Berliner Neutralitätsgesetz

„Musliminnen fordern einen gleichberechtigten Platz“

In der Hauptstadt verhindert das sogenannte Neutralitätsgesetz, dass u.a. kopftuchtragende Lehrerinnen an staatlichen Schulen nicht unterrichten dürfen. Juristin Zeynep Çetin von Inssan e.V. unterstützt beratend betroffene Musliminnen und berichtet von ihren Erfahrungen.

10
03
2018
Juristin Zeynep Çetin von Inssan e.V. © Inssan e.V./facebook
Juristin Zeynep Çetin von Inssan e.V. © Inssan e.V./facebook

IslamiQ: Was genau schreibt das Neutralitätsgesetz in Berlin vor? Welche Konsequenzen hat es für Lehrerinnen, die mit einem Kopftuch unterrichten möchten?

Zeynep Çetin: Das sogenannte Berliner Neutralitätsgesetz schreibt Beamten und Angestellten aus den Bereichen der Rechtspflege, des Justizvollzugs, der Polizei sowie Lehrkräften an öffentlichen Schulen vor, dass sie keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole und keine auffallend religiös geprägten Kleidungsstücke tragen dürfen. Nach der Regelung im Gesetz ist es Lehrerinnen beispielsweise verboten mit einem Kopftuch zu unterrichten. Eine Ausnahme hiervon macht das Gesetz für Berufsschulen.

IslamiQ: Dürfen also Schulleiter Lehrerinnen, die sich um eine Stelle bewerben aufgrund des Kopftuches ablehnen? Oder greift hier das Antidiskriminierungsgesetz?

Çetin: Nein das dürfen sie nicht. Die Ablehnung verletzt die Lehrerin in ihrem Grundrecht auf Glaubensfreiheit, Art. 4 Grundgesetz (GG). Wird eine Lehrerin pauschal aufgrund des Kopftuches abgelehnt, stellt dies auch eine unmittelbare Benachteiligung wegen ihrer Religion dar, die das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet. Nach § 7 AGG ist nämlich eine Benachteiligung unter anderem wegen der Religion untersagt.

Zeynep Çetin ist Projektleiterin bei dem Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit (Inssan e.V.). Inssan e.V. unterstützt beratend die Klagen der muslimischen Lehrerinnen in Berlin. Mit dem Antidiskriminierungsnetzwerk des Türkischen Bundes Berlin Brandenburg (ADNB des TBB) sowie der Juristin Maryam Haschemi bilden sie einen engen Unterstützerkreis. Auch ist Inssan e.V. in anderen Initiativen aktiv, die sich gegen die Abschaffung bzw. Streichung der Verbotsregelung im sog. Neutralitätsgesetz engagieren.Zeynep Çetin ist auch als Juristin in der rechtlichen Beratung der betroffenen Frauen involviert.

IslamiQ: Hat sich an der Rechtslage für muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch in Berlin durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2015 etwas geändert?

Çetin: Leider nicht. Das sogenannte Berliner Neutralitätsgesetz wurde nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) nicht geändert, wie es in anderen Bundesländern zum Teil der Fall war. Es ist noch geltendes Recht. Das Land Berlin weigert sich vehement es zu ändern bzw. zu streichen. Es hatte Veranlassung gehabt, das Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Auch der wissenschaftliche Parlamentsdienst des Berliner Abgeordnetenhauses war in seinem Gutachten unmittelbar nach der Entscheidung des BVerfG zu dem Ergebnis gekommen, dass die Verbotsregelung zumindest für Lehrkräfte geändert werden müsse.

IslamiQ: Wie stehen die Chancen für Lehrerinnen gegen das Kopftuchverbot juristisch vorzugehen?

Çetin: Die Chancen stehen sehr gut. Die anfangs beschriebene Verbotsregelung verbietet das Tragen von religiös geprägten Kleidungsstücken, ohne dies von weiteren Voraussetzungen, wie z.B. vom Vorliegen einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden, wie es das BVerfG fordert, abhängig zu machen und stellt damit ein pauschales „Kopftuchverbot“ dar und ist somit verfassungswidrig. Auch das Landesarbeitsgericht Berlin gab der klagenden Lehrerin Recht und verlangte vom Land eine verfassungskonforme Auslegung, d.h. dass ein räumliches und zeitliches Verbot nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr möglich ist. Jede qualifizierte Frau, die sich um Einstellung in den Schuldienst bewirbt und ohne plausiblen Grund abgelehnt wird, sollte klagen.

IslamiQ: Wie viele Frauen betreuen Sie aktuell, die gegen das Verbot klagen? Und wie viele sind es Ihrer Einschätzung nach insgesamt gewesen seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

Çetin: Derzeit werden vier Klagen vor dem Arbeitsgericht Berlin verhandelt. Seit dem Urteil des BVerfG hat eine Lehrerin geklagt und dann nach 1 ½ Jahren in zweiter Instanz vor dem Landesarbeitsgericht Berlin Recht bekommen, eine weitere Klientin hat sich in der Güteverhandlung vor Gericht verglichen und fast 7000 € Entschädigung bekommen.

IslamiQ: Was empfehlen Sie Frauen, die von dem „Kopfuchverbot“ betroffen sind, an wen sollen Sie sich wenden?

Çetin: Sie sollen sich bitte beim Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit wenden, wo ich auch als Projektleiterin tätig bin. Es ist eine staatlich geförderte Anlauf- und Beratungsstelle von Inssan e.V. Insbesondere in diesen Fällen beraten wir in einem engen Unterstützerkreis bestehend aus Rechtsanwältin Maryam Haschemi und dem Antidiskriminierungsnetzwerk des Türkischen Bundes in Berlin die betroffenen Frauen.

IslamiQ: Welche Motive bewegen Sie zu ihrer Arbeit mit muslimischen Lehrerinnen? 

Çetin: Als Unterstützer_innen und Akteur_innen in der Antidiskriminierungsberatung setzen wir uns seit Jahren für mehr Gleichberechtigung und Teilhabe und gegen Diskriminierung von Muslim_innen ein. Das gesetzliche „Kopftuchverbot“ für Lehrerinnen hat für die Diskriminierung von kopftuchtragenden Frauen in unserer Gesellschaft eine große Signalwirkung. Das Verbot steht auch in einem Spannungsverhältnis zum Gebot der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen.

Die erste in Berlin klagende Lehrerin bewarb sich um Einstellung in der Hoffnung, die Bildungsverwaltung werde die Entscheidung des BVerfG berücksichtigen. Die Frauen wollen nicht mehr länger von der qualifizierten beruflichen Tätigkeit als Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen ferngehalten werden und fordern einen gleichberechtigten Platz an staatlichen Schulen.

IslamiQ: Sie beraten und begleiten muslimische Frauen während des Rechtsweges, wie erleben Sie die Klägerinnen?

Çetin: Es sind sehr starke Frauen!

Die Interviews führten Meryam Saidi und Esra Ayari. 

 

Leserkommentare

Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel (Ihr Post vom 19.03.18, 7:24) -- "Was ist ihrer Meinung nach eine Weltanschauungsgemeinschaft im Sinne des Gleichbehandlungsrechts?" (Ute Fabel) Schauen Sie doch einfach in unsere Verfassung. Das beantwortet ihre Frage. Geregelt sind diese Dinge bei uns in Art. 4 GG ("Religionsfreiheit") und Art. 140 GG ("Religionsverfassungsrecht"). Die einzige Unterscheidung, die die deutsche Verfassung juristisch macht, ist folgende: Erklärt sich eine Gruppierung die Welt a) religiös oder b) areligiös? Im Fall a) handelt es sich juristisch dann um eine "Religionsgemeinschaft" und im Fall b) juristisch um eine "Weltanschauungsgemeinschaft." Als "Weltanschauungsgemeinschaften" gelten Gruppierungen, die sich der Pflege eines nichtreligiösen Weltbilds widmen. So ist beispielsweise der "HDV" ( = "Humanistischer Verband Deutschland") juristisch als Weltanschauungsgemeinschaft anerkannt, da er sich die Pflege eines nichtreligiösen Weltbilds zur Aufgabe macht. Parteien fallen nicht darunter. Deren Aufgabe ist nicht die Propagierung eines religiösen oder nichtreligiösen Weltbilds, sondern die Gestaltung des Gemeinwesens auf verschiedenen Ebenen (wirtschaftlich, sozial, etc.) Der juristische Status von Parteien ist ein anderer als der einer "Religionsgemeinschaft" oder einer "Weltanschauungsgemeinschaft." Aber auch das lässt sich alles sehr einfach mit ein wenig Recherche im Netz erfahren. Man muss so eine Diskussion nicht künstlich am Laufen halten. Man muss nicht durch absurde Pirouetten über Selbstverständlichkeiten diskutieren. Nachts ist es dunkel. Und tagsüber hell.
20.03.18
13:05
Ute Fabel sagt:
Berlin wäre gut beraten, das Neutralitätsgesetz entschlossen gegen die rein ideologisch motivierten Lobby-Attacken des Inssan e.V.zu verteidigen, die auf Sonderbehandlung abzielen. In Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht geschrieben: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Politische Anschauungen haben nach der deutschen Verfassung den exakt gleichen Stellenwert wie religiöse Anschauungen: Wenn Berliner Beamtinnen islamische Kopftücher gestattet werden, dann muss man der Gleichbehandlung wegen Berliner Beamten auch erlauben, im Dienst auch AfD-Abzeichen, Che-Guevara-Shirts, angesteckte rote Nelken, Burschenschafterbänder, Mao-Anzüge, FDJ-Blauhemden, Mustafa-Kemal-Atatürk-Hüte oder rote Shirts mit Hammer-und-Sichel-Emblem zu tragen. Das konsequente optische Neutraliätsprinzip ist klar die salomonische diskriminierungsfreie Lösung, die zwar von allen das gleiche abverlangt, aber allen einen gleichberechtigten Platz einräumt.
20.03.18
13:35
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel Das Neutralitätsprinzip des Staates ist nirgendwo exakt definiert und gesetzlich festgeschrieben. Politische Anschauungen gelten bei uns nicht als "Weltanschaung." Da ist unsere Verfassung eindeutig! (Art. 4 GG "Religionsfreiheit" und Art. 140 GG "Religionsverfassungsgesetz"). Deshalb kann der Arbeitgeber politische Symbole verbeten, religiöse jedoch nicht. Das ist verfassungskonform. Sollten Sie anderer Meinung sein, dann verklagen sie doch den deutschen Staat. Wenn nicht, dann müssen sie schlicht die Tatsachen akzeptieren. Und das "Neutralitätsprinzip" steht nicht über anderen Gesetzen, schon gar nicht über den Grundrechten. Und das "Neutralitätsprinzip" ist nicht dazu da, instrumentalisiert zu werden gegen andere Gesetze oder gar gegen Grundrechte. Das haben in den vergangenen Wochen hier 2 Verfassungsrechtler ausführlich erläutert. Was aber manche nicht davon abhält, die gleichen wiederholt widerlegten Argumente wiederzukäuen. Das Berliner Neutralitätsgesetz wird früher oder später in Karlsruhe landen. Und dann werden wir ja sehen, wie es ausgeht. Und bis dahin kann man sich die Diskussion sparen, da die unterschiedlichen Standpunkte längst wiederholt ausgetauscht sind.
22.03.18
8:58
all-are-equal sagt:
@ Hr. Disch: "Deshalb kann der Arbeitgeber politische Symbole verbieten, religiöse jedoch nicht" Das widerspricht doch glatt dem Artikel 3 Absatz 3 GG (untersagt Benachteiligung und Bevorzugung wegen der religiösen oder politischen Anschauungen). Mir scheint, Sie picken sich aus dem Grundgesetz die Bestimmungen heraus, die ihre Devise "Kopftuch immer und überall" in den Kram passen. Andere gleichrangige Verfassungsbestimmungen lassen gerne mal unter den Tisch fallen.
22.03.18
12:45
Kritika sagt:
L.S. Aufmacher dieses Beitrags: „Musliminnen fordern einen gleichberechtigten Platz“ Kritika meint: sie HABEN einen "gleichberechtigten Platz“ Alles das, wass MuslimFrauen in Berlin unter gleichen Bedingungen erlaubt oder untersagt ist, gilt auch für auch für normale Frauen. Also: wozu denn die Aufregung? Gruss, Kritika
22.03.18
23:30
Kritika sagt:
Herr Disch schreibt « «Und die Vorstellung, eine Lehrkraft mit einem religiösen Symbol würde unsere kleinen und größeren Schüler automatisch wehrlos indoktrinieren wirft auch ein schlechtes Licht darauf, wie wenig Menschen, die so argumentieren, unseren Schülern zutrauen. Ja sicher, die kopftuchtragende Lehrerin erscheint-- und prompt rezitieren die Schüler wie von Zauberhand gesteuert die "Shahada" (= Das islamische Glaubensbekenntnis) und konvertieren geschlossen zum Islam. » Sollte das nun Humor, Häme; oder witzig oder Ironie sein? Das können andere besser. Sachlich fundierte Kritik war bisher Ihr Markenzeichen Sie sollten solche Epistel lassen, Wenn Sie geschwiegen hätten wären Sie Weise geblieben. Gruss, Kritika
22.03.18
23:55
Johannes Disch sagt:
@all-are-equal (Ihr Post vom 22.03.18, 12:45) Ich picke mir gar nix raus aus dem GG. Ich erläutere die Rechtslage und die Praxis nach unserer Verfassung hinsichtlich dessen, was bei uns als "Weltanschauung"/"Weltanschauungsgemeinschaft" gilt und was nicht. Warum politische Symbole verboten können und religiöse nicht. Wenn Sie der Meinung sind, diese Regel verstößt gegen unsere Verfassung, dann haben auch Sie die Möglichkeit, den deutschen Staat zu verklagen.
24.03.18
19:32
Johannes Disch sagt:
@all-are-equal (Ihr Post vom 22.03.18, 12:45) --"...die ihrer Devise "Kopftuch immer und überall" in den Kram passen." (all-are-equal) Diese Devise habe ich nie vertreten.
24.03.18
19:36
Manuel sagt:
@Johannes Disch: Sicher, Sie wollen immer und überall das Kopftuch durchsetzen, ihnen passt nicht das Berliner Neutralitätsgesetz und Sie haben ständig was gegen einen konsequenten Laizismus. Ich hoffe nur, dass Karlsruhe irgendwann mal das islamische Kopftuch auch als politisches Symbol sieht, denn dann ist ein Verbot vollkommen legitim.
25.03.18
18:40
Ute Fabel sagt:
"Und diese Dinge-- Diskriminierung und Berufsverbot-- sind nicht hinnehmbar und für eine demokratische Gesellschaft im 21. Jahrhundert beschämend!" Kopftücher sind nicht angewachsen, sondern kann man sie problemlos abnehmen, genauso wie man Salafistenbärte abrasieren kann. Der unnachgiebige religiöse Dogmatismus ist der wahre Feind von beruflichen Karrieren. Diese verbohrte Geisteshaltung sollte daher entschlossen bekämpft werden. Nicht der Staat und private Arbeitgeber sollten dazu genötigt werden, sich der engstirnigen religiösen Bekleidungsdoktrin einer religiösen Gruppe zu unterwerfen.
26.03.18
11:06
1 2 3 4 5