Was bedeutet überhaupt Integration und was will sie erreichen? Im Interview mit der Kulturaanthropologin, Prof. Dr. Sabine Hess, bewerten wir den aktuellen „Integrationshype“ in Deutschland und den damit einhergehenden Forderungen nach einer Leitkultur.
IslamiQ: Integrationsgipfel, Integrationsgesetze, Integrationsschwierigkeiten. Jenseits dieses Themendschungels, fangen wir mit einer allgemeinen deskriptiven Frage an: Was ist Integration und was ist es nicht?
Prof. Dr. Sabine Hess: Ich glaube, die eigentliche Frage ist nicht, was Integration ist, sondern wer über Integration spricht und von wem welche Integration abverlangt wird. Es gibt den Begriff allgemeingültig nicht. Er ist ein hochpolitischer Begriff, der in den letzten Jahren in der Migrationsdebatte ganz unterschiedlich gefüllt und gegen ganz unterschiedliche Einwanderungsgruppen in Anschlag gebracht wurde. Wenn wir den Begriff „Integration“ positiv anwenden, dann meint er meiner Meinung nach Partizipation und gleiche Rechte. Aber so wird der Begriff in der hiesigen politischen Debatte nie richtig verwendet.
IslamiQ: Der Begriff Integration scheint zum Alltagsphänomen in Europa geworden zu sein. Ist dem so?
Hess: Ich weiß es gar nicht, ob das zum Alltagsphänomen in Europa geworden ist. Ich glaube, dass in anderen Einwanderungsgesellschaften ganz anders über einen gesellschaftlichen Zusammenhalt nachgedacht wird und dass der Integrationsimperativ oder die Bedeutung des Integrationsbegriffs eine spezifisch „deutsche Entwicklung“ ist, wo eben lange Zeit keine gleichen Rechte galten oder der Wahrheit nicht ins Gesicht geschaut wurde, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Daher war der Integrationsbegriff eigentlich immer ein Ersatzbegriff: Er sollte kompensieren, dass es für Migrierende keine andere bürgerschaftliche Perspektive gibt. Sie sollten sich anders integrieren und dann partiell teilhaben können.
IslamiQ: Das heißt also, dass die Integration in anderen europäischen Ländern nicht so diskutiert wird wie in Deutschland?
Hess: Ja, weil gesellschaftlicher Zusammenhalt und Einwanderung in den anderen Ländern wie es in Frankreich und England ist, lange Zeit über andere Regularien gesteuert wurde. In den ehemaligen Kolonialmächten galten lange Zeit auch Menschen aus den Ex-Kolonien beispielsweise als Angehörige des Commonwealth und hatten damit z.B. das Recht nach England einzuwandern. Das heißt, Einwanderung hat sich z.B. in England ganz anders gestaltet als hier. Die verzögerte Anerkennung, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und die lange Zeit der Verkennung, dass wir eine Integrationspolitik führen müssen, hat den Integrationsbegriff in Deutschland sehr spezifisch gemacht.
IslamiQ: Spezifisch für Deutschland oder auch für den deutschsprachigen europäischen Raum, wie die Schweiz oder Österreich?
Hess: Die österreichische Debatte ist wahrscheinlich ähnlich wie die Deutsche gelagert, weil auch die österreichische Gesellschaft lange Zeit verkannt hat, dass sie eine Einwanderungsgesellschaft ist. Ich könnte mir auch vorstellen, dass die österreichische Nationalidentität sehr kulturalistisch aufgeladen ist. Das ist ja auch nochmal ein Spezifikum. Dort, wo die Nationalität stark über die kulturelle Identität definiert wird, ist der Integrationsbegriff ein stark kulturalistischer und ein sehr fordernder, insgesamt sehr assimilationistisch gedachter Begriff. Dennoch ist er immer zeitspezifisch und abhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Debatten zu denken. Da ist es wichtig, wie über Einwanderung gesprochen wird und wer, wie zum „Anderen“ gemacht wird.
Ein antimuslimischer Rassismus äußert sich anders als ein Antisemitismus, z.B. in dem er Menschen aus dem arabischen Raum Rückständigkeit und Gewaltbereitschaft unterstellt. Deshalb gibt es gegen die unterschiedlichen Gruppen auch unterschiedliche Integrationsanforderungen und Integrationshürden, die zu überwinden sind oder gedacht werden.
Integration macht nur Sinn, wenn ich einer Gruppe vorwerfe, dass sie nicht integriert ist und dass sie sich gefälligst in irgendwas zu integrieren hat. Das heißt, es muss Vorstellungen geben, wie das Kollektiv aussieht, in was der Mensch sich zu integrieren hat und es muss eine Vorstellung geben, über die Distanz und die Differenz des Anderen und weshalb die Distanz, die Differenz überwunden werden muss. Es muss die grundsätzliche Frage gestellt werden, warum man nicht in Differenz leben kann. Von daher ist dieser Begriff ein hochgradig aufgeladener Begriff, der voller Annahmen und voller Hierarchien steckt.
IslamiQ: Ist diese Position, angesichts der aktuellen Debatte in Deutschland, selten aufzufinden?
Hess: Nein, ganz im Gegenteil. Diese Position hat sich vor allem aus den migrantischen Communities entwickelt und wird in der kritischen Migrationsforschung seit den 80er Jahren weitgehend geteilt.
Es mag sein, dass nun im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise seit 2015 der Integrationsbegriff gerad von Seiten der Politik und leider auch der Wissenschaft reingewaschen wird, indem so getan wird, als würde es keine andere Sprache dafür geben, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt gedacht werden kann. Aber vor 2015 war die Kritik an dem Integrationskonzept und –begriff sehr weit verbreitet. Es gibt gerade ein relativ großes roll-back, z.B. auch zu sehen in den Sondierungsvereinbarungen zwischen CDU und SPD, wo wieder stark von den MigrantInnen einen „Anstrengung“ abverlangt wird und Aufenthaltsrechte massiv an Integrationsfortschritte im Sinne der deutschen Parteien gekoppelt werden – das ist ein großer Schritt zurück in Sachen Gestaltung einer Einwanderungsgesellschaft
IslamiQ: Zurück zu dem Integrationsverständnis: Wann spricht man von einer gut gelungenen Integration und wonach wird das gemessen?
Hess: Ich weiß nicht mal, ob ich in das deutsche Kollektiv gut integriert bin. Ich bin eine linke feministische Forscherin aus Bayern.
Natürlich gibt es politisch ein Maßstab, der an Leute angelegt wird, das ist vor allem die Arbeitsmarktpartizipation oder die Integration in den Arbeitsmarkt, worauf Integration auch gerade wieder reduziert wird. Aus diesem Grund werden alle Flüchtlinge und vor allem Frauen in den minderbezahlten Arbeitsmarkt getrieben, egal welche Qualifikation sie haben.
Letztendlich funktioniert Integration in einer doppelten Logik: Ich finde sie zum einen sehr stark kulturalistisch und zum anderen zunehmend verwertungslogisch gedacht. Es geht vor allem darum, dass die Leute arbeiten, arbeiten, arbeiten, egal in welchem Job. Sie sollen auf jeden Fall ihren Platz im Arbeitsmarkt finden und nur wer eine Arbeit vorweisen kann, hat Berechtigung auf eine Aufenthaltserlaubnis.
Es müsste darum gehen, die Menschen an der Gesellschaft gleichwertig teilhaben zu lassen. Das würde die ganze Fragestellung umdrehen. Wir müssten den Staat befragen, was er denn tut, dass Leute gleichwertig an dieser Gesellschaft partizipieren können.
Es geht darum, was desintegriert. Meiner Meinung nach sind es soziale und rechtliche Parameter, die eben desintegrierend wirken, so dass Kinder mit einem Migrationshintergrund durch dieses System benachteiligt werden oder man mit einen migrantischen Nachnamen auf dem Wohnungsmarkt immer noch stark benachteiligt wird. Es müsste einen Antidiskriminierungs-Barometer geben, um deutlich zu machen, wodurch immer wieder Desintegrationsprozesse entstehen.
IslamiQ: Angesichts der starken Migrationsbewegungen, ist die „Integration“ die einzige Lösung?
Hess: Es wird in unseren hochkomplexen, globalisierten Gesellschaften immer Mobilität geben. Allein weil der Arbeitsmarkt das erfordert. Es wird sich immer die Frage stellen, wie sich gesellschaftlicher Zusammenhalt unter den Bedingungen von Differenz, Fragmentierung, etc. organisieren kann. Ist der Integrationsblick so klug und führt er uns weiter und hilft uns, den gesellschaftlichen Zusammenhalt unter der Grundvoraussetzung und Bedingung von Differenz zu organisieren? Denn Integration denkt erst mal, dass alles gleich sein muss.
IslamiQ: Sie beschreiben zwei Bedeutungsebenen, die eine Ebene als „Defizitansatz“ und Einforderung von Sonderleistungen von MigrantInnen, die andere als „Chancengleichheit“ und „Partizipation“. Wie ist die aktuelle Situation in Deutschland in diesem Rahmen einzuordnen? Auf welcher Ebene befindet sich Deutschland zurzeit hinsichtlich der „Integration“?
Hess: Der Defizitansatz ist eine Analyse des gesellschaftlichen Diskurses und der gesellschaftlichen Debatte. Ganz lange haben auch die Wissenschaften dazu beigetragen oder haben unter der Prämisse gearbeitet, MigrantInnen als Defizitmenschen wahrzunehmen. Als Menschen, die es vermissen lassen, gleiche kulturelle Umgangsweisen aufzuzeigen. Hierzu kommt oft die Vorstellung, dass die Menschen nur migrieren, weil sie arm und letztendlich gezwungen sind. Sie stellen sich vor, dass es Menschen aus dem Süden sind, aus patriarchalen Gesellschaften kommen. Das ist die gesellschaftliche Diskussion und Debatte, die Migration und MigrantInnen so konstruiert.
Statt Defizite müsste es vielmehr um Chancengleichheit. Man müsste sich fragen, wie es sich herstellen lässt, dass allen Menschen das gleiche gute Leben vergönnt wird. Meiner Meinung nach müsste es um Chancengleichheit, Partizipation und volle Rechte gehen. Vor allem um das Recht, dass jeder Mensch sein Leben dort führen kann, wo er es führen möchte. Hierbei aber trotzdem in den Genuss gleicher Rechte kommt und seine Rechte nicht verliert, nur weil er seinen Ort wechselt.
Dass sich der Nationalstaat jetzt als großer Wächter der Rechte aufschwingt, ist eine kurze Phase in unserer Geschichte und währt erst seit 150-200 Jahren. Man sollte sich die Frage stellen, warum wir das als so gegeben wahrnehmen, dass sich Rechte nur von der Nationalität her ableiten lassen.
In Deutschland haben es viele eingesehen, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt sich nur organisieren lässt, wenn man Menschen an der Gesellschaft teilhaben lässt. Bis in die SPD hinein ist die Einsicht z.T. durchgesickert, dass es nicht nur um Chancengleichheit für deutsche ArbeiterInnen, sondern auch von MigrantInnen geht – wobei die SPD gerade in Sachen große Koalition massiv einknickt vor einem zu tiefst nationalistischen Diskurs. Dazu gehört Hilfen für die Integration in dem Arbeitsmarkt, ein anderes Bildungssystem etc. Aber wenn wir uns die Realität anschauen, hinkt sehr vieles noch sehr weit hinterher. Das ist erschreckend, weil wir hierzulande ja nicht erst seit 2015 das erste Mal mit größeren Mengen von MigrantInnen zu tun haben.