Eine Analyse von Chat-Protokollen zeigt: Mit dem Islam hat der Radikalisierungsprozess von Jugendlichen wenig zu tun. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit dem Islamwissenschaftler Dr. Michael Kiefer über die Erkenntnisse dieser Studie.
IslamiQ: In Ihrer Studie sprechen Sie von einer „Lego“-Ideologie, die sich junge Männer vor allem aus dem Internet zusammenstellen. Wie sieht diese Ideologie aus?
Dr. Michael Kiefer: Von einer Ideologie kann in Bezug auf das Protokoll eigentlich nicht gesprochen werden. Denn es handelt sich nicht um eine durchdachte und kohärente Weltsicht. Vielmehr handelt es sich um eine Collage, deren Bestandteile anlassbezogen gesucht und miteinander verbunden werden. Einiges stammt aus dem Internet. Anderes vom Hörensagen. Deshalb sprechen wir von einem „Lego“-Islam.
IslamiQ: Was sagt das über die Religiosität der jungen Männer aus?
Kiefer: Bei der Lektüre des Chat-Protokolls entsteht der Eindruck, dass die Jugendlichen ihren Islam als eine Art Gruppenkult selbst gebastelt haben. Mit Muslimen, die Ihre krude Sichtweise nicht teilen, wollen sie nichts zu tun haben. Deshalb besuchen sie auch keine Moschee, wollen vielmehr in einer Garage selbst eine Moschee gründen. Das ist alles schon sehr eigenartig und irritierend.
IslamiQ: Seit Jahren wird behauptet, dass Moscheen Orte möglicher Radikalisierung sind. Die Ergebnisse ihrer Studie widersprechen dem. Muslimische Stimmen sagen: Das wussten wir schon lange. Die Wissenschaft nicht?
Kiefer: Zunächst einmal muss hier konstatiert werden, dass wir die Kommunikation von einer Gruppe untersucht haben. Folglich betreffen unsere Schlussfolgerungen auch nur diese eine Gruppe. Und in diesem Fall ist es in der Tat so, dass die Moscheegemeinden keine Rolle spielten.
Wenn wir allgemein über Radikalisierung sprechen, müssen wir differenzieren. Richtig ist, dass in den meisten Fällen die Moscheegemeinden der großen Verbände in Deutschland in der Regel keine Rolle in Radikalisierungsprozessen spielen. Aber es gibt auch schwarze Schafe oder anders formuliert Moscheegemeinden mit einer hochproblematischen Orientierung. Verwiesen sei hier nur auf den „Deutschsprachigen Islamkreis“ in Hildesheim.
IslamiQ: Sie betonen den Wert der Schule als Ort der Prävention. Doch ist die Schule schon der Ort von so vielem. Ist es nicht einfach zu viel des Guten, ihn auch noch zu einem Ort der Prävention zu machen?
Kiefer: Nein, ganz und gar nicht. Zunächst gilt es zu konstatieren, dass die Schule der einzige Ort ist, an dem Kinder und Jugendliche von 6-18 Jahre über einen langen Zeitraum täglich erreichbar sind. Die Bedeutung der Schule ist daher in präventiven Kontexten in jeder Hinsicht herausragend. Das ist durchaus allen Akteuren bewusst. Die Frage, die gestellt werden muss, lautet: Kann die Schule in ihrer derzeitigen Verfasstheit einen wirksamen Beitrag zur Radikalisierungsprävention leisten? Hier kann die Antwort leider nicht befriedigend ausfallen. Denn es fehlt an personellen Ressourcen in der Schulsozialarbeit und die professionellen schulischen Akteure verfügen teilweise nicht über notwendige Sachkenntnisse. Ferner fehlt es an Konzepten und geeigneten Partnerinnen und Partnern die Schule und Sozialraum verschränken. Hier ist also noch einiges zu tun.
IslamiQ: Ist der islamische Religionsunterricht (IRU) eine präventive Maßnahme? Soll er das aus rechtlicher Sicht überhaupt sein? Oder etwas provokanter gefragt: Es gibt ja auch keine Prävention im christlichen Religionsunterricht, weil es Verbrecher gibt, die Christen sind.
Kiefer: Der Islamische Religionsunterricht ist vom Staat und den Religionsgemeinschaften ganz klar nicht als eine Präventionsmaßnahme konzipiert worden. Es geht in erster Linie um religiöse Bildung und die Reflektion von religiösen Inhalten und Sichtweisen. Natürlich kann der Unterricht auch eine präventive Funktion haben. Einige Pädagoginnen und Pädagogen gehen davon aus, dass z. B. gute Grundkenntnisse in Koran- und Hadithwissenschaften durchaus eine immunisierende Wirkung entfalten können. Wissenschaftlich belegt ist diese These jedoch nicht.
IslamiQ: In einem Interview sagen Sie, dass sich der Begriff Extremismus immer mehr zu einem Containerbegriff entwickelt hat. Gilt das nicht auch für den Begriff des „Islamismus“, der in der Forschung üblich ist?
Kiefer: Ja, das ist so. Die Vorstellungen liegen in der Tat weit auseinander. Dennoch ist der Begriff aus meiner Perspektive unverzichtbar, da es keine wirklichen Alternativen gibt. In Anlehnung an Mohammed Arkoun bezeichnet der Begriff Islamismus die Ideologisierung des Islams. Ausgangspunkt ist die Annahme, der Islam enthalte das vollkommene Recht das zur Regelung aller privaten und gesellschaftlichen Angelegenheiten herangezogen werden müsse.
IslamiQ: Der Präventionsbegriff wird unterschiedlich definiert. Oft werden auch Radikalisierungsfaktoren oder -anzeichen, sodass sogar die religiöse Praxis von Muslimen (z. B. das Gebet oder das Kopftuch) als potenzielle Gefahr wahrgenommen wird. Warum ist das so? Wie kann man dem entgegenwirken?
Kiefer: In der Tat haben wir in der Präventionsarbeit ein Problem bei der Benennung verlässlicher Indikatoren, die Radikalisierung anzeigen können. Manche Akteure in Jugendhilfe, Schule und Gemeinde hätten gerne eine überschaubare Liste mit deren Hilfe dann sichere Beurteilungen hervorgebracht werden können. Leider sieht die Realität anders aus. Radikalisierungsprozesse sind multifaktoriell beeinflusst und daher sehr komplex. Es bedarf stets einer individuellen Überprüfung, die von qualifizierten Fachkräften durchgeführt werden sollte. Eine veränderte Kleidung oder Verhaltensänderungen können Indizien sein, müssen es aber nicht. Mitunter gibt es in Einrichtungen und Schulen auch einen gewissen Alarmismus, der mit Fehldeutungen und Bezichtigungen einhergeht. Ein wirksames Mittel hiergegen stellen unter anderem Fortbildungen für Lehrkräfte dar.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.