Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute Selva Yıldırım über die Begegnung von Muslimen mit dem Christentum im spätosmanischen Reich.
IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und Ihrem akademischen Werdegang sagen?
Selva Yıldırım: Geboren und aufgewachsen bin ich im Ruhrgebiet, in Gelsenkirchen. Als Stipendiatin des Programms “Internationaler Studiengang Islamische Theologie” habe ich Islamische Theologie an der Marmara-Universität in Istanbul studiert. Nach dem Abschluss habe ich noch ein Masterstudium am Asien-Orient Institut der Universität Tübingen absolviert. Schon damals war ich als Tutorin für systematische Theologie am Tübinger Zentrum für Islamische Theologie tätig. Mit der Zeit haben sich meine Forschungsinteressen immer mehr auf die christlich-islamischen Beziehungen und den theologischen Austausch zwischen beiden Religionen konzentriert. Das akademische Jahr 2015/16 habe ich als Research Fellow des Vatikans in Rom verbracht, und dort katholische Theologie an den päpstlichen Universitäten studiert. Zurzeit bin ich Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Islamische Theologie in Tübingen.
IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?
Yıldırım: Zurzeit befinde ich mich noch in der Anfangsphase des Promotionsprojekts. Mein Arbeitstitel lautet: „Muslime im Gespräch mit Christen im spät-osmanischen Reich. Eine theologische Analyse über die Begegnung von Muslimen mit dem Christentum“. Zwischen Christen und Muslimen hat historisch betrachtet schon sehr früh ein theologischer Austausch stattgefunden. Das apologetische Genre entstand bereits im 7. Jahrhundert. Grundlegende Absicht der Autoren war es, die eigenen Glaubensgrundsätze argumentativ zu verteidigen und die Lehren des Gegenübers zurückzuweisen. Die rationale Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben zur Begründung einer bestimmten systematischen Glaubenslehre kennt man historisch von beiden Religionen.
In meiner Dissertation werde ich mich hauptsächlich mit den Werken von Halil Halid (1869-1931), Abdülaziz Çaviş (1879-1929), Eşref Efendizade Şevketi (1877-1934) und Abdulehad Davud (1866-1930) beschäftigen. Alle vier Autoren waren sowohl im Osmanischen Reich als auch in Europa sehr einflussreich. Sie hatten in Europa studiert, lehrten an verschiedenen Universitäten und publizierten in verschiedenen europäische Sprachen, die sie fließend beherrschten. Auf der Grundlage dieser Werke werde ich die (muslimische) Wahrnehmung der Christen und das Verständnis der theologischen Fundamente des Christentums im historischen Zeitraum ihres Erscheinens untersuchen. Ich möchte festzustellen, ob und inwiefern sich Strukturen und Argumentationsformen der apologetischen Schriften im Wandel der Zeit geändert haben.
IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?
Yıldırım: Während meines Studiums in Istanbul kam das Gespräch gelegentlich auf Themen wie Jesus im Islam, die Christen oder das Christentum im Koran u. ä. Ich habe mich deshalb eine Zeit lang vergleichend mit der Theologie beider Religionen beschäftigt. Mir war bekannt, dass zwischen Muslimen und Christen bzw. anderen Religionsgemeinschaften seit der islamischen Frühzeit Austausch stattgefunden hat. Später bin ich auf polemische und apologetische Werke gestoßen.
Das wissenschaftliche Interesse an den klassisch-mittelalterlichen Werken ist, wie die Anzahl der Veröffentlichungen zu diesem Thema zeigt, sehr groß. Die christlich-muslimischen Beziehungen in der Moderne sind bisher jedoch kaum erforscht worden. Werke aus der spätosmanischen Zeit sind bspw. im deutschen Sprachraum weitgehend unbekannt und wurden auch wissenschaftlich, von einigen wenigen Publikationen abgesehen, kaum bearbeitet. Deshalb hoffe ich, mit meiner Arbeit zumindest teilweise dazu beizutragen, diese Forschungslücke zu schließen.
IslamiQ: Welche positiven oder negativen Erfahrungen haben Sie während Ihrer Dissertation gemacht? Was treibt Sie voran?
Yıldırım: Die Zeit der Vorarbeit zu meinem Promotionsprojekt war für mich sehr fruchtbar. Im Rahmen meiner Masterarbeit habe ich mich mit einem ähnlichen Thema beschäftigt, daher war mir die Thematik bereits bekannt. Für mich als muslimische Theologin in Europa ist besonders die Tatsache spannend, dass die vier Autoren, deren Werke ich in meiner Arbeit untersuche, auch mit dem europäischen Kontext vertraut waren. Sie lebten und arbeiteten in Cambridge, Oxford und Berlin, waren also sowohl im Osmanischen Reich als auch in Europa einflussreich. Dieser Aspekt liegt mir besonders am Herzen.
IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Dissertation der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?
Yıldırım: Mit meiner Arbeit möchte ich zum einen, wie bereits erwähnt, eine Forschungslücke schließen, und die Autoren im deutschen Sprachraum bekannter machen. Andererseits ermöglichen die gewonnen Erkenntnisse aber auch Prognosen für zukünftige Entwicklungen im theologischen Diskurs der christlich-islamischen Beziehungen. Damit leistet sie hoffentlich auch einen Beitrag zum derzeitigen Austausch und zur gegenseitigen Verständigung.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.