Die meisten antisemitischen Straftaten werden von Rechtsextremisten verübt. Ein christlicher Theologe aber meint: Muslime sind die eigentlichen Antisemiten. Liegt er richtig? Eine Analyse von Debora Mendelin.
Auch die Herkunft der befragten Juden ist für ihre Einschätzung der Situation relevant. Zugewanderte Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sind zwar insgesamt seltener mit Antisemitismus konfrontiert und nehmen ihn seltener wahr, was vermutlich an ihrer geringeren Sichtbarkeit liegt. Gleichzeitig haben sie aber größere Sorgen und Ängste vor körperlichen Angriffen und einen kritischeren Blick auf die „Flüchtlingsdebatte“.[23] Dies entspricht dem allgemeinen Trend, der sich in Deutschland abzeichnet[24]. Führer der jüdischen Verbände in Frankreich, Deutschland und Britannien sähen eine momentan erheblich größere Bedrohung für das Judentum durch die islamische Präsenz als durch Rechtsextremismus. [25].
Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Wahrnehmungen von medialer Berichterstattung und persönlichen Ressentiments geprägt und verzerrt werden können. So lassen z. B. die Ergebnisse der Bielefelder Studie auf weit verbreitete Vorurteile gegenüber Muslimen und eine unbegründete Angst vor allem unter osteuropäischen Juden schließen. Diese Angst steht auch hinter der Gründung des rechtsaußen angesiedelten Interessenverbandes „Juden in der AFD“[26]. Die von Funkschmidt zitierte Zeitung „Jüdische Rundschau“ ist eindeutig islamfeindlich und bedient immer wieder mit patriotisch angehauchten Floskeln und verschwörungstheoretischen Ressentiments die Furcht vor einer angeblichen „Islamisierung Deutschlands“.[27]
Damit sollen selbstverständlich die Erfahrungen der Opfer von muslimischem Antisemitismus nicht in Abrede gestellt werden. Die Tatsache der Subjektivität muss jedoch berücksichtigt werden, insbesondere, wenn man eine Kriminalstatistik anhand von Erfahrungen Betroffener abwerten möchte.
Um seine These eines überwiegend muslimisch geprägten Antisemitismus zu untermauern, referiert Funkschmidt ausführlich entsprechende Vorfälle an Berliner Schulen, wo Muslime mehrfach jüdische Schüler und Lehrerinnen antisemitisch beschimpft und sogar angegriffen haben, weshalb sich einige jüdische Schüler zum Schulwechsel gezwungen sahen[28]. Das ist dramatisch und muss thematisiert werden. Die Frage muss jedoch lauten, ob die Ursachen in der Zugehörigkeit zum Islam an sich zu suchen sind, oder eigene Ausgrenzungserfahrungen muslimischer Schüler eine Rolle spielen, wie z. B. der Vorsitzende der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, Derviș Hızarcı, vermutet.[29] Funkschmidt geht es auch gar nicht um die Ursachenanalyse des Mobbing-Problems, sondern einzig um die Feststellung, dass antisemitische Straftaten vorwiegend von Muslimen ausgehen.
Als Negativbeispiel für die Konsequenzen muslimischer Zuwanderung für jüdisches Leben in Europa führt Funkschmidt Frankreich an. Zehn Prozent der französischen Juden sei in den vergangenen 20 Jahren nach Israel ausgewandert. Dieses Argument entpuppt sich im Lichte der israelischen Einwanderungsstatistik als unhaltbar. Die Einwandererzahlen aus Frankreich sind demnach seit 1999 gegenüber früheren Zeiträumen sind signifikant angestiegen.[30] Die meisten Muslime leben bereits seit den frühen 1960er Jahren in Frankreich. Zudem hat es in dem Land in den letzten Jahren immer wieder Phasen einer restriktiven Migrationspolitik gegeben.[31] Ein deutlich plausiblerer Grund für den Fortzug französischer Juden ist hingegen die anhaltend schwache Wirtschaftslage in Frankreich.[32]
Dies alles steht zwar in keinem direkten Zusammenhang mit den diagnostizierten Schwächen der PMK-Statistik, bekräftigt aber unterschwellig Funkschmids Botschaft: Muslime sind für Antisemitismus verantwortlich, in Frankreich genauso wie in Deutschland.
Dr. Funkschmidt versucht auch durch die Bezugnahme auf die Grundsatzerklärung zur Bekämpfung des Antisemitismus des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) vergeblich die Muslime als Täter zu entlarven. Er behauptet „Diese ist voller Bezugnahmen auf die islamischen Aspekte des Themas“ und dass sich die Forderung nach einer „kritisch-historische(n) Exegese heiliger Schriften und die theologische Auseinandersetzung mit der politischen Geschichte der eigenen Religionsgemeinschaft“ nur auf die islamische Theologie beziehe. [33]
Eine entsprechende Forderung des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) interpretiert er als ausschließlich an die Muslime gerichtet, „da beides in der Arbeit christlicher Kirchen seit Jahrzehnten Standard ist (…).“[34]
Tatsächlich heißt es in der Erklärung: „Dies beinhaltet z. B. die Aufarbeitung der Verbreitung von christlichen „Gottesmord“- und Ritualmordlegenden genauso wie die kritische Distanz zu den judenfeindlichen Aussagen im Koran und den Hadithen.“[35] Muslime werden nur einmal, und zwar erneut im Zusammenhang Wahrnehmung der jüdischen Gemeinschaft, als herausragendes Problem benannt. Dabei bezieht sich das JFDA auf eine Studie, in der antisemitische Aussagen irakischer und syrischer Flüchtlinge aufgezeichnet wurden. Ansonsten wird Islamismus immer in einer Reihe mit anderen extremistischen Ideologien aufgezählt.
Gleichzeitig warnt das JFDA davor, Opfer antisemitischer Straftaten für antimuslimische Demagogie zu missbrauchen. Die Erklärung grenzt Antisemitismus zwar klar von anderen Formen von Diskriminierung ab, hebt an gleicher Stelle jedoch die Notwendigkeit hervor, ihn im Zusammenhang mit anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu betrachten, wobei hier explizit die „rassistischen, ethnozentriert-kulturalistischen und religionsbezogenen, aber auch sozialen, sexistischen, LGBTIQ-feindlichen u. a. – Formen der Diskriminierung und Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ angeführt werden.[36] Funkschmidt hingegen tut diese Formen von Menschenfeindlichkeit in einer Fußnote lapidar als „das zeitgenössische(s) Betroffenheitsvokabular immer zahlreicherer Opfergruppen“ ab.[37] Das Forum reproduziere mit dieser Zaghaftigkeit den falschen Blickwinkel auf den neuen Antisemitismus. Dabei stellt die Grundsatzerklärung gleich unter Punkt 1 im Bezug auf die Zunahme eines von Muslimen ausgehenden Antisemitismus fest: „Diese Entwicklung bildet sich auch in Kriminalstatistiken und sozialwissenschaftlichen Studien ab.“[38] Offenbar interpretiert Funkschmidt die Erklärung des JFDA nach Gutdünken, in jedem Fall aber nicht korrekt.
Die Kritik an Funkschmids tendenziösem Artikel kann und soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass antisemitische Haltungen unter Muslimen bekämpft werden müssen. Flüchtlinge aus arabischen Ländern sind oftmals antisemitisch sozialisiert und erfahren innerhalb ihres Herkunftsmilieus aufgrund ihrer Einstellungen keine soziale Ächtung. Ihr Judenhass speist sich aus israelbezogenem Antisemitismus, nicht umgekehrt, wie es hierzulande eher üblich ist[39]. Diesbezüglich ist sehr viel Aufklärungsarbeit nötig.
Für jugendliche Muslime, die in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert worden sind, spielen neben dem Israel-Palästina-Konflikt auch eigene Ausgrenzungserfahrungen eine Rolle. Diese führen oft zu Frustration, besonders wenn man die eigenen Diskriminierungserfahrungen mit den strukturellen Privilegien der jüdische Religionsgemeinschaft vergleicht.[40] Diese Aspekte im Auge zu behalten, ermöglicht die Entwicklung eines ganzheitlichen Ansatzes zur Bekämpfung von Antisemitismus auf allen gesellschaftlichen Ebenen.
Mit dem Finger auf diejenigen zu zeigen, die sich sowieso schon als Menschen zweiter Klasse fühlen, führt dagegen nur zu einer weiteren Verstärkung dieser Wahrnehmung und Rückzug. Vielmehr braucht es den auf Augenhöhe geführten Dialog zwischen Juden und Muslimen, um falsche Wissensbestände zu beseitigen. Autor und Aktivist Armin Langer ist mit der Salam-Shalom Initiative genau diesen Weg gegangen. Er hat auf die Probleme in einigen Berliner Bezirken reagiert und die Initiative für jüdisch-muslimischen Dialog ins Leben gerufen. Was an staatlichen Schulen mit einem hohen Anteil muslimischer Schüler erfolgreich funktioniert, ist an jüdischen Schulen laut Langer aber nicht willkommen. Er und muslimische Mitglieder werden dorthin nicht eingeladen[41]. Ein Dialog kann aber nur dann geführt werden, eine Freundschaft nur dann aufgebaut werden, wenn beide Seiten einen Beitrag dazu leisten.
Der Theologe Funkschmidt hat sich für einen anderen Weg entschieden. Er identifiziert Muslime als die einzig relevante Tätergruppe antisemitischer Straftaten und blendet damit alle anderen Tätergruppen aus! Dabei ist längst offensichtlich, dass Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. 20 Prozent der deutschen Bevölkerung vertreten latent antisemitische Einstellungen.[42] Indem der Fokus ausschließlich auf muslimische Täter gerichtet wird, werde die Gefahr von rechts relativiert, meint auch Derviș Hızarcı. Dadurch könnten Probleme nicht adäquat angegangen werde. Und auch der Antisemitismusbeauftrage der Bundesregierung, Felix Klein, findet die Debatte um Antisemitismus unter Muslimen „unehrlich“. Seiner Meinung nach ist Antisemitismus unter Muslimen nicht verbreiteter als unter Nichtmuslimen.[43] Rechtsextremismus werde in Deutschland seit Jahren unterschätzt und vor allem die große Gewaltbereitschaft nicht hinreichend wahrgenommen.[44]
Schuldzuweisungen tragen nicht zu einer demokratischen Gesellschaft bei, sondern fördern die Spaltung. Damit ist nur jenen geholfen, die das Problem des Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft leugnen wollen. Denn Antisemitismus ist kein „Importprodukt“, sondern tief in der europäischen und vor allem in der deutschen Geschichte verankert[45]. Und dafür können Muslime nun wirklich nichts.
[1] https://www.ezw-berlin.de/html/15_9950.php#fn_1
[2] https://faktenfinder.tagesschau.de/hintergrund/antisemitismus-147.html.
[3] http://www.spiegel.de/politik/ausland/angela-merkel-angst-vor-antisemitismus-durch-fluechtlinge-ernst-nehmen-a-1112286.html.
[4] https://www.schura-niedersachsen.de/aktuelles/artikel-vor-2015/gegen-antisemitismus/ oder auch https://www.welt.de/politik/deutschland/article175745209/Aiman-Mazyek-Zentralrat-der-Muslime-geisselt-Antisemitismus-als-Suende.html
[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/article175580393/Angriff-auf-Israeli-in-Berlin-Das-sagt-Adam-Armoush-zur-Attacke.html, https://.faz.net/aktuell/politik/inland/antisemitismus-bericht-juden-in-deutschland-fuehlen-sich-von-muslimen-bedroht-14985624.html, http://www.taz.de/!5397752/.
[6] http://www.echopop.de/pop-presse-detailansicht/controller/News/action/detail/news/neuanfang-fuer-den-deutschen-musikpreis/, https://www.zeit.de/kultur/musik/2018-04/kollegah-farid-bang-echo-rueckgabe-klaus-voorman-protest.
[7] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/119/1811970.pdf, S. 32.
[8] https://www.ezw-berlin.de/html/15_9950.php#fn_1.
[9] Meldung der Katholischen Nachrichten Agentur vom 11.01.2019: „Beauftragte erhält mehr Berichte zu Antisemitismus von Muslimen“.
[10] https://www.ezw-berlin.de/html/15_9950.php#fn_1.
[11] https://ajcberlin.org/sites/default/files/ajc_studie_gefluechtete_und_antisemitismus_2017.pdf, S. 34-37.
[12] https://www.israelnetz.com/politik-wirtschaft/politik/2018/06/13/kein-hoeheres-antisemitismus-potenzial-unter-muslimen/.
[13] fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2013-discrimination-hate-crime-against-jews-eu-member-states_en.pdf, S. 38.
[14] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/119/1811970.pdf, S. 34.
[15] https://www.ezw-berlin.de/html/15_9950.php#fn_1
[16] fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2013-discrimination-hate-crime-against-jews-eu-member-states_en.pdf, S. 47
[17] Ebd., S. 13.
[18] Ebd., S. 25-26.
[19] Ebd., S. 38.
[20] https://www.ezw-berlin.de/html/15_9950.php#fn_1.
[21] https://uni-bielefeld.de/ikg/daten/JuPe_Bericht_April2017.pdf, S. 21-22.
[22] https://faktenfinder.tagesschau.de/hintergrund/antisemitismus-147.html.
[23] Ebd., S. 4-5.
[24] https://www.boell.de/de/2018/11/07/leipziger-autoritarismus-studie-2018-methode-ergebnisse-langzeitverlauf.
[25] https://www.ezw-berlin.de/html/15_9950.php#fn_1.
[26] https://www.welt.de/politik/deutschland/article181798440/Neue-Gruppierung-Juden-in-der-AfD-Partei-spricht-von-historischer-Bedeutung.html.
[27] http://juedischerundschau.de/kolumne-jr-51/.
[28] https://www.ezw-berlin.de/html/15_9950.php#fn_1.
[29] http://www.taz.de/!5397752/.
[30] https://www.ezw-berlin.de/html/15_9950.php#fn_1.
[31] http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/246828/historische-entwicklung, http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/246841/juengere-migrationspolitische-entwicklungen.
[32] https://www.focus.de/politik/ausland/rekordauswanderung-nach-israel-frankreichs-juden-fliehen-vor-zunehmendem-hass_id_3529461.html.
[33] https://www.ezw-berlin.de/html/15_9950.php#fn_1.
[34] https://www.ezw-berlin.de/html/15_9950.php#fn_1.
[35] https://jfda.de/wp-content/uploads/2018/07/Eckpunkte-zur-Verteidigung-der-freiheitlichen-Demokratie-gegen-Antisemitismus_FIN.pdf, S. 6.
[36] Ebd., S. 4.
[37] https://www.ezw-berlin.de/html/15_9950.php#fn_1
[38] https://jfda.de/wp-content/uploads/2018/07/Eckpunkte-zur-Verteidigung-der-freiheitlichen-Demokratie-gegen-Antisemitismus_FIN.pdf, S. 2.
[39] https://magazin.zenith.me/de/gesellschaft/muslime-antisemitismus-israelkritik-deutschland.
[40] http://www.taz.de/!5345344/.
[41] Ebd.
[42] http://www.taz.de/!5397752/.
[43] https://www.israelnetz.com/politik-wirtschaft/politik/2018/06/13/kein-hoeheres-antisemitismus-potenzial-unter-muslimen/.
[44] https://www.dw.com/de/rechtsextremismus-wird-untersch%C3%A4tzt/a-15547272.
[45] https://www.dw.com/de/kommentar-es-gab-keine-tod-den-juden-rufe/a-41955188.