In Marokko fand erstmals ein jüdisch-muslimisches Forum statt. Es kamen über 150 TeilnehmerInnen zusammen, die unterschiedlicher nicht sein können. Unser Autor Ersin Demircan hat an der Konferenz teilgenommen und berichtet von seinen Erlebnissen.
Vom 28. August — 1. September trafen sich engagierte Juden und Muslime in Essaouira, Marokko, um mehr voreinander zu lernen, Vorurteile abzubauen, Gemeinsamkeiten zu finden und gemeinsam Lösungen zu finden, die unser Zusammenleben in schwierigen Zeiten wie diesen zu fördern sollen. Über einhundert Muslime und Juden aus aller Welt, die sich in ihren Communities für Gleichberechtigung und Gerechtigkeit einsetzen, sind dem Aufruf gefolgt und nach Marokko gereist.
Zugegeben, meine erste Reise nach Marokko hätte ich mir anders vorgestellt. Nie hätte ich gedacht, dass ich ausgerechnet in Marokko mehr über das Judentum lerne und neue Freundschaften mit Juden und Muslimen aus aller Welt schließe. Dazu gekommen ist es durch eine spontane Bewerbung für das Muslim-Jewish Interfaith Coalition Forum, das erstmalig im Osten Marokkos stattfand.
Wir reden, doch kennen wir uns?
Was mich genau geritten hat, mich mit wildfremden Leuten auf einem anderen Kontinent zum Wohle der Völkerverständigung zu treffen, kann ich nicht genau sagen. Ich wollte aber mehr über die Religion und die Menschen lernen, über die wir sonst oft reden. Auch Sie haben Stimmen, die gehört werden sollte.
Über eine Religionsgemeinschaft zu reden und zu urteilen, ohne, dass wir sie zu Wort kommen lassen und nur den Lautesten von ihnen Aufmerksamkeit schenken, kennen wir als Muslime sehr gut. Dass die Mechanik jedoch auch in unseren eigenen Reihen kräftig Antrieb nimmt, ignorieren wir oft und versuchen den Hass, der durch den Konflikt in Israel aufgewirbelt wurde, zu relativieren.
Während der Konferenz hatten Teilnehmer die Möglichkeit, durch WissenschaftlerInnen aus Tunesien, Deutschland und den USA mehr über die andere und die eigene Religion zu lernen. Es war interessant zu beobachten, dass Juden und Muslime nur sehr wenig über die Religion des anderen wussten und ihr Wissen auf Klischees fußte, die durch die Konferenz beseitigt werden konnten.
Historischer Blick nach Marokko
Mein persönliches Highlight war vor allem der Besuch und die Rede von André Azoulay, Berater des marokkanischen Königs und ein Pionier des interreligiösen Dialogs. Im Alter von 77 führte er uns später auch persönlich durch seine Heimatstadt Essaouira, in dessen jüdischen Gemeinschaft er aufgewachsen ist. Essauoira ist und war Heimatort tausender Juden, die hier bis auf wenige Ausnahmen in der Geschichte Schutz vor Verfolgung gefunden haben und ein friedliches Leben führen konnten. Bis heute findet man in der Stadt dutzende Davidsterne und “Barakat Mohammed”-Symbole, (das sind Symbole mit dem Segenswunsch für den Propheten Muhammad (s), die in den alten Steinmauern eingemeißelt sind. Alleine daran kann man erkennen, dass Muslime und Juden lange und auch oft in Frieden gelebt haben.
Einheimische wie Fanny Mergui erzählten uns von ihren Erfahrungen, als Juden in Marokko aufzuwachsen. Durch ihre französische Wurzeln konnte sie auch von den Erfahrungen ihrer Mutter erzählen, die beispielsweise einige Strände in Frankreich nicht besuchen konnte, da Juden und Hunde nicht erwünscht waren, wie auf Schildern zu lesen war. Das zu hören und auch mitzubekommen, wie einige der Teilnehmer ihre Kippa unter Mützen versteckten, da sie Angst vor Anfeindungen auf der Straße hatten, machte mich sehr traurig und ließ mich nochmal deutlich erkennen, dass Juden schon seit Jahrzehnten mit Anfeindungen zu kämpfen haben.
Antisemitismus und Islamfeindlichkeit
Auch wurde offen über Antisemitismus und Islamfeindlichkeit in unseren Communities geredet und beispielsweise Koranverse analysiert und diskutiert, die oft für den schamlosen Antisemitismus fälschlich genutzt werden. Es erinnerte mich an eine Diskussion, die ich vor einigen Jahren mit Freunden führen musste, die mir erklären wollten, dass Juden verflucht sind und unsere Feinde seien. Damals fehlte es mir leider an Argumenten abseits von gesundem Menschenverstand, um diese Menschen vom Hass abzubringen. Argumente und Grundlagen gegen den Hass, die ich in dieser Woche reichlich zu hören bekommen habe.
Gebete, Tränen, Koranrezitationen
Mein persönliches Höhepunkte war das Asr-Gebet, das wir gemeinsam durchgeführt haben, gefolgt vom Gebet zu Beginn des Sabbat, an dem wir ebenfalls gemeinsam teilnahmen.
Das Gebet wurde von einem usbekischen Juden geführt, der in einer griechisch-türkisch-osmanischen Synagoge in Seattle groß geworden ist. Selbst für die anwesenden Juden war dieses etwas andere Gebet eine neue Erfahrungen und zeigt, wie viele wertvollen Dinge und Details wir ignorieren, wenn wir pauschalisieren. Eine besondere Erfahrung war auch zu sehen, wie die jüdische TeilnehmerInnen von der Koranrezitation gerührt waren, so dass auch einige Tränen flossen.
Im Allgemeinen war es eine sehr harmonische Erfahrung, die uns deutlich näher brachte. Sie zeigte mir nochmals, welchen deutlichen Mehrwert Zusammenhalt und Solidarität gegenüber Hass bietet.
Aktiv werden!
Was für weltoffene Menschen selbstverständlich klingt, ist das Feindbild von Ideologien und Weltvorstellungen, die uns zu ihrem egoistischen Interesse trennen möchten. Ich bin mir auch bewusst, dass es aus unserer privilegierten Perspektive einfach zu sein scheint, Lösungen zu sehen und eine friedliche, bunte Welt zu prophezeien. Wir müssen jedoch dringend gemeinsam daran arbeiten, Hass in unseren eigenen Reihen zu bekämpfen. Niemand anderes hat so einen Zugang zu unserer Community wie wir selbst. Viel zu oft empören wir uns über Geschehnisse, die besonders in Zeiten von Social Media dazu führen, eigene Vorurteile zu bekräftigen und die Lage sehr oberflächlich über Clickbait-Schlagzeilen zu beurteilen, statt Dinge zu hinterfragen und sich aktiv für Zusammenhalt und Freundschaft zu engagieren.
Es ist sicherlich bequem, politische Meinungen im Bett vor dem Smartphone zu bilden, doch Lösungen, und das kennen wir von vielen Lebenssituationen, finden sich nur, wenn man aufsteht, liest und sich für Veränderungen einsetzt, angefangen bei der eigenen Gemeinschaft. Das zeigt uns auch das Lebenswerk des Propheten Muhammad (s).