Die Frage der Imamausbildung hat an Bedeutung gewonnen, und zwar in ganz Europa. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit Dr. Abdullah Şahin über die theologischen und pädagogischen Grundlagen der Imamausbildung.
IslamiQ: Imam, Religionsbeauftragter, religiöses Personal, Vorbeter usw. Welche Bezeichnung ist Ihrer Ansicht nach die passendste?
Dr. Abdullah Şahin: Das variiert von Land zu Land. Im Vereinigten Königreich sind eher traditionelle Begriffe vorherrschend. Auch wenn der „Imam“ in der Öffentlichkeit bekannter ist, wird in der Fachliteratur mehr von der „religiösen Autorität“ („faith leader“) gesprochen. Auch meiner Meinung nach ist diese Bezeichnung umfangreicher und genauer. Das Vorbeten in der Moschee ist lediglich eine Facette. Die Aspekte Erziehung, spirituelle Führung und religiöse Autorität dürfen nicht vernachlässigt werden.
IslamiQ: Kann man von einem Wandel der Bezeichnung „Imam“ sprechen?
Şahin: In der ersten Migrantengeneration herrschte das klassische Verständnis eines „Imams“. In der dritten oder vierten Generation blieben diese Imame vor allem in Bezug auf die Sprache unzureichend, was Kommunikationsprobleme zur Folge hatte. Die Veränderung trat also erst im Zuge des Generationswechsels auf.
Aber es gibt auch gesellschaftspolitische Umbrüche. Zum Beispiel haben der Auftritt Salman Rushdis Ende der 80er Jahre und die Anschläge 2001 dazu geführt, dass das im klassischen Sinne nach Europa importierte Amt des „Imamats“ eine Umdeutung erfahren hat. Diese Ereignisse haben dazu geführt, dass oft über Moscheen und Imame gesprochen wurde und untersucht wurde, was diese machen oder was sie unterlassen haben. Diese Brüche schlagen sich auch auf die Bezeichnung „Imam“ nieder und folgen dem Bild „guter Imam/schlechter Imam“. Demnach sind „liberale Imame“ gut und „konservative“ schlecht. Der Imam wird somit in einen politischen Kontext gesetzt.
IslamiQ: Welche Modelle der Ausbildung von Imamen gibt es im Vereinigten Königreich?
Şahin: In England gibt es die „Dâr al-Ulûm“, also traditionelle islamische Seminare. Diese stammen meist aus Pakistan oder Indien und sind institutionell und personell eins zu eins nach England transferiert worden. Neben diesen gibt es auch hybride Einrichtungen, die ein traditionelles und modernes Verständnis der islamischen Ausbildung vermischen. Beispiele hierfür sind etwa das „Markfield Institue of Higher Education“, das „Muslim College Cambridge“ oder das „Ebrahim College“ in London.
Die „Dâr al-Ulûm“ bieten hauptsächlich eine Imamausbildung für die eigene Gemeinde an. Denn wenn hier geborene und aufgewachsene Jugendliche die Ausbildung absolvieren, werden sie in den eigenen Moscheen als Imame besser angenommen. Jedoch ist der Abschluss nicht staatlich anerkannt, weshalb die Imame kein Studium aufnehmen können. Wichtige Themen wie die Anstellung oder Gehalt können vor diesem Hintergrund nur bedingt angesprochen werden.
Das Modell der „Dâr al-Ulûm“ in England ist eine Möglichkeit der Ausbildung von Imamen vor Ort, die aber im Grunde mit der Ausbildung in Pakistan übereinstimmt. Das ist nicht immer gut.
IslamiQ: Warum?
Şahin: Ich betrachte Ausbildungsmodelle, deren Konzepte aus muslimischen Ländern importiert werden oder bei denen die Studierenden in muslimische Länder geschickt werden, als problematisch. Diese Art der religiösen Ausbildung ist für die Beheimatung der Muslime in Europa und Herausbildung einer eigenen Religiosität nicht zielführend. Die religiösen Autoritäten der muslimischen Gemeinschaften benötigen eine solide pädagogische Kompetenz. Dieser Bedarf muss meiner Meinung nach vor allem in Europa gedeckt werden.
Wenn wir über die Imamausbildung sprechen, müssen wir uns auf einige Fragen konzentrieren: Wie kann eine islamische Theologie in Europa aussehen? Wie kann ein Imam in dem Land ausgebildet werden, in dem er lebt? Was benötigen religiöse Autoritäten, um eine bessere religiöse Bildung zu gewährleisten und besser auf die wechselnden Bedürfnisse der Gemeinde einzugehen? Hierfür bedarf es einer institutionalisierten Ausbildung mit wissenschaftlicher Grundlage. Dies ist momentan aber nicht vorhanden. Doch warum sollten wir in Europa keine Zentren zur Ausbildung von Imamen errichten? Was hindert uns daran? Das sind die vorrangigen Fragen.
IslamiQ: Wie sollte diese Ausbildung von Imamen in Europa aussehen? Oder anders gefragt: Was unterscheidet sie von der Ausbildung in Ländern wie der Türkei oder Marokko?
Şahin: Der größte Unterschied ist der Lebenskontext. Es ist positiv zu bewerten, dass Muslime in Europa von den Möglichkeiten der religiösen Ausbildung in ihren Herkunftsländern Gebrauch machen und ihre persönlichen oder kulturellen Beziehungen zu diesen Ländern pflegen. Das ist aber nicht unbedingt förderlich, wenn es darum geht, den Islam im hiesigen Kontext zu interpretieren. Stellen Sie sich vor, ein Imam soll die religiöse Identität der Menschen hier definieren, hat sein theologisches Wissen aber in einem anderen Kontext erworben. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es hier zu Spannungen kommt.
IslamiQ: Warum denken Sie, passt die Theologie in einem anderen Land nicht zum hiesigen Kontext?
Şahin: Lassen Sie uns die „Dâr al-Ulûm“ in England als Beispiel nehmen. Diese arbeiten mit dem „Dawa-Modell“. Innerhalb ihres „Netzwerkes“ haben sie ein Verständnis von Dawa und bestimmte religiöse Vorstellungen. Dem entspricht auch die Theologie und die Arbeit des Imams. Im Vordergrund stehen nicht die Bedürfnisse der Gemeindemitglieder, sondern ihre Einbeziehung bzw. Einladung in die Mitte einer bestimmten Gemeinschaft. Bei dieser aus dem Herkunftsland kopierten religiösen Ausbildung steht die Gruppenreligiosität im Zentrum.
IslamiQ: Wenn das für eine Gemeinschaft wichtig ist, ist es dann nicht verständlich, dass sie eine entsprechende Imamausbildung einrichtet?
Şahin: Wenn ein Imam die Erwartungen der Gemeinde nicht erfüllt, kann er nicht viel bewirken. Das ist klar. Aber geht es bei diesem Thema nur darum, dass die Gemeinschaft das Bedürfnis hat, ihre eigene Religiosität neu hervorzubringen und dementsprechend auch ihre Imame ausbildet? Wenn wir so denken, wenn wir also eigentlich kein Interesse daran haben, in Europa eine Umma des Islams zu werden, dann reicht das vorliegende Modell aus. Wenn von einem Imam also nur erwartet wird, die bestehende Religiosität zu reproduzieren, dann ähnelt das eher einem christlichen Ansatz.
Zentral ist doch die Frage: Funktioniert dieses Modell wirklich? Es kann sein, dass der Imam die religiösen und mit der Migration zusammenhängenden Bedürfnisse der Gemeinde abdeckt. Aber in welchem Umfang kann derselbe Imam die in Deutschland, in Frankreich geborenen Kinder, Jugendlichen oder andere muslimischen Gruppen im selben Land ansprechen? Oder ist es Ziel dieses Imams und der Gemeinde, die Jugendlichen auf Biegen und Brechen an die vorgegebene Religiosität heranzuführen? Das alles hängt mit unseren Erwartungen von einem Imam zusammen.
Hier kommt dann auch die Politik ins Spiel, denn nicht nur die Muslime, sondern auch der säkulare Staat hat Vorstellungen davon, wie eine Imamausbildung auszusehen hat. Was meiner Meinung nach zu kurz kommt, ist die pädagogische Sichtweise. Ich denke, die muslimischen Gemeinschaften sollten ihre Modelle unter die Lupe nehmen, eigene Strukturen in Europa schaffen und dem Staat gegenüber deutlich machen, dass sie ihre eigenen Modelle haben, die den hiesigen Kontext miteinbeziehen. Eine solche Sichtweise existiert nicht bzw. entsteht erst neu. Auf einer solchen Grundlage kann es einen Austausch zwischen Gemeinschaft und Universität geben.
IslamiQ: Funktioniert das z. B. in Deutschland?
Şahin: In Deutschland ist es etwas komplizierter, denn hier hat der Staat inzwischen selbst Partei ergriffen. Das Religionsverfassungsrecht ist an Kirchenstrukturen angelehnt. Jedoch ist religiöse Autorität im Islam theologisch anders begründet und äußert sich auch soziologisch unterschiedlich. Vor diesem Hintergrund sieht es so aus, dass es keine endgültige Lösung geben wird, bis es auf muslimischer Seite eine entsprechende religiöse Instanz gibt. Das hindert den Staat aber nicht daran, z. B. eine islamische Theologie aufzubauen, Strukturen zu schaffen und als Akteur aufzutreten. Das ist aus meiner Sicht problematisch.
Die deutsche Regierung setzt, so wie es aussieht, auf die Ausbildung von „liberalen Imamen“. Das bringt ein Legitimationsproblem mit sich, denn es kann nicht erwartet werden, dass die „ausgebildeten“ Fachkräfte in den Moscheegemeinden angenommen werden. Auch ist es unrealistisch, zu erwarten, dass jemand nach 4-5 Jahren Studium direkt als Imam tätig sein kann. Das theologische Studium und die praktische Ausbildung sind zwei verschiedene Dinge. Das bestehende Modell birgt also die Gefahr, dass religiöses Personal ausgebildet wird, welches von der muslimischen Gemeinschaft nicht angenommen wird. Das liegt zum größten Teil daran, dass in der Ausbildung die pädagogische Perspektive vernachlässigt wird.
IslamiQ: An was für ein Modell denken Sie konkret?
Şahin: Wir müssen über das „Wie“ der theologischen Ausbildung diskutieren. Es muss erkannt werden, welche wichtige Rolle die pädagogische Kompetenz bei der Imamausbildung spielt. Ferner müssen wir uns fragen: Wie wurden Imame in unserer Tradition ausgebildet? Welche Stärken und Schwächen hat dieses klassische Modell heute? Wie entwickelte sich die Imamausbildung angesichts der Brüche in der Moderne? Was sind die theologischen und pädagogischen Grundlagen einer zeitgemäßen Imamausbildung? Wie kann ein Imam über diese Grundlagen hinaus eine religiöse Autorität werden? Das alles muss untersucht werden. Ich kann mir vorstellen, dass nach einem dreijährigen Bachelorstudium eine einjährige pädagogisch-theologische Ausbildung sinnvoll wäre.
IslamiQ: Sie sprechen von einer universitären Ausbildung. Ist das ein Muss? Kann es eine Imamausbildung ohne Studium geben?
Şahin: Wichtig ist der Inhalt des akademischen Lehrplans. Zum Beispiel gibt es an der Oxford Universität einen sehr guten Fachbereich für Orientalistik. Wer dort studiert, kann die islamische Tradition begreifen und beurteilen. Das ist eine gute akademische Ausbildung, aber noch keine Theologie, die den Anspruch hat, die Gegenwart aus einer theologischen Perspektive zu interpretieren. Außerdem ist es wichtig, dass ein Imam die Codes traditioneller islamischer Theologie vermitteln kann. Eine Theologie, die das nicht schafft, ist eine problematische Theologie.
Genau das ist eines der Probleme in Deutschland. Wenn man sich einige Zentren für islamische Theologie in Deutschland genauer ansieht, erkennt man, dass sie den Modellen in der Türkei ähneln, die, wie wir wissen, von der westlichen Orientalistik beeinflusst wurden. Die Studierenden hier kennen sich z. B. in der Soziologie gut aus, aber nicht so sehr in den Koranwissenschaften. Wenn hier eine islamische Theologie etabliert werden soll und als akademische Grundlage für die Imamausbildung in Europa dienen soll, dann müssen die Studierenden dort auch das traditionelle Wissen erwerben. Momentan ist das noch nicht der Fall. Wir müssen mehr leisten als nur den Import und die Fortführung von säkular-westlichen islamischen Wissenschaften. Wir brauchen eine umfassende Beschäftigung mit pädagogischen Grundlagen.
IslamiQ: Laut Verfassung darf in Deutschland der Staat sich nicht in die Inhalte der islamischen Theologie einmischen. Trotzdem passiert dies immer wieder. Wäre es vor diesem Hintergrund nicht sinnvoll, wenn die islamischen Religionsgemeinschaften die Imamausbildung unabhängig von den islamisch-theologischen Zentren in Eigenregie organisieren würden?
Şahin: Das wäre möglich, wenn die muslimischen Gemeinschaften gute und transparente Modelle der Imamausbildung etablieren und die Öffentlichkeit keine Vorbehalte gegenüber den dort ausgebildeten Imamen hat. Eine Imamausbildung in drei Stufen – islamische Grundlagen, Pädagogik und Kontextwissen – ließe sich leicht einrichten.
Gegenwärtig sind die meisten Akteure sowie die Gründer oder Leiter der islamisch-theologischen Zentren keine Pädagogen und waren auch nie als Imame tätig. Hier überwiegt die akademische Perspektive. Bei den islamischen Gemeinschaften wiederum fehlt der wissenschaftliche Ansatz, sie orientieren sich zu sehr an der Praxis und Tradition. Wir brauchen einen Ansatz, der beides verbindet.