Sudbin Musić lebte zur Zeit des Krieges in Prijedor, im Norden Bosniens. Er überlebte das Konzentrationslager und engagiert sich noch heute gegen das Vergessen. Wie er Ratko Mladićs Urteil bewertet und warum die ethnische Säuberung der Bosniaken bis heute andauert, erklärt er exklusiv im IslamiQ-Interview.
IslamiQ: Ratko Mladić wurde nach 22 Jahren in zehn von elf Anklagepunkten, unter anderem wegen dem Völkermord in Srebrenica, verurteilt. Wie war ihre erste Reaktion auf dieses Urteil?
Sudbin Musić: Ich habe die Urteilsverkündung für den staatlichen Sender Bosniens in Sarajevo kommentiert und verfolgt. Ich würde sagen, dass ich zuerst Enttäuschung empfunden habe. Andererseits war ich aber auch glücklich darüber, dass wir Kriegsüberlebenden überhaupt die Verurteilung Mladićs miterleben. Es hätte ja auch das gleiche wie bei dem kroatischen General Praljak passieren können, der sich im Gerichtsaal vergiftet hat und sich somit der Strafe entzog. Nun wird er als großer Held stilisiert. Ratko Mladić wurde schuldig gesprochen und das ist wichtig, sehr wichtig!
IslamiQ: Er wurde jedoch in dem Punkt: Kriegsverbrechen in bosnischen Dörfern des Völkermordes nicht schuldig gesprochen. Wie ist die Stimmung hinsichtlich dieser Tatsache in Bosnien?
Musić: Es geht nicht nur um ein paar bosnische Dörfer, sondern um das ganze Gebiet der heutigen Republik Srpska. Insbesondere um Prijedor, meiner Geburtsstadt und um sechs weitere Städte, in denen er keine „ethnische Säuberung“ veranlasst haben soll. Meiner Meinung nach hatte er aber das Ziel der „ethnischen Säuberung“ nicht nur in Srebrenica verfolgt, sondern wollte die gleiche Methodik überall anwenden. Daher hätte er auch in dem Punkt schuldig gesprochen werden müssen.
Die Stimmung in Bosnien ist sehr geteilt, so wie das Land im Gesamten auch gespalten ist. Dennoch habe ich schlimmeres erwartet. Denn das wichtigste ist, dass die ganze damalige politische und militärische Führung der sogenannten Republik Srpska schuldig gesprochen wurde! Die Kehrseite: der derzeitige Präsident missbraucht die aktuelle Situation, um mehr Stimmen für die kommenden Wahlen zu gewinnen.
IslamiQ: Neben Ratko Mladić waren noch viele andere Befehlshaber für die Kriegsverbrechen verantwortlich, doch nur 16 wurden bis dato schuldig gesprochen. Wie bewerten Sie diese Bilanz?
Musić: Es waren nicht nur 16 Personen. Bosnien hat ja auch ein eigenes Gericht. Hier wurden viel mehr Befehlshaber angeklagt. Der internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICYT) hat seine Kapazitäten ausgeschöpft und das kann ich auch nachvollziehen. Mein Problem mit dem ICTY ist aber die Bestrafungspolitik. Wie kann es sein, dass diejenigen, die diese Gräueltaten zugegeben haben, am Ende nur ein paar Jahre im Gefängnis verbringen müssen. Beispielsweise einer meiner serbischen Nachbarn, der zugab mehr als 200 Bosniaken umgebracht zu haben und am Ende nur für neun Jahre in ein spanisches Gefängnis gehen musste. Am Anfang der Verhandlungen des Internationalen Strafgerichtshofs hatten wir Hoffnung und am Ende empfinden wir Enttäuschung.
Ich würde sagen, dass wir zu viel erwartet haben. Auch wenn wir enttäuscht sind, würde ich nicht so weit gehen und sagen, dass die Arbeit des Strafgerichtshofes nicht von Nutzen war. Wir müssen uns die Frage stellen: Wie wäre es jetzt ohne den Strafgerichtshof?
IslamiQ: Sie leben und lebten zur Zeit des Krieges als Muslim in Prijedor, dem Ort an dem die meisten Kriegsverbrechen verübt wurden und sich die meisten Konzentrationslager befanden. Wie haben Sie die Zeit damals erlebt?
Musić: Ich bin einer der wenigen Überlebenden meiner Generation. Als der Krieg ausbrach war ich 17 Jahre alt. Ich lebte ein ganz normales Leben, vergleichbar mit dem Leben der Jugendlichen in Deutschland. Nur wenige der Jugendlichen hier überlebten aber das folgende Massaker und den Horror in den Konzentrationslagern. Die Überlebenden, darunter ich, wurden nach Zentralbosnien deportiert. Nach dem Krieg wollte ich weg, weit weg von dem Grauen hier. Doch das Gefühl hielt nicht lange an. Nach einem Aufenthalt in Deutschland kehrte ich zurück nach Bosnien. Glücklicherweise hatte ich nicht alle Familienmitglieder im Krieg verloren, meinen Vater jedoch schon. Ich habe ihn und vier weitere Nachbarn in einem Hofbrunnen gefunden, identifiziert und beerdigt. Da ich der älteste Sohn bin, war ich von da an für meine Mutter und drei Geschwister verantwortlich. Aber im Vergleich zu den anderen Familien aus meiner Nachbarschaft hatten wir Glück.
IslamiQ: Bekamen Sie Ratko Mladić oder einen der anderen Angeklagten je zu Gesicht?
Musić: Ratko Mladić nie, aber viele der anderen verurteilten Kriegsverbrecher aus Prijedor! Wir leben mit Kriegsverbrechern zusammen!
IslamiQ: Für viele Serben gilt Ratko Mladić nach wie vor als Held, er selbst dementiert alle Vorwürfe. Welche Folgen wird dieses Urteil für das bosnisch-serbische Zusammenleben haben?
Musić: Wie ich schon gesagt habe, Bosnien ist ein gespaltenes Land und das ist ein Problem. Dabei geht es nicht nur um dieses Urteil, sondern um die gesamte nationalistische Rhetorik der führenden Politiker im serbischen Teil Bosniens. Mir scheint es, als ob immer noch die gleiche Ideologie vertreten wird, wie im Jahr 1992. Rückkehrer fühlen sich nicht mehr so sicher wie sieben Jahre zuvor, und viele Prozesse stagnieren. Die internationale Gemeinschaft ist genauso daran schuld, wie die hiesigen Politiker.
Das was wir zur Zeit erleben ist die letzte Etappe der ethnischen Säuberung – die permanente Diskriminierung im Land führt dazu, dass viele Bosniaken das Land verlassen. Nach dem Krieg ist nur ein Fünftel zurückgekehrt, manche haben ihre Häuser wiederaufgebaut, leben aber weiterhin in Frankreich oder Deutschland. Die Jungen wandern aus und die Alten sterben aus. Ich frage mich: wer wird hier in den nächsten zwei oder drei Jahren noch leben?
IslamiQ: Der frühere Serbenführer Radovan Karadžić gilt neben Mladić als Hauptverantwortlicher. Er wurde 2016 zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt. Das Berufungsverfahren läuft, auch Mladics Anwälte gaben an ein Berufungsverfahren einleiten zu wollen. Keiner von Beiden zeigte Reue. Wie bewerten Sie diese Haltung?
Musić: Das sind zwei Psychopathen – nicht mehr und nicht weniger. Sehr gefährliche Männer und umso besorgniserregender ist es, dass sich viele serbischen Jugendlichen mit ihnen identifizieren. Sie werden als Helden gefeiert. Das ist sehr traurig!
IslamiQ: Sie selbst sind seit Jahren aktiv, halten Präsentationen, geben Interviews und haben den Krieg hautnah erlebt. Was muss geschehen damit Sie zur Ruhe kommen und zufrieden ihr Engagement einstellen können?
Musić: Wenn wir ein neues Bosnien haben. Das bedeutet: eine neue Verfassung und ein Sicherheitsgefühl für alle: Bosniaken, Serben und Kroaten. Das haben die Menschen, die hier leben, einfach verdient. Die große Mehrheit des Volkes wünscht sich nur noch Frieden. Sie haben den Krieg satt. Wir wollen angstbefreit leben und unseren Kindern muss eine zuversichtliche Zukunft garantiert werden. Bosnien hat sehr viel Potenzial, das ausgeschöpft werden muss. Das schaffen wir aber nicht alleine und Europa weiss das!
Das Interview führte Esra Ayari.