Was bedeutet überhaupt Integration und was will sie erreichen? Im Interview mit der Kulturaanthropologin, Prof. Dr. Sabine Hess, bewerten wir den aktuellen „Integrationshype“ in Deutschland und den damit einhergehenden Forderungen nach einer Leitkultur.
IslamiQ: Sie fordern einen „Abschied vom Container-Modell“ und bezeichnen das neue Modell als „Migrations-Mainstreaming“. Was meinen Sie damit?
Hess: Wir WissenschaftlerInnen, die wir uns in kritnet, dem Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung zusammengetan haben – sind der Meinung, dass sich alle Forschungen, alle Wissenschaftsgebiete oder alle politischen Teilbereiche mit Fragen von Migration auseinandersetzen müssen. Es geht nicht darum, irgendeine insulare Migrationsforschung aufzubauen, sondern Migration als Querschnittsthema aller Sparten, also Sozialpolitik, Arbeitsmarkpolitik, Bildungspolitik, Genderpolitik, zu etablieren. Und umgekehrt müsste sich eine Migrationsforschung als eine Einwanderungsgesellschaftsforschung verstehen und sich eher mit der Einwanderungsgesellschaft als Ganzes auseinandersetzen.
IslamiQ: Ist es in Angesicht der Wahlergebnisse der letzten Bundestagswahlen nicht utopisch, den Migrationsbegriff neu zu überdenken?
Hess: Wenn wir keine Utopie mehr haben, können wir uns gleich einäschern lassen. Ich weiß, dass Gesellschaft kein statisches monolithisches Gebilde ist. Es hat sich viel bewegt in diesem Land, auch gerade auf dem Gebiet der Migration hat sich wahnsinnig viel bewegt von ein „wir sind kein Einwanderungsland“ bis hin zu einer Frau Merkel, die eine Integration kritisch begutachtet und die 2015 die Grenzen nicht verschlossen hat. Das ist meiner Meinung nach eine Frage der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und da müssen wir gerade in der Tat ringen. Die AfD usw., das sind sehr Besorgnis erregende Entwicklungen, aber wenn ich nicht daran glauben sollte, dass eine andere Gesellschaft möglich ist, dann müsste ich das nicht tun, was ich tue.
IslamiQ: „Leitkultur“, das Unwort des Jahres 2000. Die Leitkultur-Debatte scheint alt zu sein, reicht aber bis zu den heutigen Diskussionen. Schon im April diesen Jahres hat De Maiziere in seinem Gastbeitrag die Grundsätze für eine „deutsche Leitkultur“ vorgelegt. Was halten Sie von der sogenannten „Leitkultur“?
Hess: Nichts. Ich meine, allein der Begriff ist schon Quatsch. Als sozialwissenschaftlich ausgebildete Menschen, auch Herr Maizière hat im Studium und in der Schule Gesellschaftskunde gehabt, wissen wir, dass die Gesellschaft aus Klassen, Geschlechtern, Milieus, Subkulturen besteht und insofern ist ganz abgesehen vom Migrations- und Einwanderungsthema die Frage einer Leitkultur absoluter Humbug. Wenn man die Frage nach der Leitkultur positiv wendet und davon ausgeht, dass es eine Wertedebatte ist, dann ist es ja eher das Problem, dass 17% unserer Bürger die AfD und damit rechts und faschistoide Ideen wählen und anscheinend nicht gut integriert sind in diesem demokratischen Gebilde. Von daher ist diese Debatte total absurd.
Gerade aus der Sozial- und Gesellschaftswissenschaft, Erziehungswissenschaft und Pädagogik, gibt es unzählige Bücher, die sich kritisch mit der Integrationsthematik auseinandergesetzt haben. Von daher denke ich schon, dass die Stimmen, die die Leitkulturdebatte für absurd halten, nicht seltsam oder nicht marginal sind auch wenn gerade die Gesellschaft im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise wieder in den Integrationshype verfallen.
IslamiQ: Sie sind optimistisch…
Hess: Ich bin politisch. Ich weiß, dass es darum geht, dass der Diskurs dynamisch ist und dass man seine eigene Stimme kraftvoll in diesen Diskurs einbringen muss.
Es ist total spannend, dass das Thema Integration wieder aufgeholt wird und dass es jetzt wieder die Notwendigkeit gibt diese ganze Kritik, die wir schon vor 7-10 Jahren formuliert haben, wieder neu zu formulieren. Aber das ist eher einer absurden Vergesslichkeit in dieser Debatte gutzuschreiben, diese ganze Kritik gab es schon mal und zwar sehr flächendeckend und breit.
IslamiQ: Was ist ihr Appell an die Politik?
Hess: Es geht um einen sicheren Aufenthalt, sichere Lebensperspektive und um ein klares Bekenntnis zu „Wir schaffen das“. Das heißt, man muss den Menschen rechtlich und sozial die Bedingungen stellen. Nicht wie durch die Verweigerung des Familiennachzugs erschweren, was massiv integrationshemmend wirkt, sondern man muss alle gesetzlichen Signale darauf stellen, dass die Menschen, die hier ankommen, sicher und geschützt partizipieren können.