoch nicht repräsentativ bedeutsam sein kann. Allein schon die Begrifflichkeit ihrer Selbstsicht ist problematisch. Was ist eigentlich eine liberale Muslimin? Indem die „liberalen Muslime“ etwa in Deutschland für sich beanspruchen, diverse Lehren anders interpretieren zu müssen und Verfassungskonformität des Islam herzustellen, sagen sie ja indirekt damit, dass die anderen Muslime dies nicht wollen. Ein nicht-liberaler Muslim, meist als orthodox bezeichnet, ist ein Befürworter der Parallelgesellschaft und der prinzipiellen Opposition zum Grundgesetz. Man suggeriert mit dem Begriff „liberal“, worin ja auch so etwas wie „freiheitlich“ steckt, dass die anderen Muslime das Gegenteil davon sind. Diese fast schon als manichäisches Weltbild von Gut und Böse, Schwarz und Weiß oder Dunkel und Licht anmutende Sichtweise vermittelt einen elitären Standpunkt des besseren Muslims. Man gibt sich außerordentlich tolerant gegenüber der deutschen Gesellschaft, was ja dem Publikum gewiss gut gefällt. Andererseits ist die Toleranz, so auch von der Autorin auf ihrer Lesung mehrfach wortwörtlich geäußert, gegenüber Muslimen schnell zu Ende, wenn es z.B. um Verschleierung, Händeschütteln oder Verhaltensweisen geht, die nicht (ihrer) Norm entsprechen. Der Muslima bzw. den Muslimen wird ihr Recht, etwas nicht zu mögen oder zu wollen im Grunde abgesprochen, indem sie bei solcher Haltung als nicht gesellschaftskonform eingestuft werden, fast schon als Verfassungsgegner. Das zeugt nicht von liberaler und toleranter Haltung. Das ist eine subtile und zuweilen aber auch schon eine recht offene Zurechtweisung Anderer, die man nicht anders sein lassen will. Das hat nichts mit Toleranz zu tun. Dass sie der Muslima im Grunde pauschal Integrationsbereitschaft, Verfassungskonformität oder allgemeiner Normen entsprechende Lebensweise abspricht, nur weil sie einen Schleier trägt oder ungern einem fremden Manne die Hand gibt, zeugt kaum von liberaler und toleranter Haltung, da dies ihrerseits durchaus eine Art Diskriminierung darstellt, welche alles andere als tolerant ist. Sie meint, dass man sich anpassen müsse, um den hier herrschenden Normen und Regeln zu entsprechen. Dabei übersieht sie, dass sie ihrerseits bereits pauschal eine große Gruppe von Menschen in ein Schubfach steckt und diese darin misst. Vorgebrachte Hinweise und Erwiderungen beantwortete sie in der Regel stets auf die gleiche Weise: Der andere hat ja einerseits durchaus recht und möge das Gesagte keinesfalls als Anordnung fürs Leben betrachten, aber er müsse sich anpassen usw. Da die Autorin hier und anderswo immer wieder z.T. starken Beifall findet bei gefälligen und gängigen Postulaten, geraten die anwesenden nicht-liberalen Muslime in eine gewisse Ecke, aus der es schwer ist, dem längst von der Autorin vereinnahmten Publikum mit Vernunft und Logik und möglichst wissend andere Denkweisen wertneutral vermitteln zu können. Das Publikum feiert die Autorin fast schon frenetisch, obwohl ihre Aussagen, bereichert vom Thema Islam, eher altbekannte und ohne den Bezug zum Islam möglicherweise langweilige Feminismus—Thesen vertritt. Man kann nach alledem auch schlussfolgern, dass solche Veranstaltungen etwas Manipulatives haben. Die Autorin trägt vornehmlich vor einem weiblichen und nichtmuslimischen Publikum als Frau bzw. als liberale Muslima sich bezeichnend „ketzerische“ Thesen vor, die großen Beifall finden, da die z.T. alten und neu verpackten Thesen gefallen, indem die Autorin sich bewusst sein dürfte, dass das Publikum in Sachen Islam und Qur’ân eher ahnungslos ist. Das Publikum baut auf dem vermeintlichen umfassenden und perfekten Wissen der Autorin darauf, dass alles, was sie sagt, wohl so und nicht anders sein müsse. Dafür sorgt sie durch ihre wiederholten Aussagen zu ihrem familiären und edukativen Hintergrund. Hinzu kommt, dass sie immer wieder sagt, dass sie von vielen Muslimen angefeindet würde, ja sogar bedroht worden sei, was ja nicht ausgeschlossen werden kann, so dass sie quasi schon zu Lebzeiten auch schon einen gewissen Märtyrernimbus hat. Sie untermauert die durchaus realen Bedrohungen dieser Gesellschaft mit ihrer eigenen Situation und vermittelt den Eindruck einer besonders gefährdeten bekannten Persönlichkeit. Ihr Hinweis auf ihre Facebook-Seite mit Tausenden oder gar zigtausenden Zuschriften pro und contra sollte dieses wohl untermauern. Schaut man sich die Facebookseite indes an, kann man diese Tausenden und zigtausenden nicht feststellen. Es sind überschaubar viele Kommentare vorhanden, nicht aber diese Fülle. Wurde hier nicht ein wenig übertrieben? Dass sie nicht nur aus einem Buche vortrug, liegt vielleicht daran, dass sie einen Aufhänger braucht, um das Publikum emotional für sich rasch einzunehmen. Denn Lachen befreit und bringt Menschen einander näher. Und hier liegt der Hase im Pfeffer. Das Buch „Tante Semra im Leberkäseland“ diente möglicherweise eher dazu das Publikum auf das andere „ernste“ Buch vorzubereiten. Wäre die Autorin nur mit dem Buch „Aufstand der Kopftuchmädchen“ aufgetreten, hätte sie ungleich mehr erklären und tun müssen, um das Publikum für sich zu gewinnen. So hat sie die relative Unwissenheit mit dem Charme ihrer Erzählkunst gewürzt und relativiert, so dass die daraus resultierende Speise für das Publikum aromatisch und wohlschmeckend war, während die anwesenden Muslime, sobald sie merkten, wohin der sprichwörtliche Hase läuft, sich zusehends unwohl fühlten und nach den anfangs auch sie begeisternden literarischen Exkursen nun eine merkwürdige Erlahmung ihrer Arme verspürten, wenn Beifall aufkam. Denn immer, wenn die Autorin eine These verkündete, die Gefallen fand und mit Beifall bedacht worden ist, obwohl die Muslime sich bewusst waren, dass diese entweder interpretierbar, oberflächlich oder sogar irrig ist, hatten diese kaum eine Chance sich zu artikulieren. Und hier lag ein weiteres Problem dieser Lesung, was vielleicht hätte organisatorisch anders geregelt werden können. Denn die Zeit war begrenzt. Während die Autorin ausgiebig vortragen konnte und zwischendurch von der Moderatorin interviewt wurde, gab man erst reichlich spät die Runde frei für eine Diskussion von relativ kurzer Dauer. Insbesondere die muslimischen Schwestern hatten versucht, sachlich dafür zu plädieren, dass man doch bitte jeden Versuch, das Tragen islamischer Kleidung als nicht akzeptabel zu sehen und in Frage zu stellen, unterlassen möge, da dies gegen die Freiheit der eigenen Entscheidung verstößt. Der Vorsitzende des Islamischen Bundes verwies ebenfalls auf die Gefahr eines liberalen Zwanges als einer beinahe-Diktatur hin, wenn Menschen daran gehindert werden sollen, sich ihren Vorstellungen entsprechend zu kleiden. Der Hinweis auf die nicht normgerechte Kleidung von Punkern oder anderen sog. Randgruppen wurde nur damit beantwortet, dass ja jeder frei sei – aber beantwortet wurde diese Frage eigentlich nicht wirklich. Bei Muslimen war es stets etwas anderes. Das kann als Argument indes nicht genügen. Und wegen der Kürze der Zeit und des strengen terminlichen Regimes der Räumung des Saales kam der Vorsitzende des Islamischen Zentrums dann auch nicht mehr dazu, darauf hinzuweisen, dass Toleranz nicht mit zweierlei Maß geübt werden sollte oder dass diversen von der Autorin gemachte Aussagen zum Qur’ân, etwa dass die Bekleidungsvorschriften für die Frau reine Erfindung der Männer seien und im Qur’ân derlei gar nicht stehen würden usw., widersprochen werden müsse, da dieses sehr wohl im Qur’ân zu finden ist* wie auch in der Sunna des Propheten (as). --------------------------------------------- * 24. Sura an-Nur Vers 31: „ Und sage den gläubigen Frauen, daß sie ihre Blicke senken und ihre Keuschheit [andere übersetzen "Scham"] wahren und ihre Reize nicht zur Schau stellen sollen, außer was (anständigerweise) sichtbar ist; und daß sie ihre Tücher über ihren Busen schlagen und ihre Reize nur ihren Ehegatten zeigen sollen oder ihren Vätern oder den Vätern ihrer Ehegatten oder ihren Söhnen oder den Söhnen ihrer Ehegatten oder ihren Brüdern oder den Söhnen ihrer Brüder oder den Söhnen ihrer Schwestern oder ihren Frauen oder denen, die sie von Rechts wegen besitzen, oder ihren Dienern, die keinen Geschlechtstrieb mehr haben, oder Kindern, welche die Blöße der Frauen nicht beachten. Und sie sollen ihre Beine nicht so schwingen, daß Aufmerksamkeit auf ihre verborgene Zierde fallt. Und bekehrt euch zu Allah allzumal, o ihr Gläubigen, damit es euch wohl ergehe.“; 33. Sura al-Ahzab Vers 59: „O Prophet! Sage deinen Frauen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, daß sie etwas von ihrem Übergewand über sich ziehen sollen. So werden sie eher erkannt und (daher) nicht belästigt. Und Allah ist verzeihend, barmherzig.“ Der Hijab ist somit eine eindeutige Bestimmung des heiligen Qur‘ân. Es herrscht kein Zweifel aller Muslime bezüglich des Hijabs. Dennoch sollen alle islamischen Bestimmungen aus einem freien Willen heraus durchgeführt werden. Wenn eine Person, nachdem sie Gewissheit über diese Bestimmung erhält, sie nicht befolgt, begeht sie eine Sünde, tritt aber selbstverständlich nicht aus dem Glauben aus. Jede Schwester kann sich, basierend auf den beiden genannten Versen, die Bestimmung des Hijabs bewusst werden lassen und aus freiem Willen heraus entscheiden. ---------------------------------------------- Nicht thematisiert werden konnte ebenfalls, dass ihre Behauptung, dass das in der 4. Sure Vers 34 genannte Schlagen der Frau derart eindeutig sei, dass man es nur als Gewalt gegenüber Frauen verstehen könne und das entsprechende Wort im arabischen Text nur diese eine Bedeutung habe. Den Vers nannte sie „Schlagen-Vers“ und er sei Teil der Sure „die Weiber“(sic!), wobei sie betonte, dass dies eine typische Übersetzung sei, welche von Männern kommt. Sie baut auch hier offenbar auf dem Unwissen des Publikums, denn diese Übersetzungsweise von arabischem „an-nisâ‘“ stammt noch von Ludwig Ullmann oder Max Henning aus dem 19. Jahrhundert und wird längst mit „die Frauen“ in allen deutschen Übersetzungen bedacht. „Die Weiber“ ist so, wie es von der Autorin auch mimisch ausgedrückt worden ist, d.h. mit einer geradezu emphatischen Vortragsweise dieses Titels, um den frauenverachtenden Machismo aufzuzeigen, gar nicht von den Muslimen formuliert worden, sondern von deutschen Übersetzern, welche den damaligen normalen Wortgebrauch anwandten: Mann/Weib oder Herr/Frau, ersteres fürs gemeine Volk, letzteres für Adlige und Hochgestellte. Und die Behauptung, dass das betreffende Wort im Vers, nur schlagen hieße, kann leicht widerlegt werden. So kennt z.B. das große und sicherlich auch ihr bekannte 8-bändige Arabic-English Lexicon von William Lane in Band 5 auf immerhin 16 Seiten (S. 1777-1783) gut 25(!) verschiedene Bedeutungen. Eine für den Vers sehr plausible Bedeutungsgruppe wäre z.B. „sich abwenden“, „fortgehen“, „ignorieren“ oder „sich distanzieren“. Dieses Lexikon findet man auch leicht im Internet online und als Download. In den klassischen arabischen Wörterbüchern sollen gar ca. 100 Bedeutungen vorkommen! Die Mehrheit der Übersetzer wie Kommentatoren, einschließlich der meisten muslimischen Gelehrten der Vergangenheit und Gegenwart, gehen traditionell indes vom Schlagen aus, vom Strafen, Züchtigen oder aber „zurechtweisen“ (Muhammad Ali, Lahori-Ahmadiyya-Ausgabe), was eine weitere Variante wäre. Dieser Vers gehört zu den interpretierbaren Versen und ist keineswegs von starrer Bedeutung wie behauptet. Angesprochen werden konnte auch nicht mehr die Kritik an der Methodik der Beeinflussung des Publikums mit dem Wissen um dessen relatives Unwissen unter Suggestion einer vermeintlichen Allwissenheit, die eine Illusion ist. Fazit Mit solchen Argumenten muss man sich auseinandersetzen. Natürlich ist jede Gewalt, verbal wie tätlich, ein absolutes Tabu. Da hat niemand ein Recht. Denn auch Frau Dr. Akgün hat das gute Recht, ihre Meinung zu äußern, sei es im Wort oder als Autorin in einem Buch. Man kann Toleranz nur einfordern, wenn man selbige übt und den anderen auch aushält. Ansonsten wäre es besser, dass man einer solchen Lesung fernbleibt. Gleichwohl ist es aber geboten, Argumenten argumentativ und respektvoll entgegenzutreten, wenn man diesen etwas entgegen zu setzen hat. Man hat das Recht, den Finger auf die Wunde zu legen. Nur so ist es möglich, ein friedliches Miteinander hin zum gesellschaftlichen Frieden zu erreichen, in dem auch kontroverse Ansichten ihren Platz haben dürfen, ohne dass der eine dem andern gleich alles Übel der Welt an den Hals wünscht. Man wird sich möglicherweise hier und da nicht einigen können. Sei’s drum! Das gehört nun einmal dazu. Ob nun nüchtern oder mit Leidenschaft. Am Schluss dieser Gedanken darf ich Frau Dr. Akgün Dank sagen für ihren Beitrag, indem sie mich dazu bewog, mir Gedanken über ihre Arbeit zu machen, welches auch ein Stück Selbstreflektion ist und hilft, ein Stückweg eigene Position neu zu justieren.
16.11.17
15:58
Charley sagt:
@Johannes Disch: ""Religionsfreiheit" bedeutet bei uns im Westen nicht nur, dass man einer Religion anhängen und sie praktizieren darf. Es bedeutet auch, dass man einen Glauben ablegen und wechseln darf." Danke für diese, von Moslems gern unterschlagene, doppelte Darlegung von Religionsfreiheit! Das wird ganz offen nicht von denjenigen gepflegt, die genau diese Religionsfreiheit im egozentrischen Sinne für sich und ihre Religionsfolklore fordern. Die Berichte von jungen Musliminnen sind immer wieder (in Zeitungen) zu finden: Gerade weil sich die muslimischen Gemeinden auch über ein "folklore-islamisches" Gemeinschaftsgefühl definieren, wo ein bestimmte Verhalten von Frauen selbstverständlich unhinterfragt festgelegt ist ("ach, deine Frau will kein Kopftuch tragen?", "Gehorcht dir deine Frau nicht?"), ist es für junge Frauen, die sich in diese zwanghaften Vorstellungen nicht mehr einfügen wollen, oft eine Entscheidung, nicht nur diese Vorstellung/Form von Frau-Sein abzulehnen/abzulegen, sondern es ist zugleich die Entscheidung mit der Familie, mit der Verwandtschaft, mit der Sippe, dem Clan, mit der "Gemeinde" zu brechen. Denn diese Gruppe "verzeiht" nicht die individuelle Entscheidung, gerade weil sie sich über diese Gruppenverhaltensweisen identifiziert (das ist durchaus auch Stammtisch-stylisch). In extremen Fällen kann das bis zum (leider so genannten) "Ehren-"MORD gehen! Nun, individuelle Entscheidungen sind ja unbeliebt, weil eine 100%ige Allahmarionette sowieso alle (Selbst-)Verantwortung dem vorgestellten Allah zuschreibt, dessen "Befehlen" sie ja mit Kadavergehorsam folgt. Ja, "Religionsfreiheit", die ein "Muslim" ja den islamischen Ländern zuspricht.... wenn Raif Badawi das beansprucht hätte (also die Freiheit seine Religion selbst zu entscheiden und darum ggf. sogar abzulegen), wäre er gleich hingerichtet worden. Diesem Vorwurf konnte er sich nur entziehen durch das Rezitieren des Glaubensbekenntnisses. .... Man kann gar nicht so viel essen, wie man möchte! Wenn man nun aus meinen Zeilen Zorn heraus gelesen hat... so hat man sie verstanden!
16.11.17
23:31
Johannes Disch sagt:
@Haiko Hoffmann (16.11.17, 15:58) -- Zu ihrer Interpretation der Sure 4,34): - "Der Hijab ist somit eine eindeutige Bestimmung des heiligen Koran." (Haiko Hoffmann) Eben nicht! Eindeutig geht aus dem Text hervor, dass die Bedeckung des Busens gemeint ist. Von der Bedeckung des Kopfes und der Haare steht da nix.´ Im Frühislam trennte das Kopftuch Freie und Unfreie. Sklavinnen trugen kein Kopftuch. Das Kopftuch hatte also ursprünglich eine soziale Funktion, und keine religiöse. Dazu wurde es erst später von der erzreaktionären (männlichen) islamischen Orthodoxie gemacht. -- "Es herrscht kein Zweifel aller Muslime bezüglich des Hijabs." (Haiko Hoffmann) Auch das ist falsch. --Al-Aschwami-- einer der einflussreichsten zeitgenössischen Sozialwissenschaftler der islamischen Welt -- ist völlig anderer Meinung (Siehe sein Buch: "Die Wahrheit über das Kopftuch"). Zudem der renommierte international anerkannte Sozialwissenschaftler und gläubige Muslim-- und Kopftuchkritiker-- Bassam Tibi, der nachweist, dass das Kopftuch keine koranische Pflicht ist. -- Nilüfer Göle. Türkische Soziologin und gläubige Muslimin, die in ihrem Buch "Republik und Schleier" ebenfalls überzeugend nachweist, dass das Kopftuch keine Pflicht ist. Das waren nur 3 Beispiele von vielen. So eindeutig, wie Sie uns die Einigkeit "Der Muslime" (warum nur die männliche Form?) in dieser Frage darstellen, ist das ganze mitnichten.
16.11.17
23:43
Dilaver sagt:
@grege Da Sie dazu neigen, einem das Wort im Mund zu verdrehen (was Journalisten von Natur aus immer wieder gerne machen), werde ich Sie in Zukunft nicht mehr ernst nehmen.
17.11.17
0:11
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