In der Hauptstadt verhindert das sogenannte Neutralitätsgesetz, dass u.a. kopftuchtragende Lehrerinnen an staatlichen Schulen nicht unterrichten dürfen. Juristin Zeynep Çetin von Inssan e.V. unterstützt beratend betroffene Musliminnen und berichtet von ihren Erfahrungen.
IslamiQ: Was genau schreibt das Neutralitätsgesetz in Berlin vor? Welche Konsequenzen hat es für Lehrerinnen, die mit einem Kopftuch unterrichten möchten?
Zeynep Çetin: Das sogenannte Berliner Neutralitätsgesetz schreibt Beamten und Angestellten aus den Bereichen der Rechtspflege, des Justizvollzugs, der Polizei sowie Lehrkräften an öffentlichen Schulen vor, dass sie keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole und keine auffallend religiös geprägten Kleidungsstücke tragen dürfen. Nach der Regelung im Gesetz ist es Lehrerinnen beispielsweise verboten mit einem Kopftuch zu unterrichten. Eine Ausnahme hiervon macht das Gesetz für Berufsschulen.
IslamiQ: Dürfen also Schulleiter Lehrerinnen, die sich um eine Stelle bewerben aufgrund des Kopftuches ablehnen? Oder greift hier das Antidiskriminierungsgesetz?
Çetin: Nein das dürfen sie nicht. Die Ablehnung verletzt die Lehrerin in ihrem Grundrecht auf Glaubensfreiheit, Art. 4 Grundgesetz (GG). Wird eine Lehrerin pauschal aufgrund des Kopftuches abgelehnt, stellt dies auch eine unmittelbare Benachteiligung wegen ihrer Religion dar, die das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet. Nach § 7 AGG ist nämlich eine Benachteiligung unter anderem wegen der Religion untersagt.
IslamiQ: Hat sich an der Rechtslage für muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch in Berlin durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2015 etwas geändert?
Çetin: Leider nicht. Das sogenannte Berliner Neutralitätsgesetz wurde nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) nicht geändert, wie es in anderen Bundesländern zum Teil der Fall war. Es ist noch geltendes Recht. Das Land Berlin weigert sich vehement es zu ändern bzw. zu streichen. Es hatte Veranlassung gehabt, das Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Auch der wissenschaftliche Parlamentsdienst des Berliner Abgeordnetenhauses war in seinem Gutachten unmittelbar nach der Entscheidung des BVerfG zu dem Ergebnis gekommen, dass die Verbotsregelung zumindest für Lehrkräfte geändert werden müsse.
IslamiQ: Wie stehen die Chancen für Lehrerinnen gegen das Kopftuchverbot juristisch vorzugehen?
Çetin: Die Chancen stehen sehr gut. Die anfangs beschriebene Verbotsregelung verbietet das Tragen von religiös geprägten Kleidungsstücken, ohne dies von weiteren Voraussetzungen, wie z.B. vom Vorliegen einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden, wie es das BVerfG fordert, abhängig zu machen und stellt damit ein pauschales „Kopftuchverbot“ dar und ist somit verfassungswidrig. Auch das Landesarbeitsgericht Berlin gab der klagenden Lehrerin Recht und verlangte vom Land eine verfassungskonforme Auslegung, d.h. dass ein räumliches und zeitliches Verbot nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr möglich ist. Jede qualifizierte Frau, die sich um Einstellung in den Schuldienst bewirbt und ohne plausiblen Grund abgelehnt wird, sollte klagen.
IslamiQ: Wie viele Frauen betreuen Sie aktuell, die gegen das Verbot klagen? Und wie viele sind es Ihrer Einschätzung nach insgesamt gewesen seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts?
Çetin: Derzeit werden vier Klagen vor dem Arbeitsgericht Berlin verhandelt. Seit dem Urteil des BVerfG hat eine Lehrerin geklagt und dann nach 1 ½ Jahren in zweiter Instanz vor dem Landesarbeitsgericht Berlin Recht bekommen, eine weitere Klientin hat sich in der Güteverhandlung vor Gericht verglichen und fast 7000 € Entschädigung bekommen.
IslamiQ: Was empfehlen Sie Frauen, die von dem „Kopfuchverbot“ betroffen sind, an wen sollen Sie sich wenden?
Çetin: Sie sollen sich bitte beim Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit wenden, wo ich auch als Projektleiterin tätig bin. Es ist eine staatlich geförderte Anlauf- und Beratungsstelle von Inssan e.V. Insbesondere in diesen Fällen beraten wir in einem engen Unterstützerkreis bestehend aus Rechtsanwältin Maryam Haschemi und dem Antidiskriminierungsnetzwerk des Türkischen Bundes in Berlin die betroffenen Frauen.
IslamiQ: Welche Motive bewegen Sie zu ihrer Arbeit mit muslimischen Lehrerinnen?
Çetin: Als Unterstützer_innen und Akteur_innen in der Antidiskriminierungsberatung setzen wir uns seit Jahren für mehr Gleichberechtigung und Teilhabe und gegen Diskriminierung von Muslim_innen ein. Das gesetzliche „Kopftuchverbot“ für Lehrerinnen hat für die Diskriminierung von kopftuchtragenden Frauen in unserer Gesellschaft eine große Signalwirkung. Das Verbot steht auch in einem Spannungsverhältnis zum Gebot der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen.
Die erste in Berlin klagende Lehrerin bewarb sich um Einstellung in der Hoffnung, die Bildungsverwaltung werde die Entscheidung des BVerfG berücksichtigen. Die Frauen wollen nicht mehr länger von der qualifizierten beruflichen Tätigkeit als Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen ferngehalten werden und fordern einen gleichberechtigten Platz an staatlichen Schulen.
IslamiQ: Sie beraten und begleiten muslimische Frauen während des Rechtsweges, wie erleben Sie die Klägerinnen?
Çetin: Es sind sehr starke Frauen!
Die Interviews führten Meryam Saidi und Esra Ayari.