„Je mehr Flüchtlinge, desto mehr Antisemitismus“. So die herrschende Meinung in einem Satz. Eine europaweite Vergleichsstudie des britischen Historikers David Feldman liefert Fakten. Ein Beitrag zur Versachlichung der Debatte.
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Trotz steigender Einwandererzahlen aus der MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) zeigte sich in Feldmans Studie kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Immigration aus islamischen Ländern und antisemitischen Übergriffen. Zwar seien innerhalb muslimischer Minderheiten antisemitische Einstellungen anzutreffen, die gesellschaftliche Stimmung gegenüber Juden sei in den fünf untersuchten Ländern Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Belgien jedoch insgesamt weitgehend positiv. Für den Zeitraum 2016/17 lässt sich laut Feldman keine Tendenz zu einem Anstieg antisemitischer Hassverbrechen nachweisen.
Die Wahrnehmung ist eine andere. Laut einer 2012 durchgeführten Umfrage der Europäischen Agentur für Grundrechte (FRA) betrachten jüdische Bürgerinnen und Bürger Antisemitismus in ihrem Land als „ein großes oder sehr großes Problem.“ Feldman weist darauf hin, dass es in dieser Bewertung kaum länderspezifische Unterschiede gebe, obwohl die Zahl der Migranten aus Nahost und Nordafrika je nach Befragungsort teilweise sehr niedrig sei.
Die Furcht vor wachsendem Antisemitismus innerhalb Westeuropas führt Feldman u. a. auf die negative Stimmung zurück, die seitens der Medien, staatlicher Institutionen, Parteien und Politikern, aber auch einzelnen Vertretern der jüdischen Gemeinden gegen muslimische Migranten geschürt werde. Diese könnte die Wahrnehmung der jüdischen Bürgerinnen und Bürger in Bezug auf einen tendenziellen Anstieg antisemitischer Haltungen mitbedingen, meint Feldman. Der Einfluss einer solchen negativen Kontextualisierung von Muslimen im Rahmen der medialen Berichterstattung ist bereits durch frühere Studien belegt worden. Vor allem in Deutschland werden Geflüchtete aus islamisch geprägten Ländern aufgrund der „ihnen zugeschrieben(en)“ antisemitischen und islamistischen Haltung als Bedrohung wahrgenommen.
Feldman identifiziert folgende Themen, die in den länderspezifischen Debatten über Geflüchtete bzw. muslimische Zuwanderer immer wieder auftauchen:
Migranten aus der MENA-Region werden also offenbar in erster Linie als Muslime wahrgenommen. Feldman und seine Kollegen erklären dies mit der wachsenden muslimischen Präsenz in westeuropäischen Gesellschaften. Beachtlich sei aber, dass viele Einschätzungen eher auf Mutmaßungen basieren und weniger auf Fakt. Der vom israelischen Ministerium für Diplomatie und Diaspora herausgegebene „Report on Antisemitism“ stellt fest, dass durch den Zustrom von Migranten aus muslimischen Ländern keine Zunahme des Antisemitismus verursacht werde, rät aber dennoch dazu, das jüdische Leben in Europa künftig zu überdenken.
Feldman rät deshalb zu einer differenzierten Betrachtung, um gerade auch Populisten den Nährboden für antimuslimische Agitation zu entziehen. Viele Muslime seien bemüht, den Antisemitismus in ihren Reihen anzugehen. Dies, so Feldman, müsse als Zeichen des Integrationswillens anerkannt werden.
Ein methodisches Problem, das in der Studie ausgemacht wird, ist die unterschiedliche Art der Messung und Definition von Antisemitismus. Diese wäre insbesondere für die Durchführung von Meinungsumfragen wichtig, da die Deutung der Antworten je nach zugrunde liegender Antisemitismusdefinition unterschiedlich ausfällt. Im ungünstigsten Fall werden die Ergebnisse verfälscht. Feldman selbst legt in seiner Studie die Ergebnisse von Meinungsumfragen und verfügbare Erhebungen zu antisemitisch motivierten Verbrechen zugrunde. Er räumt aber gleichzeitig ein, dass diese Datengrundlage mit Auslegungsschwierigkeiten verbunden ist.
Dennoch vermitteln die Ergebnisse insgesamt ein einheitliches Bild im Sinne der Fragestellung:
Auf der Grundlage der erfassten antisemitischen Vorfälle zeigt sich in allen fünf Ländern eine deutliche Korrelation zwischen der Zweiten Intifada (2000-2005) und einer Zunahme antisemitischer Übergriffe. Der Israel-Palästina-Konflikt spielt für antisemitische Einstellungen unter Migranten offenbar eine größere Rolle als die aktuelle „Flüchtlingskrise“. Weiterhin zeigte sich, dass innerhalb der untersuchten Länder antisemitische Einstellungen kein allgemeines Merkmal von Muslimen darstellen, sondern lediglich von einer Minderheit vertreten werden.
Antisemitische Ressentiments existieren auch unter Muslimen, sind jedoch weitaus weniger verbreitet als angenommen. Zieht man weiterhin den Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung der jeweiligen Länder (zwischen 5 und 7,5%) heran, ist dem Institut für jüdische Politikforschung zuzustimmen, das den Einfluss antisemitischer Einstellungen unter Angehörigen der muslimischen Minderheit auf eine Zunahme des Antisemitismus z. B. in Großbritannien als sehr gering einschätzt.
Antisemitismus bleibt laut David Feldman ganz überwiegend ein Problem der rechtsextremen und rechtspopulistischen politischen Bewegungen. Dies gelte insbesondere für Deutschland, wo antisemitische Straftaten überwiegend von Rechten begangen würden.
Um die negative Haltung einiger Muslime gegenüber Juden zu erklären, prägte der britische Soziologe Anthony Heath den Begriff „Paradox der Integration“. Erfahrungen der „vereitelten Integration“ bilden demnach den Kontext für das mögliche Aufkommen von Antisemitismus in der muslimischen Bevölkerung.
Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erzielten Muslime im Durchschnitt schlechtere Bildungsergebnisse, sind häufiger arbeitslos und leben mit höherer Wahrscheinlichkeit in sozial benachteiligten Gebieten. Diskriminierung und schlechte Integration tragen einigen Studien zufolge zur Verstärkung antisemitischen Denkens bei oder begünstigen dessen Entstehung. Diskriminierung und Missstand als mögliche Erklärung für den Antisemitismus unter einigen Muslimen anzuerkennen ist aber nicht gleichbedeutend mit dessen Legitimation, wie Feldman hervorhebt.
Feldmans Studie deutet auf eine große Integrationsbereitschaft unter Geflüchteten hin. 96% befürworten seiner Erhebung zufolge ein demokratisches System. Nur einer von 24 Geflüchteten vertritt ein kohärentes antisemitisches Weltbild. Unter den übrigen Befragten zeigt sich ein komplexes Bild, wonach „antisemitische Denkmuster und Stereotype“ einerseits „sehr verbreitet“ seien, die Befragten jedoch andererseits die Wichtigkeit des friedlichen Zusammenlebens von Muslimen, Christen und Juden hervorheben. Die Daten aus anderen Ländern bestätigen diese differenzierte Sichtweise.
Die häufig geäußerten Befürchtungen hinsichtlich eines Anstiegs antisemitischer Straftaten und Übergriffe durch den Zustrom von Migranten aus der MENA-Region können also nicht bestätigt werden. David Feldmans Studie trägt dazu bei, gerade in Zeiten tendenziöser Berichterstattung und Stimmungsmache eine differenziertere Sichtweise auf eine komplexe und alles andere als eindimensionale gesellschaftliche Problematik zu fördern.