In NRW wird über ein Kopftuchverbot für Kinder diskutiert. Im IslamiQ-Interview erklärt der Jurist Prof. Dr. Stefan Muckel, auf welche rechtliche Grundlage sich dieser Vorstoß stützt und warum er nicht realisierbar ist.
IslamiQ: Wie beurteilen Sie den Vorstoß der NRW-Landesregierung, ein Kopftuchverbot in Kindergärten und Schulen einzuführen?
Muckel: Das ist natürlich eine politische Entscheidung, die man so oder so bewerten kann. NRW-Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) hatte erklärt, dass es kein Massenphänomen sei, aber das muss man politisch diskutieren. Eine politische Beurteilung steht mir nicht zu. Ich bin zwar Staatsbürger, aber kein Politiker.
Verfassungsrechtlich möchte ich in aller Vorsicht darauf hinweisen, dass das Bundesverfassungsgericht und in der Folge natürlich auch alle anderen Gerichte, die sich in letzter Zeit mit der Frage befasst haben, generellen Kopftuchverboten mit großer Distanz gegenüber stehen. In der Grundsatzentscheidung zu einer kopftuchtragenden Lehrerin im Jahre 2015 hat das Bundesverfassungsgericht erklärt, dass es bei einem Verbot darauf ankommt, ob im konkreten Fall eine Gefahr für die weltanschauliche Neutralität der Schule oder den Schulfrieden besteht.
Die Neutralität der Schule bzw. des Staates spielt bei dem neuen Vorstoß jedoch keine Rolle, weil es hier nicht um die Lehrerinnen geht, die die Schule repräsentieren. Weil es hier vielmehr um Schülerinnen und Kinder in der Öffentlichkeit geht, müsste der Schulfrieden oder der gesellschaftliche Frieden konkret gefährdet sein. Solange dies nicht der Fall ist, ist ein Verbot auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts nicht haltbar.
IslamiQ: Ganz so einfach scheint es allerdings dann doch nicht zu sein, wenn man die Vehemenz der Diskussion betrachtet…
…Die Landesregierung hat die Altersgrenze von 14 Jahren gesetzt. Man geht davon aus, dass Kinder sich ab 14 Jahren auf die Religionsfreiheit berufen können. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts betrifft Fälle, in denen die Religionsfreiheit anwendbar ist. Da sich Kinder unter 14 Jahren danach also nicht auf die Religionsfreiheit berufen können, ist die Sache tatsächlich komplizierter. Ob die Einschätzung, dass Kinder bis 14 Jahre sich generell nicht auf die Religionsfreiheit berufen können, ist zwar fraglich (man wird wohl auf den Einzelfall schauen müssen). Wenn aber die Religionsfreiheit tatsächlich nicht einschlägig sein sollte, geht es um andere Grundrechte, etwa die freie Entfaltung der Persönlichkeit und aus Sicht der Eltern um das Elternrecht. Grundrechte sind Rechte, an die der Staat gebunden ist und die er nicht einfach einschränken kann. Weil das Problem komplex ist, werden hier allerdings im Ergebnis grundlegend andere Ansichten zu erwarten sein.
IslamiQ: Einer Studie zufolge gibt es keine Erkenntnisse, dass das Kopftuch den Schulfrieden stören würde. Trotzdem beharrt die Landesregierung auf einem Verbot. Was erhofft sie sich davon?
Muckel: Das kann ich natürlich nur mutmaßen. Es ist tatsächlich immer häufiger zu beobachten, dass Kinder unter 14 Jahren ein Kopftuch tragen. Das kann natürlich mit vielen Dingen zu tun haben, wie dem Umstand, dass junge Mädchen heutzutage früher in die Geschlechtsreife kommen und sich dann religiös dazu verpflichtet fühlen, ein Kopftuch zu tragen. Es kann tatsächlich auch sein, dass sich mehr Menschen enger mit dem Islam verbunden fühlen. Ich möchte jetzt nicht von irgendwelchen extremistischen Bestrebungen sprechen, aus Sicht mancher Politiker ist es aber auch ein Zeichen von Abgrenzung und Selbstausgrenzung, wenn da ein Kleidungsstück getragen wird, das bisher in dem Maße nicht üblich war. Es gibt, wie gesagt, einen gewissen messbaren Trend, aber ein Massenphänomen ist es sicher nicht.
IslamiQ: Ist ein solcher Vorstoß in NRW rein rechtlich gesehen überhaupt realisierbar, oder greift hier die Religionsfreiheit?
Muckel: Es ist wirklich schwierig. Das hängt nicht nur mit der Religionsfreiheit zusammen. Wenn ich z. B. argumentiere, dass die Religionsfreiheit für viele dieser Kinder auch dann einschlägig ist, wenn sie jünger als 14 Jahre sind, weil sie selbstbestimmt entscheiden können, wird es Juristen geben, die das Gegenteil behaupten. Einer Faustregel zufolge können sich Kinder und Jugendliche auf die Religionsfreiheit berufen, wenn sie älter als 14 Jahre alt sind. Bis zu diesem Alter machen das ihre Eltern für sie. Nach diesem Kriterium würde die Religionsfreiheit in unserem Fall nicht greifen. Und es gäbe gemessen an der Religionsfreiheit im Ergebnis kein Problem. Im Ergebnis wohlgemerkt! Ob die Religionsfreiheit greift oder nicht, müsste aber sorgfältig überprüft werden.
Es gibt allerdings auch andere Rechtsprobleme. Es fängt mit der Frage an, ob das Land NRW überhaupt für eine entsprechende gesetzliche Regelung die Gesetzgebungskompetenz hat. Im föderalistischen Staat des Grundgesetzes besteht eine geteilte Kompetenz zwischen Bund und Ländern. Grundsätzlich regeln die Länder vieles allein, trotzdem hat der Bund nach den Artikeln 73 und 74 des Grundgesetzes so viele Zuständigkeiten, dass dieser Grundsatz im Ergebnis weitgehend umgekehrt ist.
Nach dem Grundgesetz ist der Bund für Vorschriften zuständig, die die nähere Ausformung des elterlichen Erziehungsrechts gegenüber den Kindern betreffen (Personensorge). Sie stehen im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Da ist z. B. vor einigen Jahren die Vorschrift ergänzt worden, unter welchen Voraussetzungen eine Beschneidung zulässig ist (§ 1631d BGB). Das Land hat demgegenüber z.B. die Kompetenz, Vorschriften für das Schulwesen bzw. für eine Schulkleidung zu erlassen. Doch wäre eine Regelung, die nur das Kopftuch betrifft, aus Gründen der Gleichbehandlung verfassungswidrig. Das müsste dann schon eine allgemeingehaltene Regelung sein. Ein grundsätzliches Verbot für Kopfbedeckungen wäre ein Problem für Kinder, die an einer Krankheit leiden, auch für Sikhs, die ab einem bestimmten Alter einen Turban tragen müssen oder für Angehörige der jüdischen Religion, die eine Kippa tragen wollen. Ein auf das islamische Kopftuch bezogenes Verbot halte ich per se für verfassungswidrig, weil es gegen die Gleichheit verstößt.
IslamiQ: Haben die Eltern denn überhaupt kein Mitspracherecht?
Doch. ein weiteres Grundrecht, das hier greifen kann, ist das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG). Die Eltern haben die Befugnis, ihre Kinder so zu erziehen, wie sie es für richtig halten. Dazu gehört auch die Frage, was die Kinder anziehen. Ob man über das Schulrecht hier eingreifen kann, halte ich für fraglich.
Als nächstes stellt sich die Frage, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Denn der Staat darf in Grundrechte nicht aus einer Laune heraus eingreifen. Jeder Grundrechtseingriff muss einen legitimen Zweck verfolgen. Die Maßnahme muss geeignet, erforderlich und angemessen sein, um diesen Zweck zu dienen. Wenn im schulischen Alltag keine Probleme wegen des Kopftuchs auftreten, oder es nur einzelne wenige Fälle sind, dann sehe ich die Verhältnismäßigkeit eines solchen Verbots nicht. Für ein Verbot müssen Berichte vorliegen, die eine Störung des Schulfriedens klar belegen. Solche Berichte sind mir jedenfalls nicht bekannt.
IslamiQ: Warum wird trotz dieser Rechtslage so heftig darüber diskutiert?
Muckel: Darüber können wir nur spekulieren. Es gibt ja auch so etwas wie die Symbolpolitik. Das kommt gut an, das kann man in der Öffentlichkeit gut darstellen; das versteht jeder. Wenn Sie Regelungen zum Baurecht oder zum Steuerrecht erlassen, dann müssen Menschen das erst mal verstehen. Aber so eine Regelung versteht jeder ganz leicht. Das ist ähnlich wie der Beschluss des bayerischen Landeskabinetts in den Eingangsbereichen von öffentlichen Gebäuden Kreuze aufzuhängen. Das dürfte auch Symbolpolitik sein.
IslamiQ: Auf welche rechtliche Grundlage stützen sich die Pläne der Landesregierung überhaupt?
Muckel: Ich sehe keine rechtliche Grundlage. Das Land NRW müsste eine rechtliche Grundlage schaffen. Eine Verordnung oder ein Kabinettsbeschluss reicht hier nicht aus, weil in Grundrechte eingegriffen wird. Es könnte eine Änderung des Schulgesetzes geben. Theoretisch könnte man sich noch vorstellen, dass das Land NRW das Straßen- und Weggesetz ändert und dann auf die Idee kommt, ein Kopftuchverbot im öffentlichen Straßenraum für unter 14-Jährige zu erlassen. Diese Vorstellung halte ich aber nicht für realistisch. Es erscheint mir naheliegender, dass das Schulgesetz mit einer Regelung bezüglich der Schulkleidung ergänzt wird. Die dürfte aber, wie gesagt, nicht nur das Kopftuch betreffen, sondern müsste allgemein gefasst sein.
IslamiQ: Welche Auswirkungen hätte ein solches Verbot für die muslimische Gemeinschaft in Deutschland?
Muckel: Man könnte darüber nachdenken, wie diese Signale von den ca. fünf Millionen Muslimen, die in Deutschland leben, aufgenommen werden. Das kann ich natürlich auch nicht so beurteilen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass das Echo sehr differenziert ausfällt. Muslime, die für das Kopftuch sind und einen traditionellen Islam pflegen, werden sehr unzufrieden darüber sein und gegebenenfalls versuchen, dagegen anzugehen, während progressive oder liberale Muslime es vielleicht begrüßen werden.
IslamiQ: Welche Rechte haben muslimische Eltern in diesem Kontext?
Muckel: Sie können auf ihr Erziehungsrecht pochen. Der Staat hat in der Schule einen staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag und damit auch weitreichende Befugnisse. Er kann z. B. darauf bestehen, dass Kinder an Klassenfahrten und am Schwimmunterricht teilnehmen, gegebenenfalls auch mit einem Burkini. Der Staat könnte eine Schulkleidung vorschreiben. Eltern müssten dann ihr Erziehungsrecht geltend machen und extreme Auswüchse verhindern.
IslamiQ: Wären rechtliche Schritte im Falle der Realisierung des Vorstoßes empfehlenswert? Was würden Sie muslimischen Eltern diesbezüglich raten?
Muckel: Ich würde nicht dazu raten, dagegen Sturm zu laufen. Stattdessen sollte in erster Linie das Gespräch gesucht werden. Das schätze ich bei den Muslimen in Deutschland sehr. Man ist nicht auf Streit aus, sondern auf Verständigung. Dabei können die großen islamischen Religionsgemeinschaften die Landesregierung davon überzeugen, dass ein Verbot nicht notwendig ist. Wenn das Verbot dann doch beschlossen wird, sollte man versuchen, auf der Ebene der einzelnen Schulen dafür zu sorgen, dass Konsequenzen möglichst abgemildert werden oder bestehende Ausnahmeregelungen genutzt werden.
Wenn Eltern trotzdem möchten, dass ihr Kind ein Kopftuch trägt, müssen sie im äußersten Fall den Rechtsweg beschreiten. Ich würde es begrüßen, wenn es nicht soweit kommt. Eltern könnten sich z. B. dafür entscheiden zu warten, bis das Kind 15 Jahre alt ist. Mir persönlich ist die friedliche Lösung lieber als der Rechtsweg. Aber man kann Rechtsstreitigkeiten natürlich nicht ausschließen.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.