Eine Reise nach Jerusalem ist für viele Muslime ein langersehnter Wunsch. Ümmü Selime Türe begab sich auf diese Reise und berichtet von ihren unvergesslichen Begegnungen.
Vor einem Jahrzehnt war für mich eine Reise nach Jerusalem noch unvorstellbar. Es hieß immer: zu gefährlich und zu unsicher. Nachdem mir ein paar Freunde von ihrer Reise nach Jerusalem berichteten, wollte ich nicht mehr warten. Und trotzdem wurde ich, als einige Wochen vor unserer Abreise nach Jerusalem mich sehr viele fragten, ob ich tatsächlich hinreisen möchte, wieder unsicher. Besonders die aktuelle politische Lage löste bei vielen ein Unbehagen aus. Doch ich wollte mir selbst ein Bild machen.
In Tel Aviv am Flughafen angekommen begeben wir uns in Richtung Ausgang. Am Ende der langen Halle, die uns zur Passkontrolle führt, gehen manche Reisende rechts zu einer Wand und küssen die Thora Rolle. Das bemerke ich erst, als mir bewusst wird, dass ich knapp davor stehe und den Weg blockiere. So mache ich den Weg frei und begebe mich in Richtung Passkontrolle. Das Warten in einem gesonderten Raum und die üblichen Fragen von verschiedenen Beamten zu hören, fühlt sich fast schon „normal“ an. Endlich kriegen wir unser Visum und einer von den Beamten verabschiedet uns auf Deutsch mit „herzlich willkommen“.
Wie oft habe ich schon von dieser Stadt gehört und wie oft Geschichten über Propheten gelesen, mir Anekdoten erzählen lassen und Filme angeschaut, so dass mir Jerusalem fast wie eine Märchenstadt vorkommt. Erst kurz vor der Reise realisiere ich, in was für eine historische und epochale Stadt ich reisen werde. Von unserem Hotel aus dauert es nur einige Gehminuten in die Altstadt. Auf dem Weg dorthin sehen wir den Verkehr und erleben gleich einen Crash-Kurs in Sachen Apartheid: die blauen Busse sind für die JüdInnen, die weißen Busse sind für die MuslimInnen. Sogar die Autokennzeichen sind farblich unterschiedlich.
Die Altstadt ist unterteilt in vier Viertel: christlich, muslimisch, armenisch und jüdisch. Schlendert man durch die Straßen, sieht man alle Glaubensrichtungen eng beieinander. Diese Nähe ist ergreifend, aber umso erstaunlicher die politische Situation.
In die Altstadt gehen wir durch das berühmte Damaskus-Tor hinein, wo die meisten Proteste stattfinden. Was uns auffällt, ist die starke Dominanz der Sicherheitskräfte der israelischen Regierung. Von Scharfschützen bis Dutzende von bewaffneten Soldaten prägen die Straßen der Altstadt. Damit es zu keinen Komplikationen kommt, haben wir unseren Pass und Visum ständig dabei.
Nachdem wir endlich in die Altstadt gehen, versetzt mich die die architektonische Konstruktion der historischen Altstadt in eine andere Zeit. Jede Gasse, jedes Eck verbirgt eine Information aus der Vergangenheit, so reich ist die Altstadt. Es ist ein Wechselbad zwischen Kulturen, Glauben und Zeit, und man wird verzaubert von so vielen unterschiedlichen Reizen. Wir wandern durch Via Dolorosa – den Leidensweg – und erreichen die Grabstätte des Propheten Jesus im christlichen Viertel. Ein Pilgerort für die Christen weltweit. Danach geht es Richtung Tempelberg, zum ‚dome of the rock‘.
In der Altstadt führt der Weg von einem Ort zum anderen immer wieder zu einer verborgenen Sehenswürdigkeit. Auf dem Weg zur Masdschid al-Aksâ möchten wir die Klagemauer besuchen, jedoch dürfen wir – aus welchem Grund auch immer – nicht hinein. Geht man hier die Treppen hinunter, gelangt man zur Klagemauer. Oben auf den Treppen, wo man die Klagemauer vor sich hat, hat man den Masdschid al-Aksâ im Hintergrund. Dort sehe ich sie auch zum ersten Mal in ihrer vollen Pracht. Die goldene Kuppel glänzt und die Sonne strahlt.
Am Tempelberg angekommen, werden wir selbstverständlich am Tor von Sicherheitskräften kontrolliert. Man fragt uns, woher wir kommen und ob wir Flaggen dabei haben, denn Palästina-Flaggen sind strikt verboten. Nach der Kontrolle begeben wir uns hinein. Das gesamte Gelände wird als Masdschid al-Aksâ bezeichnet, darin befinden sich zwei Gebetshäuser oberhalb des Geländes: die Kubbat as-Sahra und die Kibla Moschee; und drei befinden sich unterhalb des Tempelbergs: Masdschid al-Burak, Masdschid al-Kadim und Marwane-Masdschid.
Der Tempelberg hat seinen Namen von dem Felsen innerhalb der Kubbat as-Sahra Moschee, worin sich der Prophet Muhammad (s) zurückgezogen und gebetet hat. Auch nach dem islamischen Glauben ist der Tempelberg der Ort, von wo die Himmelfahrt des Propheten Muhammad (s) stattgefunden hat und anderen Propheten wie Jesus und Abraham begegnet ist. Im Gegensatz zu der Höhle auf dem Berg Nûr in Mekka herrscht hier absolute Stille. Dadurch habe ich auch mehr Zeit für mich. Aber gleichzeitig fühlt es sich traurig an, weil es so verlassen wirkt. Ich habe das Gefühl, als ob ich seit Jahren weggesehen hätte. Es fühlt sich traurig an, weil wir tatsächlich tagtäglich wegsehen.
Uns begegnen immer wieder Einheimische, die uns begrüßen und umarmen und uns auf einen Tee einladen. Die Menschen sind warmherzig, großzügig und freuen sich, dass sie uns sehen. Sie bringen auch ihre Enttäuschung zum Ausdruck und fragen, warum so wenige MuslimInnen Jerusalem besuchen. Die gleiche Frage stelle ich mir auch.
Außerhalb Jerusalems in die palästinensischen Gebiete zu reisen, kann problematisch werden. Verlässt man Jerusalem auf der Autobahn, sieht man schon die erste „Wall of Shame“ mit Stacheldrahtzäunen, die zum „Schutz“ dient. Ich kannte diese berühmt berüchtigte Wand aus den Nachrichten, aber sie vor meinen Augen zu sehen war erschütternd und beängstigend. Das Westjordanland, auch Westbank genannt, hat unterschiedliche Autonomieregionen und wird in Regionen A, B und C gegliedert, wobei Region A unter palästinensischer Autorität steht und somit der Eintritt für israelische Bürger strikt verboten ist. Innerhalb und zwischen den Regionen sieht man die Checkpoints, die von Dutzenden Kameras überwacht werden. Innerhalb des Westjordanlands gibt es die israelischen Siedlungen, die in den letzten Jahren zugenommen haben.
Wir sehen viele junge bewaffnete Männer, die darüber bestimmen, ob wir von einem Ort zum anderen gehen dürfen. Es ist ein komisches Gefühl und auch beängstigend. Teilweise fühle ich mich wie in einem Spiel: verlassene Orte, Ruinen, überall Kameras und Checkpoints. Aber nein, das ist die Lebensrealität der Einheimischen dort.
Dann sehen wir viele palästinensische Kinder, die zwischen den Soldaten aufwachsen und versuchen, über die Runden zu kommen, indem sie Kleinigkeiten verkaufen. Es sind Kinder und Familien, die hinter der 700 km langen Mauer Verwandte und Freunde haben, aber sie nicht sehen dürfen. Mir wird es in dem Moment bewusst, dass Niederlassungs- und Bewegungsfreiheit nicht selbstverständlich ist, denn ich kann mich frei bewegen und dort wohnen wo ich will, aber das gilt nicht für diese Kinder. Ich sehe wie diese Menschen unter harten Bedingungen ihr Leben bestreiten, wie sie versuchen, ein „normales“ Leben zu führen, ein Restaurant, ein Lebensmittel- oder Souvenirgeschäft zu betreiben.
Diese Eindrücke und Erfahrungen lassen mich nicht los. Die Bilder haben sich unvergessen verewigt, doch meine Sprache versagt angesichts dieser traurigen Bilder. Die Fragen, die bleiben: Wann können wir in Erinnerungen an Jerusalem und Palästina schwelgen und nur Freude empfinden? Wann wird der Trauerschleier fortziehen und die Schönheit unbegrenzt ihre Pracht zu erkennen geben?