Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute Misbah Arshad über islamische Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen.
IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?
Misbah Arshad: Ich bin im Kleinkindalter mit meiner Familie aus Pakistan nach Deutschland ausgewandert und habe meine gesamte Bildungslaufbahn in Frankfurt am Main absolviert. An der Goethe-Universität Frankfurt habe ich dann auch direkt nach dem Abitur mein Studium der „Islamischen Religionswissenschaften“ begonnen. Neben dem Studium nahm ich an einer zweijährigen Ausbildung zur Islamischen Krankenhaus- und Notfallseelsorgerin teil, die meine theologischen Kompetenzen im Bereich der praktischen Theologie abrundete. Und weil ich mich schon immer für pädagogische Prozesse interessiert habe, habe ich mich für ein Doppelstudium entschieden und Erziehungswissenschaften als zweites Studienfach oben draufgelegt. Diese Studienkombination und meine berufliche Erfahrung in islamischen Kindertageseinrichtungen motivierten mich zu einer Promotion im Bereich der Religionspädagogik. Aus diesem Grund arbeite ich derzeit an meiner Dissertation zum Thema „Islamische Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen – Grundlagen und Umsetzung einer Islamischen Religionspädagogik im Elementarbereich“ am Institut für Islamische Theologie (IIT) an der Universität Osnabrück und habe die Ehre zu den ersten Promotionsstipendiaten des Avicenna-Studienwerks zu gehören.
IslamiQ: Können Sie uns Ihre Arbeit kurz vorstellen?
Arshad: Mein Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit der Frage nach der praktischen Umsetzung einer islamischen Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen und den theologischen Grundlagen einer solchen pädagogischen Praxis. Um es einfach auszudrücken, geht es in meiner Arbeit in Bezug auf eine islamische Religionspädagogik im Elementarbereich um folgende Teilfragen: WAS wird gemacht? WIE wird es gemacht? und WARUM wird es gemacht? Da bereits manche islamische Kindertageseinrichtungen in Deutschland seit über einem Jahrzehnt bestehen und in diesem Feld eine Pionierarbeit leisten, ist die Praxis der islamischen Religionspädagogik im Elementarbereich der Theorie um einige Jahre voraus. Deswegen lag es für mich nahe, bundesweit Erzieherinnen zu interviewen, die in islamischen Kindertageseinrichtungen arbeiten und in diesem Bereich praktische Erfahrungen besitzen. Durch diesen qualitativ-empirischen Zugang konnte ich die bestehende Praxis einer islamischen Religionspädagogik im Elementarbereich erschließen und eine erste Bestandsaufnahme dieses Handlungsfeldes anfertigen. Im zweiten Schritt unterziehe ich eben diese Praxis einer religionspädagogischen Verifizierung unter Berücksichtigung der islamischen Primärquellen Koran und der Praxis des Propheten Muḥammad (s), um bestehende Konzepte zu untermauern oder vorhandene Handlungsprobleme zu benennen. Auf diese Weise möchte mein Dissertationsvorhaben nicht nur den notwendigen Nexus zwischen Theorie und Praxis aufrechterhalten und berücksichtigen, sondern auch die Spreu vom Weizen trennen.
IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?
Arshad: Schon während meines Pädagogikstudiums und auch danach kam ich beruflich mit verschiedenen islamischen Kindertageseinrichtungen in Berührung. Relativ schnell konnte ich für mich festhalten: Wenn man von der Islamischen Religionspädagogik im deutschen Bildungsdiskurs spricht, haben die meisten Wissenschaftler und Politiker den Religionsunterricht in der Schule im Blick. Dementsprechend wundert es auch nicht, dass eine Islamische Religionspädagogik für den Elementarbereich bisher kaum erforscht worden ist und dass auch entsprechende pädagogische Konzepte für ihre Umsetzung fehlen. Eine umfassende religiöse Erziehung und Bildung muslimischer Kinder kann aber nicht nur auf den schulischen Religionsunterricht reduziert werden, sondern muss auch den Elementarbereich mitberücksichtigen, denn – so formuliert es der Tübinger Religionspädagoge Friedrich Schweitzer: „Kinder haben nicht erst dann religiöse Orientierungsbedürfnisse, wenn sie in die Schule kommen“. Das pädagogische Handlungsfeld „Kindertageseinrichtung“ ist aber mit dem einer Schule nicht vergleichbar, denn es kennt keine Fächer und auch keinen Unterricht. Vielmehr bedarf es eines ganzheitlichen und situationsorientierten Ansatzes, der sich an dem Entwicklungsstand und den Bedürfnissen von Kleinkindern orientiert.
Da jedoch im wissenschaftlichen Diskurs die Islamische Religionspädagogik für den Elementarbereich ein Desiderat darstellt, hat diese Thematik auch bisher kaum Berücksichtigung bei den Ausbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen von Erzieherinnen gefunden. Aus diesem Grund sind Kindertageseinrichtungen, die für sich beanspruchen eine islamische Bildung und Erziehung für Kleinkinder anzubieten, auf sich allein gestellt und haben so gut wie keine fachliche Begleitung, wenn es um theologische bzw. religionspädagogische Fragestellungen geht. Diese Lücke möchte ich mit meiner Forschungsarbeit und Fortbildungstätigkeit ein Stück weit füllen und eine erste Orientierungshilfe anbieten.
IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?
Arshad: Durch meine berufliche Erfahrung als Erzieherin und als Fachberaterin für die Islamische Religionspädagogik im Elementarbereich weiß ich: Erzieherinnen haben es manchmal sehr schwer, sich bei theologischen Fragestellungen zu positionieren, denn sie sind ja in erster Linie nicht dazu ausgebildet worden und haben dementsprechend auch keine theologischen Fachkenntnisse. So ist es nicht selten der Fall, dass Erzieherinnen zwischen die Mühlen geraten, wenn es darum geht die Interessen und Wünsche der Eltern bzw. des Trägers mit den eigenen Vorstellungen eines pädagogisch-wertvollen Arbeitens im Einklang zu bringen. Manchmal ist der Druck von außen sogar so groß, dass Erzieherinnen eher Einschränkungen in ihrer Praxis hinnehmen, um entweder Konflikten aus dem Weg zu gehen oder weil sie schlichtweg in ihrem eigenen Religionsverständnis nicht sattelfest sind und dadurch Verunsicherung erfahren. Wenn man die Konflikthemen aus der Metaebene betrachtet, handelt es sich in der Regel um die Frage, ob etwas aus theologischer Sicht als erlaubt (ḥalāl) oder verboten (ḥarām) einzustufen ist.
Die von mir interviewten Erzieherinnen, gehen mit solchen Fragestellungen sehr unterschiedlich um. Zum Beispiel: Während in manchen Einrichtungen das Feiern von Kindergeburtstagen im pädagogischen Konzept fest verankert ist, sehen es andere wiederum als eine illegitime Neuerung in der Religion und versehen es mit einem kategorischen Verbot innerhalb der eigenen pädagogischen Praxis. Oder während die einen sich dafür einsetzen, dass ihr Team um eine Fachkraft für musikalische Früherziehung erweitert wird, bemühen sich andere wiederum stark darum, dass die Elternschaft bloß nicht den Eindruck bekommt, dass im Kindergarten Musik läuft oder mit Kindern getanzt wird. Aber was macht man, wenn man als Erzieherinnen nichts gegen Musik hat, aber das Kind sich die Ohren zuhält, weil es von seinen Eltern beigebracht bekommen hat, dass Musik ḥarām sei? Oder was macht man, wenn das Feiern von Geburtstagen vom Träger verboten worden ist und ein dreijähriges Kind dennoch seinen Geburtstag im Kindergarten zelebriert wissen möchte und der Vater sogar einen Kuchen vorbeibringt? Fragen, wo sich die Geister scheiden.
Neben solchen Fragestellungen, die von Erzieherinnen eine eindeutige religionspädagogische Positionierung einfordern, ergeben sich für Erzieherinnen natürlich auch Fragestellungen nach der richtigen Methodik, wenn es um die Vermittlung religionspädagogischer Inhalte geht. Beispielweise:
Wie kann ich mit Kleinkindern über Gott sprechen?
Mit welcher Erzählmethode berichte ich von Prophetengeschichten?
Inwieweit kann ich die Praxis des Propheten Muhammad in den pädagogischen Alltag hineinfließen lassen?
Welche religiösen Rituale brauchen wir im Alltag der Kindertageseinrichtung?
Inwieweit ist ein interreligiöses Lernen für Kleinkinder von Bedeutung?
Wie kann ich mit Kleinkindern über Tod und Sterben sprechen?
Was mache ich, wenn ich Kinder bei Doktorspielen erwische?
Wenn wir von einer Islamischen Bildung und Erziehung sprechen, brauchen all diese Fragen nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine theologische Durchleuchtung. Und dabei finde ich gerade die Frage spannend, ob man religiöse Gebote und Verbote, die sich ja in erster Linie an den mündigen Erwachsenen richten, eins zu eins auf Kinder übertragen kann und dieses als solche vermitteln kann oder ob es nicht eher einer theologischen Aufarbeitung bedarf, die sich dem Erfahrungshorizont von Kleinkindern anschließen kann. Des Weiteren setze ich mich auch mit der Frage auseinander, wie wir das, was wir aus dem Koran und der Sunna unseres geliebten Propheten extrahieren können, für Kleinkinder und ihre Bedürfnisse nutzbar machen können. Auch in dem Sinne, dass Kinder in ihrer Entwicklung dadurch Resilienz entwickeln können und ihren Glauben als Bereicherung und nicht als Belastung erfahren.
IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?
Arshad: Nach der repräsentativen Studie aus dem Jahre 2011 zur interreligiösen und interkulturellen Bildung in der Kita gehören ca. 19% der Kinder, die eine kommunale oder christliche Kindertageseinrichtung in Deutschland besuchen, dem muslimischen Glauben an. Die Adressaten meiner Arbeit sind daher nicht nur Erzieherinnen, die in islamischen Kindertageseinrichtungen arbeiten, sondern sie richtet sich an alle, die darum bemüht sind, muslimische Kleinkinder bei der Entwicklung ihrer religiösen Identität zu begleiten. So weiß ich aus meiner Fortbildungstätigkeit, dass beispielweise auch eine katholische Erzieherin sehr gerne mehr für ihre muslimischen Kinder in der Einrichtung anbieten würde, aber sie weiß schlichtweg nicht, wie sie sich in die Thematik einlesen oder wo sie Materialien für eine Islamische Religionspädagogik für den Elementarbereich finden kann.
Meines Erachtens sollte sich, wenn man den Erziehungs- und Bildungsplänen der einzelnen Bundesländer und den damit verbundenen Bildungsauftrag gerecht werden möchte, eine islamische Bildung und Erziehung in konfessionellen und kommunalen Einrichtungen ebenfalls als Teil der Allgemeinbildung und im Rahmen eines interreligiösen Lernens etablieren. Diese sollte sich sowohl an Muslime als auch an Nichtmuslime richten. Und dabei geht es nicht um die Propagierung einer bestimmten Religion, sondern um das gegenseitige Kennenlernen, denn nur auf diese Weise kann ein respektvoller und öffentlicher Freiraum für die Beschäftigung mit dem Islam geschaffen werden. Letztendlich sind fundierte Kenntnisse über die eigene bzw. fremde Kultur und Religion das Fundament für eine vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. In diesem Sinne soll die Frucht meiner Arbeit in erster Linie Kleinkindern zu Gute kommen und all jenen, die sie in diesem zarten Alter auf dem Weg ihrer Entwicklung begleiten.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.