Mütter von Srebrenica

„Sie haben uns unsere Männer, Söhne und Brüder genommen“

Seit dem Massaker von Srebrenica sind 23 Jahre vergangen. All die Jahre haben das Leid der Mütter der Opfer nicht verringert. Wir sprachen mit Munira Subašić, der Vorsitzenden des Vereins „Mütter von Srebrenica“.

11
07
2018
Munira Subasic, Vorsitzende des Vereins "Mütter von Srebrenica", © Munira Subasic, bearbeitet by iQ.

IslamiQ: Seit dem Massaker von Srebrenica sind 23 Jahre vergangen. Sie haben damals fast Ihre gesamte Familie verloren. Wie kann Ihr Leid gemildert werden?

Munira Subašić: Wir kämpfen seit 23 Jahren für die Wahrheit und suchen Gerechtigkeit. Aber keine Mutter kann ihren Sohn vergessen, denn er ist ein Teil von ihr. Wir können nie vergeben und vergessen, aber wir kämpfen, um weiter machen zu können.

IslamiQ: Das Massaker von Srebrenica steht immer noch auf der Agenda der internationalen Gemeinschaft. Es gibt eine Vielzahl an Projekten, damit das Massaker nicht in Vergessenheit gerät und der Opfer weiterhin gedacht wird. Ist das Ihrer Meinung ausreichend, um den Tausenden Toten zu gedenken?

Subašić: Srebrenica ist zum Symbol für den Völkermord geworden. Er ereignete sich 1995, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, als das Leben, die Ehre und die Kultur des Menschen schon als sicher und schützenswert galten. Dieser Völkermord war kein Zufall. Er fand vor den Augen der Welt und unter dem Schutz der Vereinten Nationen statt. Deshalb haben wir als Mütter von Srebrenica unsere Stimme erhoben und die Vereinten Nationen, die Niederlande und das inländische Verteidigungsministerium angeklagt. Wir wollen keine Rache. Wir wollen lediglich zeigen, was am Ende des 20. Jahrhunderts geschehen ist.

Wir bemühen uns, damit so ein Verbrechen nicht nur in Bosnien, sondern auf der ganzen Welt nie wieder geschehen kann. Aber leider wiederholen sich Völkermorde auch heute noch, beispielsweise in Burma, Syrien und an anderen Orten der Welt. Meistens sind Muslime Opfer von Völkermorden. Wir haben als Mütter viel unternommen, damit das Massaker von Srebrenica nicht in Vergessenheit gerät. Wir haben mehr unternommen als der Staat Bosnien und Herzegowina.

Es genügt nicht, dass nur Mütter ihre Stimmen erheben. Aber wir haben, als die ganze Welt die Muslime vergessen hat, versucht, die nötige Kraft aufzubringen. Um die ganze Welt an das Geschehene zu erinnern haben wir am Ort des Massakers ein Mahnmal errichtet. Diese Mahnmal-Kultur ist wichtig, denn die weißen Steine des Tales von Srebrenica bezeugen vieles.

Wir klagen nicht nur die Vereinten Nationen an, sondern fordern die ganze Welt auf, einzusehen, was passiert ist. Denn durch ihr Schweigen wurde das Verbrechen gegen Tausende Muslime zu Beginn des 21. Jahrhunderts gebilligt.

IslamiQ: Durch das Massaker haben Sie 22 Menschen aus Ihrer Familie, darunter Ihr Ehemann und Ihr Sohn, verloren. Sie haben einen Verein gegründet für Mütter, die so wie Sie ihre Angehörigen verloren haben. Was ist Ihr Ziel?

Subašić: 1995 haben sie uns unsere Männer, Söhne und Brüder genommen. Eine Vielzahl von Frauen, Mädchen und Kindern wurde vergewaltigt. Wir aber blieben nicht tatenlos. Wir wollten der ganzen Welt zeigen, was geschehen ist. Selbst wir konnten anfangs nicht glauben, dass unsere Feinde unsere Angehörigen ermordet haben, bis wir es mit eigenen Augen gesehen haben. Wir wollten wissen, weshalb sie uns das angetan haben. Insgeheim kannten wir bereits die Antwort, aber wir wollten, dass auch die Welt uns diese Antwort liefert. Deshalb wandten wir uns an die Verbrecher. Durch unsere Mühen konnten viele Mitverantwortliche vor Gericht angeklagt werden.

Wir haben bei der Erziehung unserer Kinder viel Wert auf Bildung gelegt. Viele sind heute Ingenieure und Professoren. Wir wollten uns dabei auch selbst helfen, denn wir wussten, dass wir außer uns selbst niemandem vertrauen können. Das Verbrechen geschah vor den Augen der Welt, die Welt wollte, dass dies geschieht. Wir als Opfer und Hinterbliebene wollten aber nur leben. Als Verein haben wir unsere Ziele erreicht. In den 23 Jahre seit dem Völkermord konnten wir eine Gedenkkultur etablieren, eine Vielzahl von Verurteilungen durchsetzen, die Ausbildung unserer überlebenden Kinder ermöglichen, Mütter bei ihrer Heimkehr unterstützen und eine Reihe an Reportagen, Büchern und Filmen veröffentlichen. Dies alles sind Errungenschaften, die wir den kommenden Generationen hinterlassen werden. Für uns ist das ein großer Erfolg.

Das Heranwachsen, die Ausbildung und der berufliche Erfolg unserer Kinder ist allerdings der größte Erfolg für uns bosnisch-muslimische Mütter. Denn unsere Vergeltung sind die Diplome und der Erfolg unserer Kinder.

Außerdem zeigen die Auszeichnungen aus Frankreich, den USA, Österreich, Neuseeland und vielen weiteren Ländern, dass die Wahrheit über den Völkermord Srebrenica bekannt ist und nicht vergessen werden. 

IslamiQ: Sie haben als Zeugin am Internationalen Strafgerichtshof für Kriegsverbrechen in Den Haag ausgesagt. Wie haben Sie sich dabei gefühlt und wie empfanden Sie die Verhandlung?

Subašić: Wir haben nicht nur in Den Haag als Zeugen ausgesagt. Wir waren auch Zeugen bei den Gerichtsverhandlungen in Bosnien und Herzegowina. Und wir bezeugen die Wahrheit über Srebrenica seit Jahren auch bei unterschiedlichen Konferenzen und Kongressen.

Der Internationale Strafgerichtshof von Den Haag hat einiges unternommen. Die Verbrecher von Srebrenica wurden auf dem Staatsboden des ehemaligen Jugoslawiens verurteilt. Aber diese Verfahren haben sehr lange gedauert, und nicht alle Angeklagten haben die Strafen erhalten, die sie verdient hätten. Ratko Mladić, Radovan Karadžić, Simatović, Stanišić sind die Hauptverantwortlichen. Sie waren Beamte und Generäle aus Serbien. Und sie waren nicht nur am Völkermord in Srebrenica, sondern auch anderenorts an Kriegsverbrechen in Bosnien und Herzegowina, Kroatien und im Kosovo beteiligt.

Als Mütter von Srebrenica erwarten wir seit vier Jahren das Urteil des Gerichts von Den Haag. Für uns ist es wichtig, ob sie beim Urteil gerecht handeln werden oder die Verbrecher ungestraft freilassen. Wie auch immer das Urteil ausfallen wird, haben wir als Mütter von Srebrenica eine Entscheidung getroffen: Wir werden ein Ehrenmal und ein Mahnmal der Schande errichten. Auf dem Ehrenmal werden die Namen derjenigen stehen, die alles in ihrer Macht stehende getan und ohne Furcht über das Geschehen berichtet haben. Auf dem Mahnmal der Schande werden die Namen derjenigen stehen, die nichts unternommen haben, damit der Völkermord verhindert wird.

IslamiQ: Der Krieg gilt als beendet. Medienberichten zufolge gilt Lage in Bosnien als entspannt. Ist diese Einschätzung richtig? Herrscht Frieden in Bosnien?

Subašić: Der Krieg in Bosnien ist nicht vorbei. Es wird zwar nicht mehr auf Menschen geschossen, aber wir als Mütter müssen weiterkämpfen. Unsere Kinder und Enkel müssen weiterkämpfen. Denn es gibt Menschen, die den Völkermord verleugnen, und wir haben keine Gesetze zur Bestrafung dieser Verleugner. Wenn der Präsident einer Entität, die auf dem Völkermord errichtet ist, diesen leugnet, dann heißt dies, dass etwas nicht richtig läuft. In Serbien kennen viele Kinder die Wahrheit über den Völkermord nicht.

Juden leben in Deutschland heutzutage in einer guten Situation, denn die Deutschen haben ihre Fehler anerkannt und sind sich ihrer Verantwortung bewusst. Sie sprechen offen über dieses Thema und bestrafen die Verbrecher. Solange in Bosnien nicht diese Situation herrscht, kann von keiner Ordnung gesprochen werden. Solange dieses Problem nicht gelöst wird, können weder Mütter noch ihre Kinder oder Enkel mit der gegenwärtigen Situation zufrieden sein. Erst wenn die Serben, wie die Deutschen, ihre Verantwortung anerkennen, können wir von einem Schritt in die richtige Richtung sprechen. Wir leben noch nicht miteinander, sondern nur nebeneinander, weil wir dazu gezwungen werden. Ihren Politikern zufolge waren die Kriegsverbrecher Volkshelden. Sie belohnen sie, verteidigen sie und behaupten, dass sie nur dazu genötigt wurden, ein Volk zu vernichten.

Dieses Volk konnte aber nicht vernichtet werden. Wir leben auf unserem eigenen Boden und denken nicht daran, jemals hier wegzugehen. Als Mutter, die allein ist, sage ich meinem Sohn und meinen Enkeln: Bosnien gehört uns und auch wir müssen in Bosnien leben.

IslamiQ: Obwohl seit dem Völkermord 23 Jahre vergangen sind, geschehen auch heutzutage noch an unterschiedlichen Orten der Welt ethnische Säuberungen und Völkermorde. Ein Beispiel dafür sind die Rohingya. Was würden Sie als Mütter von Srebrenica den Müttern der Rohingya sagen?

Subašić: Aufgrund der Politik großer Mächte kommt es zu solchen Ereignissen. Sie denken wie die Serben, sie möchten ein Volk töten und vernichten. Wir als Mütter von Srebrenica haben uns entschieden, nicht zu schweigen. Ich bin wütend auf die Mütter in Rohingya, denn sie erheben nicht ihre Stimme. Sie dürfen das nicht von anderen erwarten. Denn die Welt ist böse. Erhebt eure Stimme und fordert euer Recht. Jeder hat das Recht auf Leben, seine Religion und Kultur und seine Bildung. Sie sollen ihre Rechte einfordern. Wir als Mütter von Srebrenica und Jepa haben weder auf die Politik noch auf die Welt gehört. Wir kannten unsere Rechte und sind der Gerechtigkeit gefolgt. Jetzt haben wir größtenteils Gerechtigkeit erfahren.

Leserkommentare

Salim Spohr sagt:
Ja, Srebrenica ist eine Schande für Serbien, für Holland, für Europa und die ganze Welt. So lange Serbiens politischen Führer nicht öffentlich Reue zeigen und Abbitte leisten, werden Serbien und die ganze die Welt gestört bleiben.
11.07.18
21:02
Dilaver Çelik sagt:
Es ist traurig und beschämend zugleich, was damals passiert ist und dass die Betroffenen lebenslang darunter leiden müssen. Vielen Dank für dieses Interview in einer sehr sensiblen Angelegenheit. Das Interview ist professionell gelungen, zudem es nicht einfach ist, mit traumatisierten Menschen ein Interview zu führen, da hier sehr viel Taktgefühl gefragt ist.
12.07.18
5:34
Andreas B sagt:
Ein trauriges Kapitel der jüngeren europäischen Vergangenheit. Leider wiederholen sich entsprechende Greuel auch heute wieder. In Syrien, im Jemen. Von Gaza gar nicht zu reden. Offenbar lernen wir als Gesamtheit nichts aus der Geschichte. Ich kann mir den Schmerz der überlebenden Mütter, Ehefrauen, Schwestern, Töchter nicht einmal im Ansatz vorstellen.
19.07.18
17:08