Debatten über das Kopftuch sind keine Neuheit. Dass mittlerweile auch kleine Mädchen Gegenstand der Debatten werden, jedoch erschreckend. Warum das so ist und welche Mechanismen zu Tage kommen. Ein Meinungsbeitrag.
Es wurde wieder diskutiert. Wieder über das Kopftuch. Doch diesmal waren nicht erwachsene Frauen Gegenstand der Debatten sondern Kinder. Der Hintergrund: Der Integrationsminister und stellvertretende Ministerpräsident Joachim Stamp (FDP) Nordrhein-Westfalens plädiert für ein Kopftuchverbot an Kitas und Grundschulen. Das Kopftuchverbot wird von Befürwortern mit Argumenten wie die Religionsunmündigkeit sowie die ‘Sexualisierung” im Kindesalter untermauert.
Im Mai 2012 war es noch die Beschneidung im Kindesalter, sechs Jahre später wird ein anderes Thema mit denselben Strategien diskutiert: das erwähnte Kopftuchverbot. Doch wie viele sind überhaupt davon betroffen? Um es in Zahlen auszudrücken: In der Altersgruppe von Mädchen unter 10 Jahren trägt 2,9% der muslimischen Mädchen ein Kopftuch. Dies ergab die Studie des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen „Muslimisches Leben in Nordrhein-Westfalen“ im Jahr 2010. Die Studie belegt, dass zwischen dem Alter und dem Anteil der muslimischen Frauen, die ein Kopftuch tragen, eine Interdependenz besteht. So nimmt die Zahl kopftuchtragender Frauen mit zunehmendem Alter zu. Aktuelle Zahlen hatten die Grünen im NRW-Landtag angefragt und Stamp musste zugeben, dass es keine konkreten Zahlen gebe, es seien lediglich „Fälle bekannt“. Diese Datenlage hindert jedoch keine Debatte.
Wie war es bei der Debatte um die Beschneidung? Holm Putzke, Professor für Strafrecht in Passau, plädierte im Mai 2012 für eine Verschiebung der Beschneidung auf ein späteres Alter, sodass die Kinder der Tragweite des Eingriffs ermessen könnten. Die jüdische Brit Mila und die muslimische Beschneidung definierte er als eine Körperverletzung und löste somit eine impulsiv geführte Debatte aus. Während muslimische und jüdische Eltern Körperverletzung sowie Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Kinder unterstellt wurde, verstanden die Zentralräte beider Religionsgemeinschaften ein solches Verbot als einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften. Beide Debatten weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Die Implikation ist in beiden Fällen dieselbe: Für Kinder muslimischer und jüdischer Eltern bedarf es ein Schutz des Staates durch Gesetze, um ihr Selbstbestimmungsrecht zu gewährleisten.
Wie wird eine Meinung zu einer „herrschenden Meinung“? – Wenn diese Meinung in der wissenschaftlichen Literatur als solche akzeptiert wird und die Urteilsfindung der Gerichte auf wissenschaftliche Rechtsstudien basiert, wird aus Meinung zunächst eine herrschende Meinung und daraus wird geltendes Recht.
Der Poststrukturalist Michel Foucault meint, dass Diskurse regulierende Instanzen seien, die als Machtinstrumente fungieren, indem sie subjektives und kollektives Bewusstsein formieren. Die dominierende Ansicht im Rahmen der Kopftuchdebatte ist als Brandmarkung der „Anderen“ zu verstehen, wodurch ein gruppenidentitätsgebendes Differenzierungsmerkmal in der Gesellschaft entsteht. Die diskursive Gewalt entmündigt ihre Subjektive, indem sie das kollektive Bewusstsein über das Sein der muslimischen Frau formt und diese bevormundet. Die Struktur gesellschaftlicher Diskriminierungen bzw. Privilegierungen verläuft entlang phänotypischer Differenzierungsmerkmale und kultureller Identitätsmarkierungen.
Mit anderen Worten dient die konstruierte Differenz zwischen muslimischen und christlich-weißen Personen auch dazu, das eigene Selbstverständnis und die eigene Repräsentation zu untermauern.
Indem Patriarchat und Sexismus – die populären Schlagwörter der Kopftuchdebatte – dem Islam zugewiesen werden, wird die geschlechtsspezifische Diskriminierung in der Mehrheitsgesellschaft verschwiegen. Während die weiße Frau zum Sinnbild der Emanzipation und Selbstbestimmung deklariert wird, werden Körperlichkeit und Sexualität auf die rassifizierten „Anderen“, also auf die muslimische Frau projiziert.
Es entsteht ein Dichotomiedenken zwischen der fortgeschrittenen und selbstbestimmten weißen Frau und der auf ihre Körperlichkeit reduzierten, rückständigen und unmündigen muslimischen Frau. Das konstruierte Bild der muslimischen Frau als Andere und ihre suggerierte Unterlegenheit erweisen sich als eine alteingesessene Legitimationsstrategie für die weißen Überlegenheits- und Machtansprüche. Die Forderung nach der Befreiung der muslimischen Frau erübrigt somit das Angehen des „weißen Sexismus“ und die Mobilisierung von Gender und Frauenemanzipation, da diese als Probleme der „Anderen“ konstruiert werden.
Es zeigt sich, dass die Bevormundung und Erziehungsmaßnahmen gegenüber dem „Anderen“ bereits im Kindesalter beginnt, sodass die Bevormundung auch im weiteren Lebensweg vorhanden ist. Das Verbot, was die jungen Mädchen unter 14 Jahren bevormunden möchte, wird der muslimischen Frau auch in anderen Kontexten begegnen, z.B., wenn sie an einer Schule als Lehrerin arbeiten möchte.
Wir brauchen keine Dichotomien, sondern eine Politik der Anerkennung. Diese ist nicht nur als eine Höflichkeitsgeste zu verstehen, sondern als basales, lebenswichtiges menschliches Bedürfnis. Nach diesem Leitbild ist es von essentieller Bedeutung, den kulturell-ethnischen Gruppen kollektive Rechte zuzuschreiben und von der Dominanzgesellschaft eine Respektierung und Tolerierung der Minderheitskulturen zu erwarten.
Eine Migrations- und Integrationspolitik, die auf dieses Leitbild hinarbeitet, wird das Bild zweier, einander gegenüberstehender Kulturen dekonstruieren. Verbote – wie das diskutierte Verbot um die muslimischen Mädchen – konstruieren dieses Bild, indem sie der „weißen Superiorität“ Resonanzboden darbieten.
https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/kopftuchverbot-maedchen-nrw-100.html