Vorbilder, die uns positiv stimmen, sind heute wichtiger denn je. In dieser IslamiQ-Reihe möchten wir unsere Leser zu Autoren machen. Ahmet Aydın schreibt über sein Vorbild: Hodscha Ahmet Yesevi.
Was ist „der Islam“? Auch wenn die meisten auf diese Frage eine Antwort geben können, fehlt es doch an einer allgemein anschlussfähigen Definition. Dies liegt auch daran, dass bisher in deutscher Sprache nur wenige Werke vorliegen, die sich mit der Geschichte der islamischen Welt aus der Perspektive der Muslime auseinandersetzen.
Ein Beispiel für diese Leerstelle ist die Geschichte der Turkvölker. Die Bewohner des weiten Raumes von der Türkei bis Westchina werden im Allgemeinen mit dem Islam in Verbindung gebracht, obwohl sie ihm lange Zeit feindlich gegenüber standen. Vielleicht ist gerade deshalb die Art und Weise, wie die Turkvölker schließlich zum Islam fanden, so bemerkenswert.
Eine zentrale Rolle dabei spielte der 1103 in Sayram im heutigen Kasachstan geborene Hodscha Ahmed Yesevi. Über seine Kindheit und Jugend ist nicht viel bekannt außer, dass er früh verwaiste. Nach seiner Ausbildung an einer Madrasa schloss er sich mit 27 Jahren dem Sufimeister Yûsuf al-Hamadâni an, einem Mitschüler Al-Gazâlîs. Beide wurde von Abû Ali Fârmadî in den Tasawwuf eingeweiht.
Hodscha Ahmed Yesevi hatte einen Sohn, Ibrâhîm, den er sehr liebte. Allerdings fürchtete er, die Liebe zu seinem Sohn könne seine Liebe zum Propheten, zu der ihn sein Meister angehalten hatte, übersteigen. Deshalb äußerte er einmal im engen Kreis, dass er, sollte ihn die Nachricht vom Tod seines Sohnes ereilen, dem Überbringer sein braunes Pferd schenken wolle, an dem er ebenfalls sehr hing.[1] Einige der damals noch nichtmuslimischen Türken beschlossen daraufhin, in ihrem Hass auf den Hodscha und den Islam im Allgemeinen, das Kind umzubringen. Umso überraschter waren sie, als der Hodscha tatsächlich Wort hielt und ihnen nicht nur das Pferd schenkte, sondern ihnen ihre Tat verzieh. In einem Gedicht schrieb er später:
„Sunna ist es, selbst wenn es ein Leugner ist, schade ihm nicht,
Der Ankläger all derer, die harten Herzens sind und Herzen brechen, ist Allah.“
(Weisheit I; Diwan der Weisheit)
Damit hatte er ihnen eine erste wichtige Lektion in der prophetischen Lebensweise erteilt.
Hodscha Ahmet Yesevi hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Turkvölker über den Islam zu unterrichten. Dies tat er auf sehr unkonventionelle und fast schon revolutionäre Weise: er dichtete auf Türkisch! Damit machte er die islamische Lehre und ihre innere Dimension auch denjenigen zugänglich, die weder Arabisch noch Persisch beherrschten.
In seinem Hauptwerk, dem „Diwan der Weisheit“, fasst er den wichtigsten Grundsatz des Tasawwuf so zusammen:
„Ahnungsloser, du hast dein Herz nicht für den Wahren schlagen lassen,
Diese Welt, sie ist verboten, du hast dein Herz nicht von ihr abgezogen,
Dein Ego überwindend wandtest du dich nicht Allah zu,
Weinerlich und fassungslos für dieses Ego ward ich nun.“
(Weisheit 11; Diwan der Weisheit).
Jeder Einzelne hat seine Absicht bei der Erfüllung der äußeren Gottesdienste wie Gebet, Fasten, Zakat, Pilgerfahrt usw. zu hinterfragen. Bete und faste ich, weil andere Menschen es sagen, weil es Kultur in meinem Land ist, oder weil ich diese Dinge als von Allah, dem Erhabenen, stammende Wahrheit erkannt habe? Aus seinen Gedichten geht hervor, dass es bei jeder Tat nicht darum gehen darf, Lob und Anerkennung anderer zu erheischen. Einziger Zweck und Antrieb muss es sein, Allahs Wohlgefallen zu erlangen. Dazu ist jedoch Wissen nötig, nicht nur über die äußeren Glaubensaspekte, sondern vor allem über die Charaktereigenschaften, die einen Gläubigen, der dem Vorbild des Propheten folgt, auszeichnen. Dieses kann, wie der Hodscha nachdrücklich betont, aber nur mit Hilfe eines Lehrmeisters erlangt werden, der die Feinheiten der islamischen Lehre verstanden und die prophetische Sunna verinnerlicht hat:
„Wer sich ohne ausgereiften Lehrmeister macht auf den Weg,
Der wird verwirrt nur auf der Strecke bleiben.“
Hodscha Ahmed Yesevi schrieb jedoch nicht nur über theologische und spirituelle Fragen. In seinen Gedichten handelt er auch Episoden der islamischen Frühgeschichte ab.
Mit seinen Gedichten legte Hodscha Ahmed Yesevi den Grundstein für das Islamverständnis der Türken. In einer Zeit der interreligiösen Gewalt – die Kreuzzüge fanden zu seinen Lebzeiten statt – warb er für Versöhnung und gab durch sein eigenes Verhalten ein schönes Beispiel für prophetische Prinzipien wie Selbstlosigkeit, Gottesliebe, Weisheit und Güte im Umgang mit allen Menschen, auch denen, die ihm feindlich gesonnen waren. Hodscha Ahmed Yesevi starb um das Jahr 1166 in Yesi (heute Kasachstan).
Was können wir aus dem Vermächtnis des Hodschas lernen? Das, wozu Menschen sprachlich keinen Zugang finden, wird sie befremden. Deshalb ist es für Muslime heute vielleicht genauso wichtig wie damals, die Inhalte der islamischen Lehre, vor allem ihrer inneren Dimension, auf Deutsch wiederzugeben. Das Wissen um den Entstehungshintergrund von Werken wie dem „Diwan“ belebt gleichzeitig das kulturelle Gedächtnis und schafft ein tieferes Verständnis für die Geschichte des Islams und der Muslime. Denn was nicht im kulturellen Gedächtnis verankert ist, geht zwangsläufig verloren.
[1] Mümin Munis: Pîr-i Türkistan Hâce Ahmed Yesevi. 1. Aufl. Istanbul 2016: Mostar Verlag. S. 95f.