Es passiert mitten in der Stadt: Dunkelhäutige, Kopftuchträgerinnen, Schwule oder Obdachlose werden getreten, geschlagen oder massiv bedroht. Eine Beratungsstelle zählt auch Vorkommnisse, die der Polizei nicht bekannt werden.
In Berlin hat es im Vorjahr nach Recherchen der Opferberatungsstelle ReachOut mehr rechte, rassistische und antisemitische Angriffe gegeben. Die Zahl der erfassten Gewalttaten und massiven Bedrohungen stieg auf 309, wie ReachOut-Mitarbeiterin Sabine Seybt am Mittwoch sagte. Die Taten richteten sich demnach gegen 423 Menschen, darunter 19 Kinder und 47 Jugendliche. 2017 waren noch 374 Betroffene und 267 Taten erfasst worden. Inzwischen liegen die Fallzahlen wieder ungefähr auf dem Niveau des Jahres 2015, die bislang meisten Taten, 380, hatte ReachOut 2016 gezählt.
Die Entwicklung geht aus Sicht der Experten auf gesunkene Hemmschwellen in der Allgemeinbevölkerung zurück, und auch auf verstärkte Meldungen. „Die rechte Szene ist so schwach wie noch nie“, sagte Kati Becker von der Koordinierungsstelle der Register in den Bezirken mit Blick auf Aktivitäten rechtsextremer Parteien wie der NPD. Die Register erfassen auch rechte Aufkleber, Schmierereien und Pöbeleien: 2018 kamen laut Becker insgesamt rund 3400 Vorfälle zusammen (2017: 2800).
ReachOut stuft mehr als die Hälfte der erfassten Angriffe als rassistisch motiviert ein, wie Seyb sagte. Offensichtlich fühlten sich die Täter durch den verschärften Ton von Politikern mehrerer Parteien ermutigt. Wenn erwachsene Männer sich nicht davor scheuten, mit Gewalt gegen Kinder und Jugendliche vorzugehen, habe die Gesellschaft „ein ernsthaftes Problem“, sagte Seyb. 2019 seien bereits neun Taten gegen Minderjährige erfasst, hieß es.
Einen deutlichen Anstieg verzeichnet ReachOut auch bei antisemitischen Vorfällen: Diese Zahl stieg von 13 im Jahr 2017 auf 44 im 2018. Mit 63 blieb die Zahl der Angriffe wegen der sexuellen Orientierung der Opfer ungefähr konstant. Zudem wurden acht Angriffe gegen Obdachlose gezählt – Seyb sprach von einer „Enttabuisierung“ der Gewalt gegen ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen. Zu den meisten Taten kommt es laut der Organisation auf Straßen und Plätzen in der dicht besiedelten Innenstadt.
Seyb sagte, es werde schwieriger, Betroffene zur Meldung von Vorfällen bei der Polizei zu ermutigen und verwies auf den 2018 bekannt gewordenen Fall, in dem ein Oberkommissar in SMS im Jargon von Neonazis kommuniziert haben soll. Die Berliner Polizei bestätigte damals Ermittlungen gegen zwei Beamte und einen Verweis gegen einen von ihnen. Unter den Ratsuchenden bei ReachOut seien auch zunehmend junge Flüchtlinge, die sich einer rassistischen Behandlung durch Polizisten ausgesetzt sähen, etwa demütigenden Kontrollen, so Seyb.
ReachOut stellt die Daten nach eigenen Angaben seit 2001 anhand von Polizeimeldungen, Medienberichten sowie Meldungen von Zeugen und Betroffenen zusammen. Hinzu kommen die Angaben der Register in den Bezirken. Damit werden auch manche nicht bei der Polizei angezeigte Vorkommnisse erfasst. Die Opferberatung schätzt den Hintergrund von Taten teils auch anders ein als die Behörde. Auch nach Daten der Polizei gab es im Vorjahr einen leichten Anstieg rechter Gewaltdelikte in Berlin: Erfasst wurden 125 Fälle und damit neun mehr als im Jahr zuvor, meist Körperverletzungen.
Eine ähnliche Tendenz bei rechten Gewalttaten wurde am Mittwoch vom Verein Opferperspektive für Brandenburg gemeldet. (dpa/iQ)