Wie die Sichtbarkeit islamischer Symbole in der europäischen Öffentlichkeit mit der gesellschaftlichen Anerkennung von Muslimen zusammenhängt, erklärt der italienische Soziologe und Migrationsforscher Prof. Dr. Stefano Allievi im IslamiQ-Interview.
Islamiq: Welche Bedeutung hat die Sichtbarkeit islamischer Symbole im öffentlichen Raum in Europa für Muslime und Nichtmuslime? Und wofür stehen diese Symbole?
Prof. Dr. Stefano Allievi: Eine große Bedeutung! Es geht dabei nicht so sehr um die Religion selbst. Jeder kann seine Religion auch im Privaten praktizieren. Aber sobald Symbole im öffentlichen Raum sichtbar werden, gewinnt auch ihre Bedeutung an Relevanz. Wenn wir sagen, etwas stehe „symbolisch“ für eine Sache, drücken wir damit seine Bedeutsamkeit aus. Gläubige und Nichtgläubige sind sich gleichermaßen darüber einig, dass Symbole wichtig sind. Deshalb wird dieses Thema in der Öffentlichkeit auch so heftig diskutiert.
Im Hinblick auf den Islam in Europa stehen vor allem zwei Symbole im Vordergrund, die eng mit der europäischen Geschichte verknüpft sind. Da geht es zum Einen um die Trennung von Staat und Religion, zum Anderen um die Rolle der Frau. Moscheebauten und Minarette bzw. das Kopftuch und der Schleier berühren Fragen, die bis heute nicht wirklich beantwortet sind, und die auch nicht ein für allemal beantwortet werden können. Deshalb ist die Symbol-Frage für Gläubige und Nichtgläubige, nicht unbedingt für Atheisten, so wichtig.
IslamiQ: Wie können islamische Symbole wie Moscheen, Minarette und der Gebetsruf dazu beitragen, die Präsenz des Islams in Europa zu normalisieren, und eine neue europäische Öffentlichkeit zu schaffen, zu der Muslime ganz selbstverständlich dazugehören?
Allievii: Die Frage nach Minaretten und dem Gebetsruf berührt zwei verschiedene Aspekte. Auf der einen Seite geht es um eine symbolische Landnahme. Mit dem Bau religiöser Kultstätten besetzen Sie sozusagen symbolisch ein bestimmtes Gebiet und zeigen auf diese Weise Ihre Präsenz als Minderheit: „Schaut her, hier sind wir. Nicht nur ihr, sondern auch wir.”
Auf der anderen Seite sind Minarette, wie alle Vertikalbauten vom Turm zu Babel bis zu modernen Wolkenkratzern eben auch sehr sichtbar. Im Ersten Weltkrieg und im Bosnienkrieg wurden Hunderte von Minaretten und Kirchtürmen zerstört. Wenn im Mittelalter eine Familie eine Stadt unter ihre Kontrolle brachte, ließ sie zuallererst die Türme der verdrängten Familie niederreißen. Das durchzieht die gesamte Menschheitsgeschichte und hat zu Kriegen geführt. Auch Freud hat die phallische Symbolik von Vertikalbauten untersucht. Sie stehen – wie Waffen übrigens auch – für Macht, Kraft und Kontrolle. Die Leute sind sich diesem grundlegenden Zusammenhang vielleicht nicht bewusst, aber unterschwellig ist er in manchen Aussagen trotzdem greifbar, besonders, wenn es um Minarette geht.
Es gibt tausende Moscheen in Europa und die meisten Menschen würden wahrscheinlich sagen, dass sie es richtig finden, Moscheen und Minarette zu bauen und damit die Zugehörigkeit von Muslimen zur Gesellschaft anerkennen. Aber es ist schwierig und ein andauernder Prozess.
IslamiQ: Was Sie zum Thema Macht und Sichtbarkeit sagen, klingt aber nicht nach einer Normalisierung. Einige Menschen haben offenbar kein Problem mit diesen Symbolen und ihren Bedeutungen, während andere sich von ihnen gestört fühlen. Sie schaffen also einen Konflikt.
Allievi: Ja, da haben Sie Recht. Sichtbarkeit im öffentlichen Raum ist die höchste Form der Normalisierung, weil sie die vollständige Anerkennung einer Gruppe bedeutet. Andererseits können die Reaktionen Muslime und andere Minderheiten aber auch nicht überraschen. Das müssen nicht unbedingt negative Reaktionen sein, aber eben Reaktionen. Stellen Sie sich vor, Sie laufen herum und stellen fest, dass sich die Umgebung verändert hat, ohne dass ihnen jemand den Grund dafür erklärt. Die Pluralisierung der europäischen Gesellschaft ist ein tiefgreifender Wandel. Diese Pluralisierung wird überall sichtbar, nicht nur in Bezug auf die Religion. Denken Sie an die neuen Familienformen, die inzwischen neben der traditionellen Familie existieren. Auch hier ist die Verschiedenheit symbolisch. Wenn Sie alternative Familienformen für sich leben, ist das kein Problem. Wenn Sie jedoch rechtliche Anerkennung fordern, z. B. die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen, hat das Symbolcharakter und wird problematisch. Trotzdem, das Landschaftsbild verändert sich, die Gesellschaft ist in Bewegung. Meiner Meinung nach braucht es diesen öffentlichen Konflikt, vor allem, wenn es um Moscheen und Minarette geht. Denn dies ist nicht nur ein Konflikt im öffentlichen Raum, sondern um den öffentlichen Raum, darum, was wem gehört.
IslamiQ: Europäische Länder sind in ihrer Selbstdefinition meist pluralistisch, demokratisch, säkular und frei. Was zeigen dann die Debatten um Minarette und den Gebetsruf, die im öffentlichen Raum in Europa ja nur symbolisch existieren?
Allievi: Das hatte ich bereits erwähnt. Europäische Länder definieren sich zwar als pluralistisch, Pluralismus ist aber nicht selbstverständlich. Es geht darum, ein gesellschaftliches Gleichgewicht zu finden. Aus dieser Perpsektive werden die Konflikte, die es z. B. in Deutschland in manchen Fällen gibt, wenn es um den Bau von Moscheen geht, verständlicher, als wenn wir nur über Rechte sprechen. Natürlich sind Rechte wichtig, aber der Wandel muss von den Menschen auch akzeptiert werden. Und das braucht einfach Zeit.
IslamiQ: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass muslimische Stimmen nicht nur zu muslimischen Ohren sprechen. Was kann z. B. der Gebetsruf, ein akustisches Symbol des Islams, Nichtmuslimen im europäischen Kontext über den Islam verraten?
Allievi: In einer pluralistischen Gesellschaft kommt es darauf an, nicht nur zu seiner eigenen Gemeinschaft zu sprechen. Die meisten von uns gehören zu mehr als einer, nicht unbedingt religiösen Gemeinschaft. Die Gemeinschaft selbst ist pluralistisch. Es gibt viele Arten, Muslim oder Katholik zu sein. Das ist natürlich eine Frage des Mitspracherechts und der Ideen. Die Reaktionen anderer verändern uns, und wir müssen auf deren Taten achten. Ein akustisches Symbol gehört dazu. In Europa ist das keine große Sache, weil es recht einfach technisch reguliert werden kann. Man legt einen Dezibelgrenzwert fest, an den sich alle zu halten haben. Außerdem ist der Gebetsruf, wenn man ehrlich ist, heutzutage auch keine praktische Notwendigkeit mehr für Muslime. Er ist also ein reines Symbol, und es kommt darauf an, wie viel Gewicht Muslime diesem Symbol geben.
Manche sagen vielleicht, ich möchte mit meiner Moschee, meinem Minarett und meinem Gebetsruf anerkannt werden. Anderen ist das weniger wichtig, sie rufen innerhalb der Moschee zum Gebet – wie übrigens die meisten Muslime in Europa. Nach meiner Beobachtung messen selbst viele Muslime dieser Sache keine allzu große Bedeutung bei.
IslamiQ. Welche Auswirkungen haben die Proteste und Kontroversen rund um die erhöhte Sicht- und Hörbarkeit von Muslimen auf muslimische Gemeinschaften in Europa?
Allievi: Das hängt auch davon ab, wie politisch oder ideologisch die Führung von Muslimen in einer bestimmten Gegend ist, und wie weit sie einen Konflikt zuzuspitzen bereit ist. In manchen Fällen ist alles in Ordnung, in anderen braucht es Mediation. Ja zu den Minaretten, nein zum Gebetsruf, ja zum Gebetsruf in der Moschee, nein zum öffentlichen Gebetsruf, und wenn ja zu diesem, dann nicht zu laut. Ich glaube, dass es die Führung manchmal auch auf den Konflikt anlegt, weil er ihr Sichtbarkeit verschafft. Wenn sich alle einig sind, gibt es keine Presse. Aber sobald es Konflikte gibt, kommt das Fernsehen, man gibt Interviews usw. Es gibt also einen internen „Sichtbarkeitsmechanismus“, der in manchen Fällen Konflikte anheizt statt sie zu entschärfen.
IslamiQ: Wie wirken sich die negativen Debatten und Gefühle gegenüber Muslimen in Europa auf europäische Mehrheitsgesellschaften und Minderheiten aus?
Allievi: Auch hier gilt: Die negativen oder positiven Gefühle hängen mit der Rolle und dem Verhalten der Führungspersonen zusammen. Nehmen wir einmal an, dass Sichtbarkeit mit der Anerkennung des Islams gleichzusetzen ist. Glauben Sie, dass Muslime in Europa ihre Sichtbarkeit reduzieren oder auf ihre Rechte verzichten, um von der Mehrheitsgesellschaft anerkannt bzw. akzeptiert zu werden? Einige Moscheegemeinden, die wir befragt haben, geben z. B. an, trotz Berechtigung auf einen öffentlichen Gebetsruf zu verzichten, um keine Konflikte mit den örtlichen Behörden zu provozieren.
Viele Gemeindeleitungen setzen tatsächlich auf Mediation und verzichten aus Rücksicht auf andere auf bestimmte Rechte, von denen sie nicht unbedingt zwingend Gebrauch machen müssen. Dasselbe gilt für die Verschleierung. Es ist eine Sache, sich für die Anerkennung des Kopftuchs einzusetzen, eine andere, diese auch für den Nikab zu fordern. Dieser ist nicht nötig und hat eine ganz andere Bedeutung. Vor zehn Jahren trugen nicht einmal Frauen in Marokko oder Tunesien den Nikab, geschweige denn in Europa. Jetzt tragen die Frauen in manchen Bevölkerungskreisen Nikab. Wie weit wollen diese Leute den Konflikt treiben? Meiner Meinung nach ist das Kopftuch kein Problem, aber ich finde auch, dass Europa jedes Recht hat, den Nikab zu verbieten, weil die Sichtbarkeit des Gesichts in Europa traditionellerweise sehr wichtig ist. Dabei geht es nicht um religiöse, politische oder ideologische Gründe, sondern um zwischenmenschliche Beziehungen. Wenn eine muslimische Minderheit trotzdem darauf besteht, wird das unvermeidlich negative Reaktionen hervorrufen.
IslamiQ: Glauben Sie, dass islamische Symbole bzw. deren Sichtbarkeit eines Tages eine Normalität in Europa sein werden? Wenn ja, wann wird es Ihrer Meinung nach soweit sein?
Allievi: In einigen Bereichen wird es eine Normalisierung geben, in anderen nicht. Der Nikab und die Burka werden keine Anerkennung finden, aus Gründen, die ich sehr gut nachvollziehen kann. Diese sind aber vor allem anthropologischer, und weniger politischer, ideologischer oder religiöser Natur.
IslamiQ: Glauben Sie, dass es bei diesen religiösen Symbolen hauptsächlich um Ideologie geht, oder spielen auch praktische Gründe eine Rolle?
Allievi: Alle Symbole sind vieldeutig, egal ob es sich um ethnische, religiöse, politische oder persönliche Symbole handelt. Es gibt kein Symbol, das nur eine einzige Bedeutung hat. Das Wort „Symbol“ weist bereits darauf hin, dass Unterschiede zu etwas zusammengeführt und vereinigt werden. Das Kruzifix hat zwanzig verschiedene Bedeutungen, als Identitätssymbol, religiöses Symbol, persönliches und auch parteipolitisches Symbol. Welche Bedeutung im Einzelnen gemeint ist, hängt dann – wie immer übrigens – vom jeweiligen Kontext ab.
Das Interview führten Feyza Akdemir und Yasemin Yildiz.