Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse spricht sich gegen die Verdrängung von Religionen in einem religiös neutralen Staat aus. Der Staat sei auf das Engagement religiöser Bürger angewiesen.
Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat sich gegen eine Verdrängung von Religion aus dem öffentlichen Raum gewandt. „Wenn Religion mit ihrem Konfliktpotenzial Teil des Problems ist, dann kann und soll Religion auch Teil der Lösung sein und nicht das diffuse Misstrauen gegenüber Religion, ihre grundsätzliche Abwehr und die Einschränkung von Religionsfreiheit“, sagte Thierse am Montagabend in Wien. Ein weltanschaulich neutraler Staat verlange geradezu nach öffentlichem Engagement religiöser Bürger, da er auf Werte angewiesen sei, die er selbst nicht reproduzieren könne.
Hintergrund von Thierses Ausführungen sind die aktuellen Debatten um die Präsenz von Religion beziehungsweise von religiösen Symbolen in der Öffentlichkeit. Diese sind in vielen Ländern Europas im Zuge der Migrations- und Flüchtlingsbewegungen aus islamisch geprägten Staaten wieder aufgebrochen.
Die mit der Migration verbundenen kulturellen Umwälzungen seien „dramatisch“ und veränderten viele Staaten stark, sagte Thierse. Zugleich träfen sie auf ein „verunsichertes Europa“, das mit Ressentiments, einem neu aufkeimenden Rassismus und auch Vorbehalten gegen die Präsenz von Religion in der Öffentlichkeit einhergehe. Gefordert sei die Tugend der Toleranz und eine „Kultur der Anerkennung“. Das gelte für religiöse wie für areligiöse Menschen gleichermaßen.
Der engagierte Katholik und frühere Bundestagspräsident äußerte sich bei einem Festakt an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Der weltanschauliche Pluralismus sei „keine Idylle, sondern steckt voller Konfliktpotenziale“, räumte Thierse ein. Dennoch sei eine verordnete Bereinigung des öffentlichen Raumes von religiösen Symbolen oder eine „institutionelle Bilderstürmerei“ der falsche Weg.
Der neutrale Staat habe „weder das Recht noch die Pflicht zur Nivellierung faktischer religiöser Pluralität zugunsten einer religionslosen beziehungsweise religionsverbergenden Neutralität“, so Thierse. Er spielte damit auch auf eine Debatte über die Entfernung von Kreuzen aus Hörsälen an der Universität Wien im Frühjahr an. Eine Verteidigung des neutralen Staates, so wünschenswert und notwendig sie sei, dürfe nicht auf der anderen Seite in die Bevorzugung einer laizistischen Perspektive kippen.
„Der Staat ist weltanschaulich neutral, um die Weltanschauungsfreiheit seiner Bürger zu ermöglichen“, führte Thierse weiter aus. Insofern bedeute Religionsfreiheit, dass sich der Staat bewusst zurücknehme, „um Raum zu geben für die starken Überzeugungen seiner Bürger, die mit ihren Überzeugungen den Staat und die Zivilgesellschaft tragen“. Die weltanschauliche Neutralität bedeute daher geradezu eine „Einladung“ an die Religionen, sich öffentlich einzubringen und sich nicht ins Private zurückzuziehen. Wer Religion allein als „Privatsache“ verstehe, betreibe eine „Verfälschung von Religion“. (KNA/iQ)