Haben wir schon genug zu Sarrazin gesagt? Nein, sagt der Islamwissenschaftler Elhakam Sukhni. In Zeiten des erstarkten Rassismus ist jede Gegenstimme nötig. Für IslamiQ hebelt Sukhni, die Thesen Sarrazins mit wissenschaftlichen Ergebnissen aus und zeigt nochmals die kultur-rassistische Vorgehensweise auf.
Man könnte meinen, es sei bereits genug zu Thilo Sarrazins neuem Buch „Feindliche Übernahme“ geschrieben worden und dass es ohnehin besser sei Sarrazin zu ignorieren. Jedoch ist die Strategie des „einfach-ignorierens“ in Zeiten von AfD und Co. verantwortungslos und außerdem deckt keine Rezension, auch die vorliegende nicht, die gesamte notwendige Kritik an Sarrazins fast 500 seitiger Neuveröffentlichung ab. Es muss besonders die vermeintlich sachliche Aufmachung des Buches mit fünf auf den ersten Blick vielversprechenden Kapiteln durchleuchtet werden, denn wenn der Untertitel bereits behauptet „DER Islam“ behindere den Fortschritt und bedrohe die Gesellschaft, können die Leser*innen außer Populismus eigentlich nichts Sachliches mehr erwarten.
Dieser kritischen Haltung ist sich auch der Autor Thilo Sarrazin bewusst und setzt bei seiner Einleitung jammernd auf eine Opfer- und Trotzhaltung. Islamkritiker hätten es heute ja so schwer, was ziemlich absurd ist, wenn man sich den immer schärferen und teils rassistischer werdenden Ton in Deutschland mal deutlich macht. Die Wissenschaftler Patrick Bahners und Mathias Rohe werden als seine Kritiker zwar erwähnt, aber er antwortet nicht wirklich auf deren Kritik und ist stattdessen ernsthaft der Meinung: „Zwar wurde nichts von dem, was ich zum Islam in „Deutschland schafft sich ab“ geschrieben oder vermutet hatte, seitdem wirklich widerlegt, aber publizistisch verfolgte ich in den Folgejahren andere Projekte.“ (S.9)
Sehr gerne zitiert Sarrazin Hamed Abdel-Samad, z.B. mit populistischen Aussagen wie, die Politik fürchte, Islamkritik könne zum einen „ihre Geschäfte mit islamischen Ländern, zum anderen ihre Migrations- und Flüchtlingspolitik stören.“ Wie polemisch dieser Ansatz ist, wird vielleicht deutlich, wenn man behauptete, der deutsche Staat würde sich nur gegen rassistische Angriffe auf Schwarze positionieren, damit Geschäfte mit afrikanischen Partnern nicht beschädigt werden, oder Antisemitismus werde nur thematisiert, um Israel zu gefallen.
Auch Bassam Tibi wird in diesem Zusammenhang zitiert, der behauptet, für kritische Meinungen gäbe es einen Maulkorb und seine Meinung wolle man nicht hören. Sarrazin stimmt ihm zu und behauptet, dass sich Tibis Erfahrung mit seiner decke. Dass es vielleicht an den „Meinungen“ und nicht an der Bereitschaft ihnen zuzuhören liegt, kommt den beiden Herren bei ihrer Selbstüberschätzung nicht in den Sinn. Sarrazin stilisiert sich somit zu einem Kämpfer der rebellischen Bewegung in Deutschland, die sich den Mund nicht verbieten lässt, ganz nach dem Motto besorgter Bürger „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ und „Wach auf Deutschland! Wir decken jetzt die Wahrheit auf“, die von der „Lügenpresse“ mit ihrer verdammten political correctness vertuscht wird.
Populistisch und vereinfachend bleibt Sarrazin durchgehend und räumt an einer Stelle mal ein, „diese Analogie mag polemisch wirken, aber nachdenklich stimmen sollte sie schon“ (S.12). Ja natürlich. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen…
Das gesamte Buch trieft nur so vor eurozentristischer Arroganz und Sarrazins Vorschlag für die „vernünftigste Lösung“, nämlich „eine Aufhebung der Unterschiede durch Vermischung der verschiedenen Ethnien“ (S.13) ist dabei recht kulturalistisch, wenn klar ist, dass diese Vermischung nur dazu beitragen soll, dass, wie er schreibt, diese „Unterschiede nicht übermäßig sind und die gemeinsamen Grundlagen fühlbar bleiben.“ Die Antwort darauf, was diese gemeinsamen Grundlagen sein sollen, bleibt er bei aller abstrakter Darstellung mit leeren Worthülsen den Leser*innen schuldig. Der Lösungsvorschlag klingt einfach nur wie „ethnische Säuberung“ ohne Gewalt.
Dabei entsteht die Frage, was Sarrazin eigentlich zum Ausdruck bringen will, wenn er schreibt: „Einwanderer sollten intergrationswillig sein. Ihre Zahl sollte so bemessen und ihre Zusammensetzung so gemischt sein, dass sich in Europa keine verfestigen ethnischen Untergruppen bilden“, und dann nahtlos an diesen Satz anfügt: „Der in Europa lange Zeit weitverbreitete Antisemitismus erklärte sich nicht nur aus der religiösen Sonderrolle der Juden, sondern auch aus ihren besonders großen Erfolgen in Wirtschaft und Wissenschaft. Das führte zu Neidreaktionen (…).“ Was möchte uns der Autor hier denn sagen? Man müsse sich zwar gut integrieren, aber wie wir sehen hatte auch das nicht gereicht, um die Juden in Deutschland zu schützen? Hätte man also ihre „Zahl“ besser „bemessen“ sollen und sind die Juden also selbst schuld, weil sie sich nicht einfach mit der Mehrheitsbevölkerung verschmelzt haben und so ganz einfach in ihr verschwunden sind?
Dass Integration wohl scheinbar kein Garant dafür ist, von Sarrazin akzeptiert zu werden, zeigt auch das Beispiel der Politikerin Sawsan Chebli. Sarrazin hält sich lieber mit Cheblis Vater auf, der nach 40 Jahren in Berlin nicht die Gelegenheit hatte richtiges Deutsch zu lernen, anstatt Sawsan Chebli selbst anzuerkennen, die es als Tochter einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie geschafft hat, „trotz“ ihres arabischen Hintergrunds und „obwohl“ sie sich als gläubige Muslima mit Respekt vor traditionellen Werten positioniert, eine erfolgreiche politische Karriere vorzuweisen. Sarrazin bevorzugt offensichtlich lieber die mehrmalig in seinem Buch erwähnte Ayaan Hirsi Ali. Eine gute Frau, weil „Islamkritikerin“. Dass Ali jedoch bei ihrer Einreise in die Niederlande die Behörden belogen hat, um politisches Asyl zu erschleichen und auf eben diesen Lügengeschichten ihre spätere Karriere und das Image der gepeinigten, verfolgten muslimischen Frau aus Afrika aufgebaut wurde, interessiert heute weder Sarrazin noch sonst irgendeinen der besorgten Bürger.
Es reicht nicht aus, dass Sarrazin die Positionen renommierter Islamwissenschaftler wie Mathias Rohe anzweifelt, ohne Fakten zu nennen, sondern einfach nur pseudo-kritische Fragen in den Raum wirft. Der Volkswirt wird selbst zum Islamexperten und führt Interessierte im Kapitel „Die Religion des Islam“ zunächst in die Grundlagen des Korans, die Glaubensinhalte, Jenseitsfragen, sowie Fragen des islamischen Rechts ein und zeigt sich sogar als Hadithwissenschaftler, der bei an-Nawawi erwähnte Aussagen des Propheten interpretiert. Da er „zur Religion des Islam nicht von Behauptungen und Einschätzungen aus zweiter Hand leben möchte“, so Sarrazin, habe er den Koran gelesen. Ein Studium der islamischen Theologie ist scheinbar nicht mehr nötig und die verschiedenen mehrbändigen Hadith-Kommentare und Koraninterpretationen verschiedener islamischer Koranexegeten aus verschiedenen Jahrhunderten sind alle irrelevant, denn es reicht eine deutsche Übersetzung (!) gelesen zu haben, um sich eine abschließende Meinung über den Islam zu verschaffen.
Dass der Koran aus 114 und nicht 113 Suren besteht, wie man bei Sarrazin lernt, hat er wohl nicht bemerkt, als er den Koran las. Auch die Ungenauigkeit der tatsächlich weitverbreiteten Behauptung, die Suren seien „in absteigender Reihenfolge nach ihrer Länge geordnet“ hätte er bei einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Koran selbst feststellen können. Allem Anschein nach hat Thilo Sarrazin den Koran höchstens überflogen und sich seine Infos hauptsächlich aus der Sekundärliteratur zusammengestellt. Neben seiner persönlichen Koranexpertise ist Namedropping nämlich das zweite Standbein seiner Analysen. Es weckt natürlich den Eindruck, sich in der Islamwissenschaft gut auszukennen, wenn man Marco Schöller, Gilles Kepel, Tilman Nagel oder Rudi Paret zitiert. Auch den Thesen des umstrittenen Islamwissenschaftlers Abdel-Hakim Ourghi gibt Thilo Sarrazin besonders viel Raum. Jedoch hat selbst Ourghi kein gutes Wort für Sarrazins neues Buch übrig und beklagt in einem Beitrag für cicero.de mit dem Titel „Rassismus im Gewand der Religionskritik“, dass der Diskurs über den Islam dominiert werde „von Stimmen, die laut und undifferenziert, aber erfolgreich Alarm schlagen. Dazu braucht man“, so Ourghi weiter, „anscheinend weder Kenntnisse des Arabischen noch aktive Erfahrung mit den Muslimen und der islamischen Welt, weder Vertrautheit mit den Originalquellen noch eigene Recherchen. Einer dieser lauten Stimmen ist der Volkswirt und Publizist Thilo Sarrazin.“
Sarrazin verleugnet zudem die Beiträge großer muslimischer Persönlichkeiten zur Wissenschaft und behauptet dreist, der Koran stünde Wissen und Fortschritt aktiv im Weg. Bedauerlich nur, dass ihn sein eigenes mangelndes Wissen zu solchen Behauptungen verleitet, da er offensichtlich Namen nicht kennt, wie Ibn al-Haytham, Al-Kindi, Jabir ibn Hayyan, Avicenna, Al-Khwarizmi, al-Jazari, Ibn al-Nafis oder Ibn Khaldun.
Aber Sarrazin hat gar kein Interesse irgendetwas positives aus der islamischen Welt hervorzuheben, oder sich ernsthafte Gedanken über gesellschaftliche und politische Konflikte zu machen. Es ist viel einfacher weiter „dem“ Islam die Schuld an allem zu geben, wenn man eine kultur-rassistische Weltsicht vertritt. Die hohe Mordrate im mehrheitlich christlichen Mexico, die Gewalt gegen Frauen im mehrheitlich hinduistischen Indien oder all die anderen weltweit exerzierenden Konflikte würde Sarrazin wohl nicht mit der lokalen Religion und deren Einfluss auf die „Mentalität“ der Menschen begründen. Außer bei Muslimen, denn da weiß Thilo Sarrazin: „Die Religion des Islam hat eine mental prägende Kraft, und diese Prägung ist in vielerlei Hinsicht negativ. Das zeigt sich in der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verfassung der islamischen Länder, in den Problembereichen islamischer Gesellschaften sowie in der schlechten sozioökonomischen Integration der Muslime in Deutschland und Europa.“ (S.423)
Thilo Sarrazin beklagt, dass Kritiker seiner Art mit Rassismusvorwürfen zu kämpfen hätten. Wenn 1,5 Milliarden Menschen, von Marokko, über den Niger, bis nach Oman und Malaysia gemeinsame, negative Merkmale zugeschrieben werden, nur weil man sie aufgrund ihrer gemeinsamen Religion kollektiv rassifiziert, ja dann ist das Rassismus! Thilo Sarrazins Herangehensweise ist auch nicht neu oder bahnbrechend, sondern typisch für das „rassistische Wissen“, dessen Inhalte sich „aus dem in der hegemonialen Gruppe verbreiteten kulturellen Wertekanon“ ergibt, wie Mark Terkessidis es bereits 1998 in Psychologie des Rassismus (S. 59f.) beschreibt. Nun, diese Sicht mag für einen Herrn Sarrazin vielleicht „polemisch wirken, aber nachdenklich stimmen sollte sie schon.“