Rassismus, Hass und Vorurteile umringen uns. Wie können wir Vorurteilen entgegentreten und wie entstehen sie überhaupt? Ismail Karadöl versucht in die Mechanismen der Vorurteilsbildung zu blicken und sie zu brechen. Ein Gastbeitrag.
Es ist mitten in der Nacht und du kannst nicht schlafen. Du stellst dich vor das Fenster deines Zimmers und wirfst einen Blick auf die Straße. Plötzlich bemerkst du einen Transporter, der auf den Gehweg fährt und dort stoppt. Ein Mann steigt aus dem Wagen, geht in Richtung Hauswand, greift sich dort ein Fahrrad, hebt es hoch. STOP! Wir drücken jetzt mal kurz auf unsere mentale Pause-Taste. Was meinst du, was da gerade passiert?
Was ich beschrieben habe, ist ein wahres Erlebnis. Aber die Geschichte geht noch weiter. Es ist schon lange her, da hörte ich tief in der Nacht, mitten im Schlaf, nebenan im Zimmer meinen Vater lauthals schreien: „Fahrraddieb“, „Polizei“! Er hat nämlich genau das gesehen, wovon ich berichtet habe. Er dachte sich: „Das gibt´s doch nicht. Da will jemand unbemerkt im Dunkeln Fahrräder klauen. Ich muss was tun“.
Das hat ihm zumindest sein Gehirn so vorgespielt. Denn unser Gehirn ist ein zuverlässiger Produzent von kleinen Filmchen. Es reichen ihm meist nur 2-3 Bilder, um daraus einen Film zu machen. Aus der Perspektive des Schutzes für einen Menschen bietet das natürlich Vorteile. Aber das ist nichts Neues. Wir bilden uns ständig unsere ganz eigene Meinung über die Dinge, die wir wahrnehmen, und handeln nach diesen Urteilen.
Die meisten denen ich diese Geschichte erzähle, denken wie mein Vater. Und viele würden ähnlich handeln, denn der Mensch hat einen angeborenen Gerechtigkeitssinn. Aber was passiert, wenn der Drang, Gerechtigkeit walten zu lassen, zu einer Ungerechtigkeit führt? Jedenfalls war es in Wirklichkeit nicht so wie mein Vater es in dem Moment vorgespielt bekommen hat. Wir drücken wieder auf die Play-Taste und sehen mal, wie es weiter geht.
Der Mann mit dem Fahrrad in der Hand geht bis zum Straßenrand und stellt es dort ab. Er steigt wieder in seinen Van, fährt damit ein Stück auf dem Bürgersteig und parkt in eine Ecke, die er nur über den Gehweg erreichen kann. Steigt dann wieder aus, nimmt das Fahrrad vom Straßenrand und stellt es wieder dorthin, wo es anfangs gestanden hat. Er geht unbeeindruckt von meinem Vater zur Haustür seiner Wohnung. Mein Vater staunt und macht gesenkten Hauptes das Fenster zu.
Der Mann war also kein Fahrraddieb, sondern ein neuer Nachbar, den mein Vater noch nicht kannte. Dieser Nachbar hatte nach seiner Spätschicht keinen Parkplatz gefunden und wollte sein Fahrzeug in eine freie Ecke auf dem Bürgersteig stellen. Doch konnte er nicht zwischen Hauswand und Baum durchfahren, da dort ein Fahrrad stand. Deshalb hat er es vorsichtig beiseite gestellt, ist durchgefahren und hat es dann wieder zurückgestellt.
Wir schließen aus einem Schutzmechanismus viel zu schnell und viel zu voreilig auf Dinge, die nicht der Realität entsprechen. Es sind unsere Gefühle, die in diesem Moment die Oberhand übernehmen. Nicht selten ist es die Angst in uns. Unsere Sorgen und Befürchtungen. Angetrieben von ihnen dichten wir uns mit schnellen Vorurteilen unsere eigene Meinung zusammen und handeln auch danach.
Wäre es oft nicht besser, wir würden ein wenig abwarten und sehen, was passiert? Wäre es nicht besser, wenn wir erst einmal klar über die Situation nachdenken, bevor wir unsere Meinung bilden und handeln?
Was wäre noch hilfreich, um Vorurteile auszuräumen und sich eine gesunde Meinung von Menschen in unserem Umfeld zu bilden? Natürlich, die Beziehung zu den Menschen. So, wie wir im Dunkeln sehr vorsichtig sind, weil wir die Lage nicht einschätzen können, uns vorstellen, wie wir jederzeit gegen eine Wand laufen oder eine Treppe hinunterstürzen, so ist es auch in unseren Beziehungen, wenn wir andere im Dunkeln über uns lassen. Sie werden sich uns nur sehr vorsichtig nähern. Was aber, wenn jetzt auf einmal das Licht angeknipst wird und man sehr klar sehen kann, wohin der Weg führt?
„Wo Informationen fehlen, machen sich Gerüchte breit“, sagt ein bekanntes Sprichwort. Oder an unser Thema angepasst: „Wo Bekanntschaften fehlen, machen sich Vorurteile breit“.
Was wäre, wenn mein Vater diesen neuen Nachbarn gekannt hätte, ihn zumindest mal gegrüßt hätte oder wenigstens wahrgenommen hätte, dass dieser neu in die zweite Etage des gegenüberliegenden Hauses eingezogen ist? Ich bin mir sicher, dann hätte sich mein Vater in jener Nacht etwas entspannter verhalten. Ja, er hätte die Situation beobachtet, aber keine voreiligen Schlüsse gezogen.
Auch wir Muslime sind u. a. wegen unseres Glaubens ständig Vorurteilen ausgesetzt. Einige von uns haben sehr hart damit zu kämpfen, egal ob im beruflichen Alltag, in der Schule oder in der Straßenbahn.
Aber was machen wir? Uns nur beschweren, wie gemein doch alle sind, oder endlose Diskussionen darüber führen, welchen Beitrag die Medien oder Politiker zum Keimen dieser Vorurteile geleistet haben? Nein, wir packen unsere Taschenlampen aus und bringen Licht ins Dunkle. Wir tun das, was wir als Mensch am besten können:
Du wirst sehen, dass das beste Mittel gegen Vorurteile in einer Gesellschaft eine gesunde Beziehung zu deinen Mitmenschen ist.