Liberale und konservative Muslime stehen sich kritisch gegenüber. Kann man eine Diskussionsbasis finden und weshalb und wie entstand der Liberalismus im Islam? Auf diese Fragen geht der Islamwissenschaftler und Philosoph Muhammad Sameer Murtaza im IslamiQ-Interview ein.
IslamiQ: Von „liberal-islamischer„ Seite heißt es oft: Der Islam soll sich mit der Moderne und demokratischen Werten versöhnen. Inwieweit kann man den „liberal-islamischen„ Ansatz als einen Versuch sehen, Religion „zeitgemäß„ zu leben?
Murtaza: Auch hier würde ich sogenannte „liberale“ Muslime empfehlen, schärfer nachzudenken. Der Islam soll sich mit x und y versöhnen? Der Islam ist kein Wesen, das handelt. Der Islam ist eine Handlung, die von Menschen ausgeführt wird. Islam bedeutet aktive Ergebung in Gott/aktive Hingabe an Gott, um Frieden zu finden und Frieden zu machen. Ein Muslim ist einer, der sich Gott hingibt, um Frieden zu finden und Frieden zu machen.
Ich fürchte jedoch, dass die sogenannten „liberalen“ Muslime oftmals das gleiche Verständnis vom Islam haben, wie es muslimische Ideologen besitzen: sie verstehen den Islam als ein geschlossenes System. Und an diesem System arbeiten sich die „liberalen“ Muslime ab. Aber das ist nicht Islam, das ist nur eine imaginäre Vorstellung davon.
Auch störe ich mich an dem Begriff „zeitgemäß“ Es kann doch nicht um einen modernen oder einen zeitgenössischen Islam gehen. Religion passt sich keinen Moden und keinen Trends an. Mit dem Islam kann nicht entlang des Zeitgeistes experimentiert werden. Aber Gelehrte müssen die Lebensrealität der Muslime von heute zur Kenntnis nehmen und einen Mittelweg zwischen zwei extremen Positionen finden: dem säkular neutralen muslimischen Leben, das den Islam auf den Glauben reduziert und privatisiert, und die soziale Handlungsseite der Religion gänzlich ignoriert und der religiösen Ghettoisierung, die bemüht ist, sich nicht mit der Gegenwart auseinanderzusetzen, sondern die in einer künstlichen religiösen Vergangenheit verbleiben will. Die Gelehrten sollten eine positive Kraft in der Umma sein, die das Muslimsein mit der heutigen Lebensrealität versöhnen.
IslamiQ: Wie kann das bewerkstelligt werden?
Murtaza: Unabdingbar wird es hierbei sein, über die Bedeutung des „Weges zur Wasserquelle“, zu Arabisch „Scharia“ zu reflektieren. In der Vergangenheit war sie ein zentrales Element des Islam, das das Verhältnis des Muslims zu Gott (ibâdât) und das Verhältnis untereinander und zu anderen (Muâmalât) regelte. Letzteres besteht zu einem Großteil aus einer Verhaltensethik (Ilm al-Ahlâk) und zu einem geringen Teil auch aus strafrechtlichen Anordnungen (al-Ukûbât). Heute jedoch ist das Schlagwort šarīʿa zu einer kontroversen Kraft von zerstörerischer Macht geworden. Manche Muslime haben eine ideologische Haltung zu ihr eingenommen und sie zu einem Stein gemacht, um andere Muslime, aber auch Nichtmuslime zu erschlagen. Notwendig wird es sein, sich von diesem legalistischen Blick auf den Muâmalât-Bereich zu lösen und sich wieder an die zwei Pole zu erinnern, um die sich die „Scharia“ dreht:
Das sind das Gebot der Gottesliebe und das Gebot der Nächstenliebe. Die Scharia ist kein System von starren Regeln, sondern Ausdruck einer dynamischen „Liebesbeziehung“ zwischen der Umma und Gott. Der Islam soll uns Muslimen ein zuhause, kein Gefängnis sein.
Ein weiterer Aspekt, den muslimische Gelehrte in Blick nehmen müssen, ist die Tatsache, dass die meisten Muslime heute in pluralen und säkularen Gesellschaften leben, in denen der rechtliche Aspekt der Muâmalât nahezu folgenlos geworden ist. Wenn man aber ein Gesetz nicht durchsetzen kann, besitzt es auch keine Wirkung. Dieser Bereich des muslimischen Rechtsdenkens wurde an den säkularen Staat abgetreten. Daher sollte darüber nachgedacht werden, was für eine einigende Kraft der “Weg zur Wasserquelle“ heute für die Umma darstellen kann. Das Problem des ausschließlich legalistischen Denkens ist, dass es glaubt, eine islamische Situation herbei erzwingen zu können und dabei jeglichen Kontext und Bedeutungszusammenhang ignoriert. Daher glaube ich, dass die islamische Ethik in der Zukunft eine weitaus größere Rolle in der Umma einnehmen wird als die Rechtswissenschaft.
IslamiQ: „Liberale„ Muslime werfen den „Konservativen„ Frauenfeindlichkeit und Demokratieunfähigkeit vor, was bei diesen nicht selten zu einer Trotzreaktion führt. Sind diese Probleme überhaupt in dem Maße existent, wie behauptet wird? Wie kann man eine Diskussionsbasis finden?
Murtaza: Vielleicht a) indem man andere Muslime nicht wie politische Gegner behandelt und ihnen die Schuld für alle Missstände in der Umma zuschreibt und b) indem man in muslimischen Medien das Gespräch und die Diskussion mit der eigenen Community sucht.
Viel wichtiger als eine „islamische Reformation“ oder eine „islamische Aufklärung“ ist die Fähigkeit einer Religionsgemeinschaft das Gespräch zwischen unterschiedlichen Strömungen und Positionen zu institutionalisieren. Durch den Austausch von Gedanken und Argumenten kann gemeinsam die Weite islamischer Auslegungen ausgelotet werden und somit innerislamisch Pluralität und Toleranz hergestellt werden. Leider waren die „liberalen“ Muslime bisher mehr damit beschäftigt a) den Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft zu suchen und b) andersdenkende Muslime als „konservativ“ zu ächten.
Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.