Interview

„Liberaler Islam“ – Eine Worthülse ohne Inhalt

Liberale und konservative Muslime stehen sich kritisch gegenüber. Kann man eine Diskussionsbasis finden und weshalb und wie entstand der Liberalismus im Islam? Auf diese Fragen geht der Islamwissenschaftler und Philosoph Muhammad Sameer Murtaza im IslamiQ-Interview ein.

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2017
Der Islam- und Politikwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza im IslamiQ-Interview. © privat

IslamiQ: Wie bewerten Sie die Debatte um den sog. „liberalen Islam„? Gibt es überhaupt einen „konservativen“ oder „liberalen“ Islam?

Dr. Muhammad Sameer Murtaza: Vor fünf Jahren hat der Verein „Liberal-Islamischer Bund e. V.“ zum einen versucht, diese ursprünglich politischen Kampfbegriffe der muslimische Community Deutschlands überzustülpen und zum anderen, den in der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft positiv konnotierten Begriff „liberal“ für sich zu vereinnahmen. Fünf Jahre später wissen wir eigentlich immer noch nicht, was „liberaler Kalam“, was „liberaler Fikh“, was „liberaler Tasawwuf“ oder was „liberale Falsafa“ ist. Auch stellt sich die Frage: War der Prophet Muhammad ein „liberaler“ oder ein „konservativer“ Muslim? Waren die Prophetengefährten allesamt „liberale“ oder „konservative“ Muslime oder ein Mischmasch aus beidem? Was ist also überhaupt mit dem Wort „liberal“ gemeint?

Muhammad Sameer Murtaza, 1981 in Oberwesel geboren, ist ein pakistanisch-deutscher Islam- und Politikwissenschaftler, islamischer Philosoph und Buchautor.

Ebenso wenig hat in dieser Zeit irgendein Teil der muslimischen Community den Begriff „konservativ“ angenommen und erklärt, was ein „konservativer Islam“ ist. Folglich sind beide Begriffe Worthülsen ohne Inhalt. Daher muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt gesagt werden, dass es keinen „konservativen“ und auch keinen „liberalen Islam“ gibt.

IslamiQ: Wie sind die liberalen Ansätze innerhalb der muslimischen Community entstanden? Was war die historische Grundlage dafür?

Murtaza: Historisch knüpfen sogenannte „liberale“ Muslime an ein Bündel abendländischer Entwicklungen an: 

1. Der platonische Dualismus: In den Kreisen „liberaler“ Muslime gibt es eine starke Tendenz zur Relativierung der Werkseite des Islams. „Liberale“ Muslime weisen oftmals den ganzheitlichen Anspruch Gottes an den Menschen zurück und sprechen sich für eine Zweiteilung des Islams aus. Ein Islam des Glaubens und ein Islam der Werke, wobei erst genannter eine höhere Stufe des Islams sei. Wir haben es hier mit einem philosophischen Dualismus zu tun, wie er der platonischen Philosophie zu Eigen ist.

2. Paulinismus: Dieser Dualismus wurde durch den Apostel Paulus christianisiert. Der ursprünglich hellenisierte Jude Paulus litt nämlich unter einem inneren Konflikt. Im Judentum soll der Gläubige durch das Handeln, also durch die Ausübung des jüdischen Religionsgesetzes, der Halacha, Gott erkennen. Doch bei Paulus stellte sich dieses Erkennen nicht ein. Seine Werke erfüllten ihn nicht spirituell, sodass er sich wiederholt die Frage gestellt haben muss, was mit ihm als Gläubiger nicht stimmt. Diesen Konflikt trug er auch nach seiner Bekehrung zu Christus in das Christentum hinein. In Christus erblickte Paulus seinen Befreier und Erlöser von der Halacha und schuf damit theologisch einen Dualismus zwischen Glauben und Handeln. Jesus Lehre vom Handeln wird nun bei ihm umgewandelt in eine reine Theologie. Im Grunde hatte der Apostel seine eigene Schwäche, die Halacha zu befolgen, ganz zu schweigen von der anspruchsvollen Lebensweise Jesu, hierdurch kaschiert.

Diese „liberale“ Muslime erkennen zwar rational die Wahrheit des Islams an, aber sie sind nicht bereit, sich mit ihrem ganzen Menschsein, ihrer Personenmitte, auf den Glauben einzulassen.

Ähnliches lese ich aus den Diskussionen mancher – nicht aller – sogenannter „liberaler“ Muslime in den sozialen Netzwerken heraus. Auch sie quält die Frage: Was haben die Gebote und Verbote des Islams mit der Gott-Mensch-Beziehung auf sich? Diese „liberale“ Muslime erkennen zwar rational die Wahrheit des Islams an, aber sie sind nicht bereit, sich mit ihrem ganzen Menschsein, ihrer Personenmitte, auf den Glauben einzulassen. Es ist der Dienst an Gott, mit dem sie hadern. Es kommt ihnen quer, wenn Gott konkret und fordernd wird. Wenn Er verlangt, dass man heute sein Leben verändern soll. Deshalb wird der Islam auf einen Glauben ohne Werk reduziert.

Es ist die Vorstellung, “Abd“ (Diener) Gottes zu sein, an der sie sich stoßen. Sie wollen stattdessen freie und emanzipierte Menschen sein. Ihre Selbstbestätigung, mündige Menschen zu sein, die auch vor Gott nicht halt macht, finden sie darin, nicht nach Geboten und Verboten leben zu müssen. Dies erklärt auch, weshalb der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi so sehr darauf drängt, den zweiten Satz des Glaubensbekenntnisses zu streichen, weil er den Muslim mit der ganz konkreten Lebensweise des Gesandten Gottes Muhammad verbindet.

3. Protestantismus: Der Reformator Martin Luther knüpfte an die Gedanken Paulus an und betonte, dass im Protestantismus der Glaube über den Werken stehe. Allein durch den Glauben (sola fide) erlange der Christ das ewige Leben. Eine ähnliche Abwertung der Werkseite des Islams findet sich auch oft bei den „liberalen“ Muslimen mit der gleichen Folge wie für den Protestantismus: eine Zweiteilung der Religion durch die Atomisierung von Glaube und Werk, durch die Auflösung des “und“, das sie im Islam verbindet. Hierdurch wird der Islam aber zur Theorie, ganz im buchstäblichen Sinne von “theoria“, also „“Schauen“, da die praktische Handlungsseite des Islams wegfällt. Kein Wunder, dass ein Herr Ourghi sich so aggressiv als neuer Martin Luther des Islam inszeniert.

IslamiQ: Gibt es Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den „Liberalen“ aus verschiedenen Religionen, z. B. zwischen „liberalen“ Muslimen und „liberalen“ Juden?

Murtaza: Der Unterschied ist, dass es sich beim liberalen Judentum um eine religiöse Auslegung handelt, die von Rabbinern betrieben wird, während die „liberalen“ Muslime in der Regel Laien sind, gleichwohl sich manche in Deutschland den eigentlich geschützten Titel „Theologe“ oder den ungeschützten Titel „Imam“ angeeignet haben, weil man sich dadurch besser selbstvermarkten kann.

Leserkommentare

Manuel sagt:
@Dilaver Çelik: Nur weil es Sie als Erzkonservativer nicht verstehen. müssen es andere nicht tun!
30.11.17
19:48
Dilaver Çelik sagt:
@Manuel und an die üblichen Verdächtigen Es steht Ihnen nicht zu, sich in innermuslimische Angelegenheiten einzumischen. Ihre Aussagen und Meinungen diesbezüglich sind deshalb ohne Gegenstand.
01.12.17
13:38
gregek sagt:
Erkonservativer ist noch sehr verharmlosend gemeint
01.12.17
19:22
Manuel sagt:
@Dilaver Çelik: Und es steht Ihnen nicht zu, andere zu veruteilen, die nicht Ihre erzkonservativen Vorstellungen haben. Außerdem leben wir in KEINEM islamischen Land, also kann ich mich sehr wohl darüber äußern, aber offenbar haben Sie Probleme andere Meinungen zu akzpetieren und zu respektieren.
09.12.17
11:51
Manfred Schmidt sagt:
Wer einen interessanten Artikel über die Befindlichkeiten von Muslmen lesen möchte -auch bezüglich des "modernen Islams"- dem empfehle ich die Ausgabe der Frankfurter Rundschau vom 15.12.17 Feuilleton, Seite 24....... Er wurde von einem Mensch muslimischen Glaubens geschrieben und ich bin gespannt auf die Reaktionen, so es denn welche gibt.
17.12.17
18:12
Prinzessin Rosa sagt:
Herr Sameer hat wirklich dezidiert die Fragen beantwortet und Argumente hervorgebracht. Da ich Arabistik-Islamwissenschaft studiert habe konnte ich seiner Argumentationslinie nachvollziehen. Ich fürchte viele können es nicht da ihnen das inhaltliche Wissen fehlt. Er drückt sich sehr klar und verständlich aus. Ein wirklich schönes Inteview dem ich weitestgehend zustimme. Was nicht heißt das man nicht andere Meinung sein kann.
26.04.18
12:12
JYES sagt:
Mir ist nicht ganz klar, warum viele hier in den Kommentaren eine Änderung im Glauben der Muslime fordern. Was ein Mensch glaubt, lässt sich zum einen nicht erzwingen und kontrollieren und weist zum zweiten keine direkte Korrelation zum Handeln auf. Wenn man also auf die Rechtsstaatlichkeit pocht, ist es sinnvoll, diese zur ausschlaggebenden Maxime für das Handeln zu machen, nicht für den Glauben. Denn ganz unabhängig von der religiösen Überzeugung glauben viele Menschen in Deutschland nicht an diejenigen Gesetze und Normen, zu deren Einhaltung sie qua Gesetz gezwungen werden. Es handelt sich, wie Disch richtig sagt, um eine innerislamische Glaubensdebatte, in die man sich als Unbeteiligter nicht einzumischen braucht, zumal der Ausgang ohnehin vorhersagbar ist: "Der Islam muss sich ändern." Wer dieser religiösen Überzeugung nicht angehört, kann selbstverständlich auch keinen Sinn oder Mehrwert darin erkennen, sich den zugehörigen Normen verpflichtet zu fühlen. Innerislamisch geht es schlicht und ergreifend darum, welche Position mit welcher Argumentation überzeugen kann und welche nicht, natürlich nicht die Unbeteiligten, sondern die Muslime. Da sich Muslime im Allgemeinen den Quellen ihrer Religion verbunden fühlen, stößt ein Postulat unter gleichzeitigem völligem oder zumindest überwiegendem Verzicht auf Quellen - wiederum erwartungsgemäß - auf wenig Zustimmung, selbst wenn die zur Disposition stehenden Werte durchaus befürwortet würden. Insofern ist die Forderung des Autors nach sorgfältiger theologischer Grundlagenarbeit - ungeachtet der Stoßrichtung - durchaus nachvollziehbar.
01.02.22
12:05
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