Liberale und konservative Muslime stehen sich kritisch gegenüber. Kann man eine Diskussionsbasis finden und weshalb und wie entstand der Liberalismus im Islam? Auf diese Fragen geht der Islamwissenschaftler und Philosoph Muhammad Sameer Murtaza im IslamiQ-Interview ein.
IslamiQ: Wie bewerten Sie die Debatte um den sog. „liberalen Islam„? Gibt es überhaupt einen „konservativen“ oder „liberalen“ Islam?
Dr. Muhammad Sameer Murtaza: Vor fünf Jahren hat der Verein „Liberal-Islamischer Bund e. V.“ zum einen versucht, diese ursprünglich politischen Kampfbegriffe der muslimische Community Deutschlands überzustülpen und zum anderen, den in der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft positiv konnotierten Begriff „liberal“ für sich zu vereinnahmen. Fünf Jahre später wissen wir eigentlich immer noch nicht, was „liberaler Kalam“, was „liberaler Fikh“, was „liberaler Tasawwuf“ oder was „liberale Falsafa“ ist. Auch stellt sich die Frage: War der Prophet Muhammad ein „liberaler“ oder ein „konservativer“ Muslim? Waren die Prophetengefährten allesamt „liberale“ oder „konservative“ Muslime oder ein Mischmasch aus beidem? Was ist also überhaupt mit dem Wort „liberal“ gemeint?
Ebenso wenig hat in dieser Zeit irgendein Teil der muslimischen Community den Begriff „konservativ“ angenommen und erklärt, was ein „konservativer Islam“ ist. Folglich sind beide Begriffe Worthülsen ohne Inhalt. Daher muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt gesagt werden, dass es keinen „konservativen“ und auch keinen „liberalen Islam“ gibt.
IslamiQ: Wie sind die liberalen Ansätze innerhalb der muslimischen Community entstanden? Was war die historische Grundlage dafür?
Murtaza: Historisch knüpfen sogenannte „liberale“ Muslime an ein Bündel abendländischer Entwicklungen an:
1. Der platonische Dualismus: In den Kreisen „liberaler“ Muslime gibt es eine starke Tendenz zur Relativierung der Werkseite des Islams. „Liberale“ Muslime weisen oftmals den ganzheitlichen Anspruch Gottes an den Menschen zurück und sprechen sich für eine Zweiteilung des Islams aus. Ein Islam des Glaubens und ein Islam der Werke, wobei erst genannter eine höhere Stufe des Islams sei. Wir haben es hier mit einem philosophischen Dualismus zu tun, wie er der platonischen Philosophie zu Eigen ist.
2. Paulinismus: Dieser Dualismus wurde durch den Apostel Paulus christianisiert. Der ursprünglich hellenisierte Jude Paulus litt nämlich unter einem inneren Konflikt. Im Judentum soll der Gläubige durch das Handeln, also durch die Ausübung des jüdischen Religionsgesetzes, der Halacha, Gott erkennen. Doch bei Paulus stellte sich dieses Erkennen nicht ein. Seine Werke erfüllten ihn nicht spirituell, sodass er sich wiederholt die Frage gestellt haben muss, was mit ihm als Gläubiger nicht stimmt. Diesen Konflikt trug er auch nach seiner Bekehrung zu Christus in das Christentum hinein. In Christus erblickte Paulus seinen Befreier und Erlöser von der Halacha und schuf damit theologisch einen Dualismus zwischen Glauben und Handeln. Jesus Lehre vom Handeln wird nun bei ihm umgewandelt in eine reine Theologie. Im Grunde hatte der Apostel seine eigene Schwäche, die Halacha zu befolgen, ganz zu schweigen von der anspruchsvollen Lebensweise Jesu, hierdurch kaschiert.
Ähnliches lese ich aus den Diskussionen mancher – nicht aller – sogenannter „liberaler“ Muslime in den sozialen Netzwerken heraus. Auch sie quält die Frage: Was haben die Gebote und Verbote des Islams mit der Gott-Mensch-Beziehung auf sich? Diese „liberale“ Muslime erkennen zwar rational die Wahrheit des Islams an, aber sie sind nicht bereit, sich mit ihrem ganzen Menschsein, ihrer Personenmitte, auf den Glauben einzulassen. Es ist der Dienst an Gott, mit dem sie hadern. Es kommt ihnen quer, wenn Gott konkret und fordernd wird. Wenn Er verlangt, dass man heute sein Leben verändern soll. Deshalb wird der Islam auf einen Glauben ohne Werk reduziert.
Es ist die Vorstellung, “Abd“ (Diener) Gottes zu sein, an der sie sich stoßen. Sie wollen stattdessen freie und emanzipierte Menschen sein. Ihre Selbstbestätigung, mündige Menschen zu sein, die auch vor Gott nicht halt macht, finden sie darin, nicht nach Geboten und Verboten leben zu müssen. Dies erklärt auch, weshalb der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi so sehr darauf drängt, den zweiten Satz des Glaubensbekenntnisses zu streichen, weil er den Muslim mit der ganz konkreten Lebensweise des Gesandten Gottes Muhammad verbindet.
3. Protestantismus: Der Reformator Martin Luther knüpfte an die Gedanken Paulus an und betonte, dass im Protestantismus der Glaube über den Werken stehe. Allein durch den Glauben (sola fide) erlange der Christ das ewige Leben. Eine ähnliche Abwertung der Werkseite des Islams findet sich auch oft bei den „liberalen“ Muslimen mit der gleichen Folge wie für den Protestantismus: eine Zweiteilung der Religion durch die Atomisierung von Glaube und Werk, durch die Auflösung des “und“, das sie im Islam verbindet. Hierdurch wird der Islam aber zur Theorie, ganz im buchstäblichen Sinne von “theoria“, also „“Schauen“, da die praktische Handlungsseite des Islams wegfällt. Kein Wunder, dass ein Herr Ourghi sich so aggressiv als neuer Martin Luther des Islam inszeniert.
IslamiQ: Gibt es Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den „Liberalen“ aus verschiedenen Religionen, z. B. zwischen „liberalen“ Muslimen und „liberalen“ Juden?
Murtaza: Der Unterschied ist, dass es sich beim liberalen Judentum um eine religiöse Auslegung handelt, die von Rabbinern betrieben wird, während die „liberalen“ Muslime in der Regel Laien sind, gleichwohl sich manche in Deutschland den eigentlich geschützten Titel „Theologe“ oder den ungeschützten Titel „Imam“ angeeignet haben, weil man sich dadurch besser selbstvermarkten kann.