Kopftuchverbote werden mit der Neutralität des Staates begründet. Ein Kopftuch ist laut Bundesverfassungsgericht jedoch nicht pauschal neutralitätswidrig. Prof. Dr. Stephan Muckel erklärt im IslamiQ-Interview warum das Kopftuch nach wie vor zu Problemen führt und was Neutralität wirklich bedeutet.
IslamiQ: Was ist mit der „religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates“ im Kontext von Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten konkret gemeint?
Prof. Dr. Stephan Muckel: Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates steht nicht im Grundgesetz. Sie ist daher umstritten, vieldeutig und nicht eindeutig. Einigermaßen gesichert ist, dass der Staat sich nicht mit einer bestimmten Religion oder Religionsgemeinschaft identifizieren darf. Also er darf sich nicht als evangelischer, katholischer oder islamischer Staat darstellen.
IslamiQ: Warum ist das Neutralitätsgebot so umstritten?
Muckel: Das Neutralitätsgebot ist umstritten, erstmal weil es mehrdeutig ist, weil es nirgendwo gesetzlich definiert ist und weil es zur Ideologie anfällig ist. Was genau Neutralität bedeutet, kann ja schon außerhalb juristischen Sprachgebrauchs nur schwer gesagt werden. Darüber hinaus hat jeder ein Vorverständnis von Neutralität. Wenn dieses Vorverständnis noch politisch unterfüttert ist, dann ist das Ganze sehr komplex.
IslamiQ: Das Kopftuch und das Neutralitätsgebot. Immer wieder wird behauptet, dass sie nicht vereinbar seien. Kann man das so pauschal sagen?
Nein, ich glaube nicht an die Unvereinbarkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer früheren Entscheidung zum Ausdruck gebracht, dass der Gesetzgeber zum Schutze der Neutralität vorsehen kann, religiös-konnotierte Kleidungsstücke zu verbieten. In einer jüngeren Entscheidung von 2015, die immer noch gilt, hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass es keinen generellen Verstoß gegen das Neutralitätsgesetz darstellt, wenn eine Lehrerin ein Kopftuch trägt. Es kommt auf den Einzelfall an. Eine Lehrerin kann sich neutralitätswidrig verhalten, wenn sie versucht die Schüler zum Islam zu bekehren. Man kann aber nicht pauschal annehmen, dass ein Kopftuch Neutralitätswidrigkeit ausdrückt.
IslamiQ: Sie haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Jahr 2015 angesprochen. In Folge dieses Urteils haben viele Bundesländer ihre Gesetze dann auch angepasst und das Neutralitätsgebot in den jeweiligen Bundesländern gekippt, aber vier Bundesländer nicht. Warum leisten die Bundesländer nicht dem Urteil Folge?
Muckel: Das kann man so nicht sagen. Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht mit der Entscheidung im Jahre 2015 auch nur einen einzigen Satz aus der sehr komplexen Bestimmung des Schulgesetzes von NRW für verfassungswidrig erklärt und im Übrigen gemeint, die Regelung könne verfassungskonform ausgelegt werden. Wenn beispielsweise ein Kopftuch aus Gründen der Neutralität untersagt wird, kann es so verstanden werden, dass religiös-konnotierte Kleidung untersagt werden kann, wenn die betreffende Person die Neutralität durch ihr gesamtes Verhalten gefährdet. Diese Interpretation die zwar sehr weit geht aber die ja durchaus möglich ist, wird in den Ländern als eine Möglichkeit gesehen.
IslamiQ: In Berlin wird das Neutralitätsgebot immer wieder auf die Probe gestellt. Aktuell wieder von einer Grundschullehrerin, die an eine Berufsschule versetzt wurde, weil sie ihr Kopftuch nicht ablegen wollte. Wie schätzen sie das Neutralitätsgebot in Berlin generell ein?
Muckel: Das Neutralitätsgebot, so wie es auf dem Papier steht, ist mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht vereinbar. Denn da steht klar drin, dass in bestimmten Tätigkeiten Staatsbediensteten bestimmte Kleidungsstücke generell untersagt sind. Das ist genau das wovon sich das Bundesverfassungsgericht 2015 verabschiedet hat und hat gemeint, es kommt auf den Einzelfall an. Wenn jemand sich neutralitätswidrig verhaltet, dann kann es untersagt werden. Und auch die Bestimmungen des Berliner Neutralitätsgesetzes müssen dem gemäß interpretiert werden, also verfassungskonform ausgelegt werden. Das Kopftuch kann nur dann untersagt werden, wenn im Einzelfall neutralitätswidrig gehandelt wird.
Neutralität vs. Kopftuch?! Was sagen Experten und Betroffene dazu? Wir haben nachgefragt, die Antworten sind im #IslamiQfragt Video:
IslamiQ: Nach ihrer Auffassung fällt das alleinige Tragen eines Kopftuchs also nicht unter neutralitätswidriges Handeln?
Muckel: Exakt. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, allein das Kleidungsstück reicht nicht aus. Es ist nun mal so, dass eine Lehrerin im staatlichen Schuldienst nicht nur den Staat repräsentiert sondern auch Grundrechtsträgerin ist. Das gilt auch für jeden, der ein Kreuz am Hals tragen oder religiösen Symbole zum Ausdruck bringen möchte. Jede/r hat ein Anspruch drauf die Glaubens- und Religionsfreiheit leben zu dürfen. Auch im staatlichen Raum. Deshalb müssen die Dinge miteinander in Einklang gebracht werden. Aus diesem Grund scheint es mir richtig zu sagen, dass das Bundesverfassungsgericht sagt, dass es auf den Einzelfall ankommt. Wenn also eine Lehrerin zu Missionieren beginnt, kann man sagen, dass es zu weit geht.
IslamiQ: Was würden Sie Frauen, die von dem Kopftuchverbot an Schulen betroffen sind, raten?
Muckel: Den Rechtsweg zu bestreiten ist natürlich immer eine Frage, die jeder mit sich selber ausmachen muss. Es kostet Zeit und Geld. Beispielsweise eine Studentin in Berlin, die sich im Moment im zweiten oder dritten Semester befindet und noch vier bis sechs Jahre in der Ausbildung ist, braucht sich vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Sorgen zu machen. In den nächsten Jahren wird sich auch in Berlin die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durchsetzen. Nämlich des Inhalts, dass pauschale Verbote gegen die Religionsfreiheit und gegen die Diskriminierungsgebote des Grundgesetzes verstoßen.
IslamiQ: Weg von Berlin, hin zu dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Dieser hat letztes Jahr entschieden, dass das Tragen des Kopftuchs am Arbeitsplatz unter Umständen verboten werden darf, wenn es „gute Gründe“ gibt. Viele Musliminnen haben nun die Sorge, dass Arbeitgeber willkürlich handeln können. Ist diese Sorge begründet?
Muckel: Zunächst einmal richten sich die zwei Entscheidungen nicht unmittelbar an alle Muslime. Da es sich um einen belgischen und einen französischen Fall handelt, hat es für Deutschland ohnehin nur eine mittelbare Bedeutung. Es betrifft die Interpretation der Antidiskriminierungsrichtlinie. Der Gerichtshof hat verhältnismäßig zurückhaltend entschieden. Er hat gesagt, da wo Kundenkontakt besteht, kann es in Betracht gezogen werden, dass Verbote ausgesprochen werden, etwa wenn Kunden Anstoß nehmen. Außerdem hat er großen Wert draufgelegt, dass in einem Unternehmen eine Neutralitätspolitik korrekt und systematisch durchgeführt wird. Schließlich hat der EuGH in diesem Fall gesagt, dass es entscheidend darauf ankommt, ob die betreffende Person an einer anderen Stelle, etwa ohne Kundenkontakt, im Unternehmen noch verwendbar ist.
IslamiQ: Der Arbeitgeber kann und soll also zunächst einmal eine Umpositionierung des Arbeitnehmers innerhalb des Unternehmens in Betracht ziehen.
Muckel: Ganz genau. Das war in dem einen konkreten Fall nicht überprüft wurden, deshalb musste dieser nochmal vom Gericht aufgearbeitet werden. Mir scheint es, dass ziemlich klare rote Linien gezogen wurden sind, so dass ich für Willkür keinen Anwendungsbereich finde.
Das Interview führte Esra Ayari.