Depressionen sind eine ernstzunehmende Belastung. Auch für Muslime sind diese Krankheiten real. Die Ursachen können unterschiedlich sein. Warum dennoch diese Probleme nicht ernst genommen werden und wie die Psychotherapie und der Islam historisch miteinander verwoben sind, erklärt Dr. Ibrahim Rüschoff im Interview.
IslamiQ: Herr Rüschoff, Sie arbeiten seit vielen Jahren als Psychotherapeut und behandeln schwerpunktmäßig Muslime. Welche Krankheiten treten vermehrt unter Muslimen auf?
Dr. Ibrahim Rüschoff: Muslime leiden natürlich an Krankheiten wie Nichtmuslime. Das gilt für alle seelische Krankheiten und Konfliktlagen. Der Unterschied jedoch besteht vor allem darin, dass sie in einem islamisch geprägten Umfeld gelebt werden und hier eine eigene (religiöse) Konnotation und Prägung erhalten. Beispiele sind Depressionen oder Ängste in sozialen Beziehungen, die stark religiös definiert sind, wie z. B. die zu den Eltern. Auch spielen religiös gefärbte traditionelle Erklärungen oft eine Rolle.
IslamiQ: Können Sie denn einen Unterschied zwischen Männern und Frauen erkennen?
Rüschoff: Generell suchen Frauen eher einen Psychotherapeuten auf als Männer, das ist dann auch bei Muslimen so. Bei beiden Geschlechtern stehen in unserer Praxis die Diagnosen Depressionen und Ängste im Vordergrund. Bei Frauen haben die Probleme häufig mit ihrer Ehesituation zu tun, wo Männer traditionell oft die stärkere Stellung haben, über das Geld verfügen und sich nicht in ihren Lebenswandel hineinreden lassen wollen. Andererseits sind Frauen in vielen Fällen durch die Versorgung der Kinder gebunden, trauen sich aber auch nicht, klare Grenzen zu setzen, weil sie Sorge haben, verlassen zu werden.
IslamiQ: Und wie ist es konkret bei Männern?
Rüschoff: Auch wenn sie seltener den Therapeuten aufsuchen, ja auch die Männer leiden unter den Schwierigkeiten. Sie sind oft durch eine intensive Mutterbeziehung geprägt, die bestimmte Verhaltensweisen fördert. Ich erlebe Mütter manchmal als sehr übergriffig und manipulativ, sie fordern absoluten Gehorsam ein und bereiten ihren Söhnen ständig ein schlechtes Gewissen. In der Folge versuchen diese sich zu schützen, zumeist durch Verheimlichen, da offene Kritik mit dem Hinweis auf den religiös begründeten, vermeintlichen Gehorsamsanspruch der Eltern unterbunden wird.
IslamiQ: Das hat dann natürlich eine Wirkung auf die Ehe..
Rüschoff: Ja, in der Ehe treten dann oft ähnliche Verhaltensmuster auf, insbesondere, wenn die Frau stark und realitätsorientiert ist und eine Partnerschaft auf Augenhöhe einfordert. Wenn sie Probleme mit ihrer Schwiegermutter hat, was relativ häufig der Fall ist, muss sie lernen, diese selbst zu lösen.
Insgesamt kann man sagen, dass Probleme im familiären Umfeld den Hintergrund der meisten Symptome bzw. Krankheitsbilder bilden. Eigentlich ist das nicht weiter verwunderlich, denn dort, wo die intensivsten Beziehungen gelebt werden, treten auch die größten Konflikte auf.
IslamiQ: Aber doch nicht nur, oder? Können beispielsweise Rassismus und Ausgrenzung zu Belastungen bei Muslimen führen?
Rüschoff: Tatsächlich kommen diese Fälle in den letzten Jahren immer häufiger vor. Besonders Frauen, die sich islamisch kleiden, sind davon betroffen, aber auch andere werden z. B. auf der Arbeitsstelle offen diskriminiert. Die Folge sind Depressionen, Ängste, Rückzug aus dem Arbeitsleben, psychosomatische Beschwerden, Krankheitszeiten usw. Das ist zwar allgemein bekannt und durch viele Studien belegt, aber in den Therapien sind die Schilderungen oft nur schwer erträglich.
Dennoch widerfährt das nicht allen Betroffenen in ähnlichen Situationen gleichermaßen, sodass Patienten durchaus lernen können, dagegen vorzugehen, auch durch Veränderungen bei sich selbst. Warum sollte mich jemand wertschätzen, wenn ich mich selbst nicht einmal wertschätze? Unabhängig davon ist die Situation aber sehr viel schwieriger als früher, weil sich die Menschen vermehrt trauen, ihre Vorurteile offen und massiv zu formulieren, und zwar unabhängig vom Bildungsstand.
IslamiQ: Dennoch hat man das Gefühl, dass Muslime gegenüber der Psychotherapie recht skeptisch sind. Können Sie das bestätigen?
Rüschoff: Eine Psychotherapie im heutigen Sinne gibt es im „westlichen“ Kulturkreis, also in Europa und den USA, erst seit gut hundert Jahren, im islamischen Kulturkreis hat sie bis heute kaum Fuß gefasst. Das hat sehr viel mit ihrem Ursprung in der westlichen Philosophie, ihrem Wissenschaftsverständnis und Menschbild und zu tun, die hier als atheistisch, fremd und kulturimperialistisch wahrgenommen werden. Außerdem ist auch die miserable soziale, wirtschaftliche und politische Lage in vielen islamisch geprägten Ländern alles andere als geeignet, sich um einen „Luxus“ wie Psychotherapie zu kümmern.
IslamiQ: War das denn immer schon so?
Rüschoff: Naja, Tatsache ist, dass in der islamischen Geschichte, Fragen der gesunden oder kranken Seele, des Menschenbildes und des rechten Verhaltens von der Philosophie und der Medizin behandelt wurde. Hier gibt es allerdings eine alte und fruchtbare Tradition, die wir gerade zu heben beginnen und aus der wir heute noch schöpfen können. Muslimische Fachleute in aller Welt (auch in Deutschland) diskutieren seit Jahren die Frage, ob und wie man Islam und moderne Psychologie verbinden kann. Allerdings muss man beachten, dass Psychotherapie stark kulturgebunden ist, sie also in den verschiedenen Kulturen sehr unterschiedliche Formen annehmen muss, wenn sie erfolgreich sein will.
IslamiQ: Welche Praktiken, Möglichkeiten wurden denn konkret in der islamischen Tradition zur Überwindung von mentalen Störungen herangezogen?
Rüschoff: Bereits in der Zeit des europäischen Mittelalters verfügte die islamische Welt in ihrer sogenannten Blütezeit vom 8.-13. Jahrhundert über spezialisierte Kliniken für psychisch gestörte Patienten, die auch heute noch sehr modern anmuten.
Darüber existiert inzwischen eine umfangreiche Literatur. Therapiert wurde mit Musik, Gesprächen, Kräutern, Beschäftigung und Arbeit, Koranrezitationen usw., solche Therapieansätze wurden selbst in Europa bis zum Aufkommen der modernen Psychopharmakotherapie in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht genutzt. Entscheidende Unterschiede waren außerdem die humane Behandlung der Patienten, ein direkter Einfluss der Religion und das Verständnis psychischer Störungen als Krankheiten und nicht als Folge von Besessenheit von Geistern und Dämonen wie in Europa, das vermutlich viele psychisch Kranke als „Hexen“ auf den Scheiterhaufen gebracht und unmenschliche Zustände in den Verwahranstalten zur Folge hatte.
IslamiQ: Ist die Frage danach, inwieweit die moderne Psychologie und das islamische Menschenbild miteinander kompatibel sind, legitim?
Rüschoff: Hierzu gibt es unter muslimischen Fachleuten unterschiedliche Meinungen und lebhafte Diskussionen. Entscheidend ist das Verständnis von Wissenschaft, das allerdings ebenfalls sehr unterschiedlich ist. Bzgl. der Psychotherapie heißt das für mein Verständnis, dass ich mit einer Therapiemethode über eine für die Behandlung einer Störung geeignete „Landkarte“ verfüge, die mir ein Konzept der Entstehung, des Charakters und der Behandlung einer Krankheit liefert, die ich aber keinesfalls mit der „Landschaft“, also den Patienten selbst, verwechseln darf.
Das islamische Menschenbild, also die natürliche Bezogenheit des Menschen auf Gott (Fitra), das Verhältnis von Seele, Herz, göttlichem Geist und Vernunft (Nafs, Kalb, Ruh und Akl), der Verantwortung des Einzelnen für sein Handeln usw. sind im Hintergrund dabei immer präsent. Auch ist die Therapiebeziehung als wichtigstes Element einer erfolgreichen Therapie von meinem islamischen Hintergrund geprägt (so ist es Gott, der heilt, wie es im Koran in 26:80 heißt, ich bin nur sein Werkzeug).
In der Psychologie allgemein sind die Dinge allerdings noch sehr im Fluss, es werden aktuell die verschiedensten Konzepte diskutiert. Immerhin gibt es mit der International Association of Islamic Psychology (IAIP) seit einiger Zeit eine internationale Plattform, auf der sich die Beteiligten auf hohem Niveau treffen und diskutieren.
IslamiQ: Auch wenn sich da momentan viel tut: Reichen die etablierten Methoden, um den Problemen der Muslime gerecht zu werden, die im Gegensatz zu den Wortführern der modernen Psychologie eine sehr unterschiedliche Sozialisation hatten?
Rüschoff: Eigentlich reichen die Methoden der Psychotherapie aus. Die Therapie ist ja immer auf den einzelnen Patienten zugeschnitten, auf die ganz persönliche Geschichte seiner Beziehungen und Erfahrungen. Es gibt Grenzen, die zu meistern sind, seien sie kulturell oder sprachlich. In solchen Fällen brauche ich vielleicht die Hilfe eines Imams oder eines Dolmetschers. Es gibt allerdings auch Grenzen, an denen auch ein engagierter Therapeut aufgeben muss. Beispielsweise bei einem seelisch kranke Asylbewerber, dem, wenn er gesund wird, die Abschiebung droht oder Frauen in ehelichen Gewaltsituationen, die noch kein eigenes Bleiberecht haben und nicht zu ihren Familien zurück können.
IslamiQ: Zudem ist es so, dass Muslime oft beklagen, dass ihre Krankheiten von den Glaubensgeschwistern nicht ausreichend ernst genommen werden. Es ist keine Seltenheit, dass man beispielsweise sagt, dass der Glaube einfach zu schwach sei, wenn man unter einer Depression leidet. Wie erklären Sie sich das?
Rüschoff: Wenn seelische Krankheiten nicht ernstgenommen werden, hat das viel mit psychologischer Abwehr zu tun. So kann man sich die Dinge vom Hals halten („Reiß Dich zusammen!“, „Schau doch mal das schöne Wetter!“, „Freu Dich doch mal!“) Dabei wäre der Patient der Erste, der es täte, wenn er nur könnte.
Jede Kultur und auch jeder Einzelne entwickeln Ideen über die Herkunft und den Charakter von seelischen Erkrankungen. Bei den einen ist es die schwierige Kindheit, der Einfluss der Verer-bung oder die Frucht der Sünde, bei den anderen der Einfluss von Jinnen oder Zauber oder eben mangelnder Iman. Letzteres befördern depressive Patienten natürlich auch selbst: Sie spüren, dass sie keine Gefühle mehr für Gott, die Religion, den Propheten, aber auch für ihre Liebsten haben und interpretieren ihre Depressionen, unter denen sie leiden, als Folge dieses Unvermögens. Dabei ist es genau andersherum: Die Depression ist die Ursache, da sie religiöse Gefühle, Hoffnung und alles andere unterdrückt und den Antrieb mindert. Nach dem Abklingen der De-pression sind diese Dinge dann auch wieder da, es ist, als würden die Patienten eine schwarze Brille absetzen. Deshalb heißt es für den Psychiater oder Psychotherapeuten während der Be-handlung, mit ruhiger Unterstützung dranzubleiben an der Beziehung und zeitweilig die Hoff-nung und die Zuversicht für den Patienten zu übernehmen, die er in der Krankheit selbst nicht haben kann.
Das Interview führte Esra Ayari.