Das islamische Gebet ist für den iranischen Dichter Kaveh Akbar eine besondere Kindheitserinnerung. In seinem jüngst erschienen Erstlingswerk „Calling a Wolf a Wolf“ hat er seine Liebesbeziehung zum Gebet verarbeitet. Erstmalig auf Deutsch könnt Ihr aus den Federn des Dichters selbst seine Motivation zum Buch nachlesen.
Die allerersten Gedichte, die ich kannte und liebte, waren in einer Sprache verfasst, die ich nicht verstand. Jeden Abend verkündete mein Vater, es sei nun Zeit für das Gebet – „namaz“ – und er, meine Mutter, mein älterer Bruder und wuschen uns gemeinsam Gesicht, Haar, Kopf, Arme und Füße. Dann versammelten wir uns in der Küche, im Wohnzimmer oder in einem der Schlafzimmer und rollten unsere Teppiche aus. Während wir die verschiedenen, Ergebenheit ausdrückenden Haltungen einnahmen, murmelten wir, jeder für sich, die Gebete leise vor uns hin.
Als kleines Kind beobachtete ich meine Familie und ahmte ihre Bewegungen nach so gut ich konnte. Meistens waren ihre Worte kaum hörbar. Statt wie sie zu klingen konzentrierte ich mich also darauf, mich wie sie zu bewegen. Vor dem Gesicht eine hohle Hand formen wie um Wasser zu schöpfen, die Hände an die Ohren heben, mich bücken, knien, mit der Stirn meinen „janamaz“ berühren – meinen eignen kleinen, bestickten Gebetsteppich.
Die Gebetstexte waren auf Arabisch, einer Sprache, die keiner von uns beherrschte. Das Persische, unsere Muttersprache, verwendet zwar dasselbe Alphabet, als indo-europäische Sprache ist es aber näher mit dem Portugiesischen oder Französischen verwandt. Jeden Tag also versammelte sich unsere Familie, um in einer Sprache zu beten, die wir nicht verstanden. Doch diese wunderschönen, herzzerreißenden Lautfolgen schufen eine direkte Verbindung zu Gott.
Die meiste Zeit meiner frühen Kindheit folgte ich nur den verschiedenen Haltungen, die meine Familie einnahm, lauschte ihren geflüsterten Worten. Staunend und fasziniert sah ich zu, wie sich hinknieten, ihre Hände in Anbetung falteten. Besonders mein Vater, der einzige von uns, der durchgehend im Iran aufgewachsen war, schien in diesen Augenblicken herausgehoben, gelöst, ja beinahe heilig. Noch bevor ich den eigentlichen Sinn des Gebets verstand, wusste ich, dass ich so sein wollte wie er. Um diese Idee dreht sich auch eines der Gedichte aus meinem ersten Buch.
Als ich sechs oder sieben Jahre alt, entschied mein Vater, dass es nun an der Zeit sei, mich das Gebet zu lehren. In bunten Farben schrieb er die arabischen Worte in Lautschrift auf Karten, laminierte sie, und dann saßen wir jeden Tag eine Stunde lang auf dem Sofa und lernten. In einer Zeile stand: „Alhamdulillahi rabbil alamin, arrahma nirrahim.“ Langsam formten wir die Laute, und ich hing an den stoppelbärtigen Lippen meines Vaters, erfreute mich an der zauberhaften Musik, die von ihnen kam. Wir übten, den ganzen Text in einem Rutsch aufzusagen, gingen die Haltungen durch, genau dort, auf dem alten Sofa. Wir lachten über meine Vergesslichkeit, wurden müde und schließlich hungrig.
Es dauerte nicht lange, dann beherrschte ich es, konnte fünfzehn Minuten lang in dieser wunderschönen, geheimnisvollen Sprache beten – der gleichen Sprache, die der Prophet selbst gesprochen hatte. Ich war so stolz auf mich, und mein Vater war es auch. Der Dichter Kazim Ali schreibt: „Wenn Gebete einen Ort heiligen können, so heißt das notwendig, dass es eine göttliche Energie gibt, die durch den menschlichen Körper fließt.“ Von Kazim erfuhr ich, dass das arabische Wort „Ruh“ sowohl „Atem“ als auch „Geist“ bedeutet. Für mein Verständnis des Gebets ist das ganz wesentlich: Das Gebet als ein Weg, den geistigen Atem durch eine Form konzentrierter Musik hindurch zu führen und zu lenken.
Diese Musik, diese Art, Gott selbst zu preisen, war mein erstes bewusstes Erleben einer lyrisch aufgeladenen Sprache. Sie bildet das Fundament meines Verständnisses von Poesie als Handwerk und meditativer Übung. Meine Arbeit als Schriftsteller ist untrennbar mit meiner Spiritualität verbunden. Welche Gottheit auch immer ich heute in meinen Gedichten besinge – Liebe, Angst, den Tod, die Familie, Gott oder irgendetwas anderes – sie muss zuerst umworben werden. Bereits in ganz jungen Jahren habe ich gelernt, dass Sprache ein Weg ist, das Unbegreifliche fassbar zu machen – vorausgesetzt unser Werben ist inbrünstig, ernsthaft und wahrhaftig. Es ist nicht von Belang, ob wir das, was wir sagen, im Wortlaut verstehen. Wir müssen es mit Verlangen sagen, mit der Schönheit des Geistes und des Atems, dann erhaschen wir einen winzigen Augenblick von Gottes Aufmerksamkeit.
Übersetzt aus dem Englischen von Katharina Ben El Adel.