Literatur

Muslimische SciFi: Tausendundeine Fiktion

Beim Stichwort Zeitreisen oder Abenteuer in den tiefen des Alls denken viele vor allem an westliche Autoren. Mitnichten! Muhammad Aurangzeb Ahmad stellt die reiche Tradition muslimisch-arabischer SciFi-Literatur vor.

29
09
2018
Muslimische Fiktion - keine Seltenheit. © shutterstock
Muslimische Fiktion - keine Seltenheit. © shutterstock

Für viele westliche Leser scheinen die Konzepte „orientalisch-muslimische Literatur“ und „spekulative Fiktion“ nicht recht zusammenzupassen. Zumindest wird der Beitrag muslimischer Autoren zu diesem Genre häufig übersehen. Dabei genügt schon ein Blick in „Tausendundeine Nacht“, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Ob unsichtbare Wesen, Zeitreisen, futuristische Flugmaschinen oder Reisen zu fremden Planeten – die berühmte Märchensammlung aus dem 9./10. Jahrhundert n. Chr. ist voll von solchen und anderen Geschichten.

Ich verwende den Begriff „spekulative Fiktion“ für jede Erzählung, die sich mit den möglichen Auswirkungen echten oder erdachten kulturellen bzw. wissenschaftlichen Fortschritts auseinandersetzt. Erste genretypische Werke entstanden bereits während des sogenannten „Goldenen Zeitalters“, einer kulturellen Blütezeit der islamischen Geschichte. Das islamische Reich erstreckte sich von Andalusien im Westen bis nach Indien im Osten. Eine der bekanntesten Utopien, die sich mit der Frage auseinandersetzten, wie eine solches Kaleidoskop des Kulturen und Völker integriert werden könne, ist „Al-Madînat al-fazîla“ (Die tugendhafte Stadt). Im 9. nachchristlichen Jahrhundert von dem Gelehrten und Philosophen Abû Nasr Muhammad Al-Fârâbî verfasst, gilt sie heute als eines der wichtigsten Werke der aufsteigenden muslimischen Zivilisation. Beeinflusst von Platons „Der Staat“ entwarf Fârâbî die Idee einer vollkommenen, von muslimischen Philosophen geleiteten Gesellschaft, die als Vorlage für die Regierungsführung im islamischen Herrschaftsraum dienen sollte.

Neben der politischen Philosophie hinterließen auch die Debatten über die Bedeutung des Verstandes ihre Spuren in der muslimischen Literatur jener Zeit. Ibn Tufayl, andalusischer Philosoph und Arzt, schrieb im 12. Jahrhundert den ersten arabischen Roman „Der Philosoph als Autodidakt“ (wörtlich eigentlich: „Der Lebende, Sohn des Wachenden“). Darin wird ein Kind auf einer entlegenen Insel von einer Gazelle aufgezogen und wächst ohne irgendwelche kulturellen oder religiösen Einflüsse auf, bis es schließlich einem Schiffbrüchigen begegnet. Die Geschichte, eine Art arabischer „Robinson Crusoe“, kann als Gedankenexperiment gelesen werden: Ist es möglich, dass ein vernunftbegabter Mensch seine Umwelt und das Universum ohne äußeres Zutun verstehen kann? Das Buch nimmt bereits zahlreiche Themen vorweg, mit denen sich viel später die Philosophen der Aufklärung, unter ihnen John Locke und Immanuel Kant, befassen würden, z. B. das Wesen der menschlichen Natur, Empirismus, die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Rolle des Individuums in der Gesellschaft usw.

Auch das erste feministische Science Fiction-Werk der islamischen Welt verdanken wir einer muslimischen Autorin. 1905 legte Rokeya Sakhawat Hussain, eine bengalische Schriftstellerin und Aktivistin, ihre Kurzgeschichte „Sultanas Traum“ vor. In Hussains fiktivem „Ladyland“ haben Frauen ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten dazu benutzt, eine Revolution gegen die Männer durchzuführen, die den weiblichen Bildungshunger bis dahin als „gefühlsduseligen Albtraum“ abgetan hatten. Das Ergebnis ist eine friedfertige Gesellschaft, in der jetzt die Frauen das Sagen haben. An einer Stelle bemerkt die Besucherin Sultana, wie die Leute über sie kichern. Ihre Führerin erklärt:

– „Die Frauen sagen, dass du sehr männlich aussiehst.“

– „Männlich?“, sagte ich, „Was meinen sie damit?“

– „Sie meinen, du seist scheu und zurückhaltend wie die Männer.“

Das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern macht Sultana neugierig:

– „Wo sind die Männer?“, fragte ich sie.

– „Dort, wo sie hingehören.“

– „Würdest du mir bitte erklären, was du damit meinst, ‚wo sie hingehören‘?“

– „Oh, natürlich, du warst noch nie hier, du kannst unsere Sitten nicht kennen. Wir schließen unsere Männer zu Hause ein.“

Ab dem frühen 20. Jahrhundert wurde die spekulative Fiktion in der islamischen Welt zu einer Form des Widerstands gegen den westlichen Kolonialismus. In dem 1934 erschienenen Roman „Gand‘oki“ des nigerianischen Autors Muhammadu Bello Kagara kämpft die indigene Bevölkerung in einem von Dschinn und anderen mystischen Kreaturen bewohnten alternativen Westafrika gegen die britischen Kolonialherren.

Mit dem Zusammenbruch der westlichen Kolonialreiche in den folgenden Jahrzehnten verknüpften sich politische Utopien dann mit einem gewissen Zynismus, so beispielsweise bei dem marokkanischen Autor Muhammad Aziz Lahbabi. In „Das Elixier des Lebens“ soll ein magisches Elixier Unsterblichkeit verleihen. Doch statt Hoffnung und Freude stiftet der Trank Klassenhass, das soziale Gefüge löst sich auf und es kommt zu Aufständen.

Manch zeitgenössische orientalische Erzählung ist sogar noch düsterer. Der Schriftsteller Ahmad Saadawi versetzt Frankensteins Kreatur in den modernen Irak. Die Körperteile dieses Monstrums, das in der irakischen Hauptstadt sein Unwesen treibt, stammen von den Opfern ethnischer und religiöser Gewalt. „Frankenstein in Bagdad“ (2013) setzt sich mit der Sinnlosigkeit des Krieges und dem Tod von Unbeteiligten auseinander.

Der 2012 erschienene Jugendroman „Ajwan“ von Noura Al-Noman begleitet die junge Heldin, einer echsenähnlichen Außerirdischen, auf der Suche nach ihrem entführten Sohn. Al-Nomans Buch spricht Themen wie den Umgang mit Flüchtlingen und politische Indoktrination an. In den Vereinigten Arabischen Emiraten, der Heimat der Autorin, wird es inzwischen für das Fernsehen verfilmt. Der Debütroman „HWJN“ (2013) von Ibrahim Abbas und Yasser Bahjatt aus Saudi-Arabien handelt von Geschlechterbeziehungen, religiösem Fanatismus und Unwissenheit. Er bietet eine naturalistische Begründung für die Existenz von Dschinn-Wesen an, die in einem Paralleluniversum leben. In seiner 2008 erschienenen Dystopie „Utopia“ versetzt Ahmad Tawfiq seine Leser ins Ägypten des Jahres 2023. Nach dem völligen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch des Landes hat sich die Oberschicht in eine geschlossene Wohnanlage zurückgezogen. Auch Basma Abdel Aziz versetzt in „The Queue“ ihre Leser in eine kafkaeske Welt. Nach einem gescheiterten Aufstand kämpfen hilflose Bürger unter der Knute eines verrückten und bösen Diktators ums Überleben.

Spekulative Fiktion wird oft mit der europäischen Romantik in einen Topf geworfen und als Antwort auf die Industrielle Revolution verstanden. Wenn uns unser schneller Ritt durch Jahrhunderte islamischer Literaturgeschichte jedoch eines gezeigt hat, dann dies: Der Entwurf von Gesellschaftsutopien, das Verwischen von Grenzen zwischen menschlichem Geist, Maschine und Tier oder die Vorstellung fantastischer Technologien ist nicht ausschließlich dem Westen vorbehalten.

 

 

Der Artikel erschien zuerst am 27. Juni 2017 auf https://www.intellectualtakeout.org/article/muslim-tradition-sci-fi-and-speculative-fiction

 

 

Leserkommentare

Emanuel Schaub sagt:
Dank für den Beitrag (wenn KRITIKA ihn doch recht s t u d i e r e n ... möge! gruss emanuel
01.10.18
12:20