Was hat Essen mit Identität, Ideologien und Utopien zu tun? In einem Gastbeitrag zeigt der Philosoph Hans Werner Ingensiep, dass Essen schon immer mehr war als einfach nur Nahrungsaufnahme.
„Menschliche Kost ist die Grundlage menschlicher Bildung und Gesinnung. Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm statt Deklamationen gegen die Sünde bessere Speisen. Der Mensch ist, was er ißt. Wer nur Pflanzenkost genießt, ist auch nur ein vegetierendes Wesens, hat keine Tatkraft.“
Dieser für heutige Leser seltsam klingende Satz stammt von Ludwig Feuerbach. In seiner Rezension der „Lehre der Nahrungsmittel. Für das Volk“ (Jakob Moleschott, 1850) stellte Feuerbach die These auf, dass nur die richtige Ernährung zu einem gesunden, klar denkenden und tatkräftigen Menschen führe. Damit sei die Ernährung letztlich auch für den Erfolg einer politischen Revolution grundlegend. Mit dieser Sichtweise steht Feuerbach in der Tradition sozialkritischer Philosophen wie Marx, Engels und Julien Offray de La Mettrie. Diese betrachten den menschlichen Körper als materielle Maschine, deren Natur und Identität sich durch die Gabe des richtigen Stoffgemischs gezielt beeinflussen ließe.
Mehr als 150 Jahre später muss dieses Schlüsselzitat aus Feuerbachs Rezension den modernen Leser stutzig machen. Politische Identität und Ernährungsweise müssen heute nicht unbedingt viel miteinander zu tun haben. Vielmehr werden in unserer Gesellschaft ganz unterschiedliche Ernährungsformen gepflegt, vom Vegetarier und Veganer über Rohköstler und Verfechter einer quasi-urzeitlichen getreidefreien Ernährungsweise bis zum pragmatischen Flexitarier.
Die neue Vielfalt und Suche nach einer besonderen Identität auf der Grundlage einer selbstgewählten Ernährungsform macht auch nicht vor alten Gewohnheiten oder religiösen Prägungen halt. So gibt es ökologisches und koscheres Essen bei Juden oder Ökovegetarismus bei überzeugten Christen, die sich auf eine Paradiesvorstellung berufen, in welcher Löwe und Lamm friedlich nebeneinander lebten. Unter meinen muslimischen Studierenden treffe ich immer häufiger solche an, die sich informiert, reflektiert, eloquent und kritisch mit der Ernährungsform ihrer Elterngeneration und der agrarindustriellen Massentierhaltung auseinander setzen. Manche haben sich im Zeichen eines idealistischen oder spirituellen Menschenbildes für eine vegane Lebensform entschieden.
Hier und da entstehen neue religiöse oder säkulare Praktiken und moralische Instanzen, gerade wenn es um die Schlüsselfrage im Mensch-Tier-Verhältnis geht, nämlich um die Tötung von Tieren zu säkularen oder rituellen Zwecken. Natürlich spiegelt sich mein Verhältnis zum Tier oder zur Natur auch in meiner Ernährungsweise und es ist gut, ernsthaft darüber nachzudenken. Doch weder religiöse Dogmen noch politische Ideologien haben dabei heute noch das Gewicht, das Feuerbach oder Marx der rechten Ernährung des Volkes auferlegten – oder?
Wir können die Frage nach der Ernährung auch aus einer nüchternen Vernunftperspektive betrachten. Jedem aufgeklärten Bürger dieses Staates muss es als Skandal der Vernunft und moralisch unentschuldbar erscheinen, dass genau in diesem Moment rund um den Erdball Menschen verhungern. Vernünftig, gerecht und immer noch aktuell ist es zu glauben, dass jedem Menschen die täglichen Mittel zur Aufrechterhaltung seiner physischen Existenz garantiert werden müssen. Die individuelle und politische Praxis unterläuft jedoch nicht nur diese Vision der Vernunft, sondern nahezu jede Utopie der Ernährung. Auch Vegetarier oder Veganer wissen davon zu berichten.
Im Laufe der menschlichen Kulturgeschichte haben sich immer wieder Ernährungsutopien herausgebildet, die das Potential besaßen und besitzen, den „guten Geschmack“ nicht nur ästhetisch, sondern auch ethisch-politisch zu irritieren. Diese Utopien bieten ein „Arsenal“ theoretischer Argumente und praktischer Konzepte für eine gerechtere Zukunft der Welternährung.
Seit wann und warum beschäftigte sich die Menschheit mit ihrer Ernährung? Die triviale Antwort lautet: Seitdem auffiel, dass es immer mehr Menschen gab! Wildbeuter, Sammler und Jäger waren zu sesshaften Bauern geworden und bauten Nutzpflanzen an. Der Mensch lernte, seine Hand zur Bodenbearbeitung durch Hacken, Säen, Bewässern, Ernten usw. zu gebrauchen. Die Landwirtschaft funktionierte vor allem an großen Flüssen gut. In den Hochkulturen Chinas, Indiens, Mesopotamiens und Ägyptens lernte man, den Alluvialboden und die regelmäßigen Wasserfluten in großem Umfang zu nutzen. In solchen Hochkulturen entstanden nicht nur neue Religionen, sondern auch die ersten Utopien der Ernährung, zum Beispiel die Vorstellung vom vegetarischen Garten Eden in Mesopotamien oder der spirituelle Vegetarismus in Indien. Diese Utopien individueller Ernährung waren also religiös motiviert und dienten auch der Aufrechterhaltung einer komplexen agrarischen Hochkultur.
Die Idee, bloß von Pflanzen zu leben, wäre frühen Wildbeutern und Jägern nicht in den Sinn gekommen. Sie konnte erst mit der Anpassung des Menschen an die immobile Lebensform der Pflanze und der Herausbildung einer „vegetarischen“ Agrarkultur entstehen.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwarf der deutsche Physiker und Philosoph Kurd Lasswitz die Vision einer künstlich erzeugten Nahrung, die sogar völlig ohne pflanzliche Bestandteile auskommen sollte. In seinem Roman „Auf zwei Planeten“ knüpft Lasswitz damit indirekt an das an, was der britische Philosoph Francis Bacon bereits Anfang des 17. Jahrhunderts voraussah und was in der Gegenwart bereits teilweise Realität geworden ist: die gezielte Manipulation von Bäumen und Pflanzen. Heute haben wir eine „grüne“ Gen- und Biotechnik als globales Forschungsprogramm und vielleicht in Zukunft auch Kunstfleisch als Basis des Lebens.
Klassische Agrarutopien haben ihre besondere Faszination bis heute nicht verloren. In Europa gaben mittelalterliche christliche Mönche ebenso Impulse wie die griechischen Orphiker oder die Pythagoräer. Immer ging es darum, eine individuelle Lebensform mit der richtigen Ernährung bzw. mit einem Menschenbild in Einklang zu bringen.
Im Zuge der Aufklärung im 18. Jahrhundert wurden diese Lebensformen säkularisiert im Geiste eines Rousseau und bis zum sogenannten „Vegetarianismus“ des 19. Jahrhunderts transformiert. Eine natürliche, pflanzliche Ernährungsweise galt als Basis für dauerhaften Frieden. Philosophen wie Marx, Feuerbach, Nietzsche und Hartmann waren hingegen davon überzeugt, nur eine politische Revolution und die Nutzung neuer Technologien könne umfassende soziale Gerechtigkeit herstellen und das immer drängender werdende Hungerproblem lösen. Dazu jedoch mussten politische Lösungen jenseits des „Vegetarianismus“ gefunden werden. Ohne Fleisch stehe nämlich eine Epoche des geistlosen Mittelmaßes und letztlich des kulturellen Untergangs bevor. In diesem Sinne lesen wir bei Feuerbach: „Der Mensch ist, was er isst!“.
Im 20. Jahrhundert standen wissenschaftlich-technische Utopien sozial-ethischen Utopien gegenüber, in denen stets auch die Kritik an der modernen Agrarindustrie eine Rolle spielte.
Agrikultur ist demzufolge nicht nur die Produktion von Nahrungsmitteln, wie Ökonomen glauben, sondern erfüllt drei Aufgaben: 1. den Menschen mit der lebenden Natur in Berührung zu bringen, deren verwundbarer Teil er sei, 2. das menschliche Habitat zu humanisieren und zu veredeln, und 3. Nahrungsmittel für das werdende Leben bereit zu stellen.
Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Dennis Meadows, der bereits im Jahr 1972, sehr zum Verdruss der westlichen Industrienationen, die „Grenzen des Wachstums“ proklamierte, ist immer noch der Auffassung, dass das weltweit produzierte Getreide bei gerechter Verteilung acht Milliarden Menschen ernähren könne. Wer würde heute nicht gerne solchen Prognosen glauben?
„Was sind wir dafür schuldig, daß wir von anderem Leben leben?“, fragte der in diesem Jahr verstorbene deutsche Naturphilosoph und Physiker Klaus Michael Meyer-Abich einmal. Meyer-Abich wandte sich gegen die klassische anthropozentrische Ethik, die den Blick von der Natur abwendet und nur auf den Menschen richtet. „Um das Mitsein im menschlichen Leben nicht auf die bloße Mitmenschlichkeit zu verengen, gilt es also die außermenschliche Natur als unsere natürliche Mitwelt wahrzunehmen, nicht nur als ein Ensemble von Ressource.“ Dazu gehören Tiere, aber auch Pflanzen und Landschaften, die nicht bloß „Ressourcen“ sind. Auch im Hinblick auf die Nahrung, unsere Nahrungsmittelwahl und unsere Art der Ernährung sind wir nach Meyer-Abich selbst den getöteten Tieren und auch den verzehrten Pflanzen noch etwas schuldig.
Zunächst sollen wir uns die Lage klar machen. „Wir können nicht leben, ohne von anderem Leben zu leben.“ Selbst wenn wir Tiere und Pflanzen verzehren, sind wir ihnen Respekt vor ihrem Eigenwert und individuellem Leben schuldig. Nach Meyer-Abich können wir diesen beim Essen in mindestens dreierlei Hinsicht zum Ausdruck bringen.
Erstens müssen wir die Vorgeschichte der Lebewesen berücksichtigen und sind daher mitverantwortlich für unsere Essenswahl. Ein Beispiel: „Wenn Fleisch aus der Massentierhaltung gegessen wird, ist es die Tierquälerei, die auf den Tisch kommt.“ Zweitens sind wir auch zu einer besonderen Esskultur verpflichtet: „Wir sind den Pflanzen und Tieren, wenn wir sie schon verspeisen, wenigstens schuldig, dies in Dankbarkeit und Freude zu tun.“ Drittens haben wir angesichts der naturphilosophischen Verwandlung der organischen Nahrung in uns und unserem Leib auch einen grundsätzlichen Auftrag, mehr Kultur in die Welt zu bringen: „Wir sind ihm im Ganzen der Natur schuldig, mit seiner Kraft unserer Natur nach das anzufangen, wofür ein Mensch gut ist.“
Im Sinne dieses physiozentrischen Weltbildes verweist das Feuerbach’sche Zitat „Der Mensch ist, was er isst“ also auf eine existenzielle Lebensfrage, der sich jeder stellen muss, was auch immer sie oder er isst.