Liberale und konservative Muslime stehen sich kritisch gegenüber. Kann man eine Diskussionsbasis finden und weshalb und wie entstand der Liberalismus im Islam? Auf diese Fragen geht der Islamwissenschaftler und Philosoph Muhammad Sameer Murtaza im IslamiQ-Interview ein.
IslamiQ: Kann der „liberale Islam„ nicht auch als eine religiöse Interpretation gesehen werden? Oder ist er eher eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in der muslimischen Welt?
Murtaza: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann man von keiner religiösen Auslegung sprechen, da sogenannte „liberale“ Muslime bisher kein einziges religiöses Werk verfasst haben, aus dem sich eine Methodologie und Theologie ableiten ließe.
Zudem ist das „liberale“ Lager heute nicht mehr monolithisch. Neben dem “Liberal-Islamischen Bund“ (LIB) kam 2015 das von der Konrad-Adenauer-Stiftung geförderte „Muslimische Forum Deutschland“, 2016 die „säkularen Muslime“ Freiburg und 2017 die „Ibn Rushd-Goethe Moschee“ als Plattform für Frau Ateş hinzu. Diese verschiedenen Gruppen streben alle danach, den gesellschaftlich positiv besetzten Begriff „liberal“ für sich zu beanspruchen.
2016 hat sich der “LIB“ in sehr deutlichen Worten von den säkularen Muslimen abgegrenzt. In den sozialen Netzwerken empörten sich zudem LIB-Muslime, dass die „säkularen Muslime“ in den Medien als „liberale“ Muslime bezeichnet werden. Auf der einen Seite verstehe ich den LIB, der sein Anliegen vor einem Selbstdarsteller wie Ourghi schützen will. Zum anderen stellt sich aber die Frage, ob man wirklich einen Monopolanspruch auf das Wort liberal erheben kann, wenn dieser gar nicht bestimmt ist. Derzeit verabsolutieren “LIB“-Aktivisten für sich den Anspruch auf dieses kleine Wort. De facto bedeutet dies, dass innerhalb von fünf Jahren aus dem sogenannten „liberalen“ Lager ein zerstrittener Haufen geworden ist, was für eine ohnehin schon sehr kleine Bewegung eine Katastrophe ist.
Weiter müssen diese Bewegungen vor dem Hintergrund der muslimischen Frage in Europa betrachtet werden. Hierzu möchte ich die historische Parallele zur jüdischen Frage ziehen. In der Mitte des 18. Jahrhunderts widmeten sich die klügsten Köpfe Europas dieser Thematik. Es setzte sich nach und nach die Überzeugung durch, dass die Diskriminierung von Juden ein Unrecht sei, doch wie sollte ihnen praktisch geholfen werden? Ein Wirrwarr an Lösungsvorschlägen wurde debattiert. Manche meinten, es sei das Beste, die Juden zurück in das Land ihrer Vorfahren zu schicken. Andere sprachen sich dafür aus, den Juden mehr wirtschaftliche Rechte einzuräumen, sodass sie ihren Lebensstandard verbessern könnten. Am Ende des 18. Jahrhunderts lautete dann die Lösung der Aufklärer, problematischen Minderheiten den Zugang zur Gesellschaft zu gestatten. Im Gegenzug wurde jedoch von den Juden erwartet, dass sie sich nun änderten und sich in kooperationswillige aufgeklärte Mitglieder der westlichen Kultur verwandeln, indem sie sich von religiösen Traditionen, die Unterschiede zur aufgeklärten Mehrheitsgesellschaft hervorheben, verabschieden. Vor diese Herausforderung gestellt, beschritt die jüdische Gemeinde verschiedene Wege. Einige waren bereit, sich für einen gesellschaftlichen Aufstieg und Akzeptanz zu assimilieren, andere beharrten darauf, dass die Mehrheiten in den europäischen Gesellschaften auch Raum für die Minderheiten lassen müssten. In den folgenden 300 Jahren wurde in der Mehrheitsgesellschaft erbittert über die Anerkennung der jüdischen Minderheit gestritten.
Das klingt für muslimische Ohren in Deutschland nicht unvertraut. Der sogenannte „liberale Islam“, wie er vom „Muslimischen Forum Deutschland“ und den „säkularen Muslimen“ propagiert wird, gleicht einem Assimilations-, keinem Integrationsvorhaben. Dies zeigt sich an der Dauerkritik, die von beiden Gruppen an die muslimische Gemeinschaft herangetragen wird. Aber eine Solidarität mit der eigenen Gemeinschaft gerade in Zeiten von Muslimfeindlichkeit und Moscheeanschlägen fand bisher nie statt. Dadurch werden diese Gruppen aber zu einem Teil der nichtmuslimischen Machtstrukturen dieses Landes, die jede Kritik an der Mehrheitsgesellschaft als illoyal gegenüber dem Land zurückweisen. Von diesen beiden Gruppen unterscheidet sich der LIB deutlich, da Lamya Kaddor seit 2016 verstärkt Kritik an der Muslimfeindlichkeit äußert und sich mit der muslimischen Gemeinschaft solidarisch zeigt.
IslamiQ: „Konservativ“ wird in Bezug auf den Islam oft mit einem rückständigen, antimodernen und antidemokratischen Verständnis von Religion gleichgesetzt. Mit dem „liberalen“ Islam verbindet man eher eine fortschrittliche Religionsauslegung. Ist diese Unterscheidung berechtigt?
Murtaza: Betrachtet man sich die Äußerungen des Muslimischen Forum Deutschlands oder der säkularen Muslime, so sind dies bisher rein politische Positionierungen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: „Wir sagen Ja zu den Menschenrechten und zum Grundgesetz.“ Damit bekräftigen und bestärken sie indirekt die Vorurteile der Gesellschaft, dass der überwiegende Teil der muslimischen Community dies eben nicht tut. Ansonsten bräuchte es ja kein solches Bekenntnis.
Wissentlich ignorieren diese Muslime damit, dass die Mehrheit der Mitbürger muslimischen Glaubens sich ebenso zum Grundgesetz und zu den Menschenrechten bekennen, wie zahlreiche Umfragen immer wieder ergeben. Auch die islamischen Gemeinschaften haben immer wieder ihre Verfassungstreue bekundet oder sich für das Grundgesetz stark gemacht.
Zudem lassen „liberale“ Muslime sich allzu bereitwillig dafür instrumentalisieren, ihr gesellschaftlich akzeptiertes Islamverständnis gegen ihre Glaubensgeschwister zu richten. Aktuelles Beispiel ist Frau Ateş, die vor Gericht das Land Berlin vertritt, um die Klage einer kopftuchtragenden Lehrerin abzuwehren, die nur deshalb klagt, weil sie wegen ihres Kopftuches nicht an einer Grundschule unterrichten darf.
Und ich denke, deshalb wird der sogenannte „liberale Islam“ langfristig gesehen nur ein Zwischenspiel sein, weil er sich oftmals gegen die eigene Glaubensgemeinschaft richtet und Strukturen stärkt, die bestrebt sind, muslimischen Mitbürgern an der gesellschaftlichen Teilhabe zu hindern.
IslamiQ: Viele Muslime, die sich als „liberal“ bezeichnen, finden die sog. „konservativen Moscheeverbände“ gefährlich und radikal. Warum?
Murtaza: Das ist eine Polemik, die dazu dient, mediale Aufmerksamkeit zu generieren. Wären der Zentralrat der Muslime, die DITIB, der Islamrat oder VIKZ gefährlich, so wären sie nicht auf Bundes- und Landesebene Gesprächspartner der Politik. Sicherlich, es gibt berechtigte Kritik an dieser und jener Gemeinschaft, aber im Großen und Ganzen werden sie als konstruktive Akteure in der deutschen Demokratie angesehen. Was „liberale“ Muslime betreiben ist Stimmungsmache, um die Religionsgemeinschaften in die Nähe des Terrorismus zu rücken und somit die eigenen Organisationen als die besseren Ansprechpartner für die Politik zu profilieren. Es geht hier also im Grunde um Macht, Einfluss und auch um Geld aus öffentlichen Mitteln.
IslamiQ: „Liberale Muslime“ befürworten einen „reformierten Islam“, um der Gewalt im Namen des Islams ein Ende zu setzen. Was halten Sie von dieser „liberalen“ Idee einer „islamischen Reformation“?
Murtaza: Ich würde diesen sogenannten „liberalen“ Muslimen empfehlen, die Geschichte der Reformation besser zu studieren. Die Reformation hat a) eine Kirchenspaltung verursacht, b) waren reformatorische Bewegungen wie etwa der Calvinismus mit seinem Gottesstaat in Genf viel repressiver als die katholische Kirche, c) hat die Reformation nicht so sehr der Moderne, der Demokratie, den Menschenrechten und der religiösen Toleranz den Weg geebnet, sondern dem Obrigkeitsstaat und dem fürstlichen Absolutismus. Auch unter Martin Luther wurden Hexen verbrannt. Und schließlich d) führte die Reformation zum Dreißigjährigen Krieg. Reformation war also Streit-, Konflikt- und Gewaltzeit. Das ist nichts, was ich mir für die Umma wünschen würde.
Des Weiteren sind Begriffe wie „reformierter Islam“ und „islamische Reformation“ ebenfalls erst einmal nur Schlagwörter, die vielleicht in der Mehrheitsgesellschaft gut ankommen, aber als Islamwissenschaftler würde ich gerne erfahren, was damit inhaltlich eigentlich gemeint ist und ob die sogenannten „liberalen“ Muslime auch bereit sind, von Moschee zu Moschee zu tingeln, um mit den Muslimen hierüber zu diskutieren. Und wenn sie hierzu nicht bereit sind, so muss man sich fragen, ob sogenannte „liberale“ Muslime Wert auf eine innerislamische Konsensfindung legen oder ob sie einfach nur von oben herab ihren Islam diktieren wollen. Damit wären diese Bewegungen aber schon wieder illiberal.