Die meisten antisemitischen Straftaten werden von Rechtsextremisten verübt. Ein christlicher Theologe aber meint: Muslime sind die eigentlichen Antisemiten. Liegt er richtig? Eine Analyse von Debora Mendelin.
Laut der Statistik zu politisch motivierter Kriminalität (PMK) haben 95 Prozent der antisemitischen Straftaten in Deutschland einen rechtsextremen Hintergrund. Der Theologe Dr. Kai Funkschmidt von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) widerspricht. Tatsächlich, so der Theologe, „entsprechen die typischen Täter bei uns wie in den Nachbarländern dem Muster ‚jung, männlich, muslimisch‘.“[1] Die Statistik würde weiterhin veröffentlicht, obwohl bekannt sei, dass diese ein schiefes Bild zeichnet. Er findet, dadurch werde das gesellschaftliche Misstrauen gerade im Zusammenhang mit Muslimen gefördert.
Die Wahrnehmung der Juden werde dagegen nicht ernst genommen, ihre Stimmen überhört. Anscheinend geht es ihm dabei jedoch weniger um eine berechtigte Kritik an der PMK-Statistik[2]. Dr Theologe interpretiert die zugrundeliegenden Daten höchst subjektiv, blendet relativierende Aussagen in den von ihm verwendeten Quellen aus, fährt mit Halbwahrheiten auf, verirrt sich argumentativ in verschiedenen Kategorien und dreht Tatsachen einfach um.
Anders als von Funkschmidt behauptet, wird der Wahrnehmung der von Antisemitismus Betroffenen im öffentlichen Raum sehr wohl aufgenommen und diskutiert. Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnte bereits 2016, die Sorgen der Juden bezüglich des Zuzugs muslimischer Flüchtlinge ernst zu nehmen[3]. Auch Vertreter muslimischer Organisationen äußern sich immer wieder zu diesem Thema und distanzieren sich.[4] Printmedien von der konservativen Welt und FAZ bis hin zur linken taz berichten regelmäßig über antisemitische Vorfälle[5]. Zuletzt beweist der Skandal um die ECHO-Verleihung an die wegen ihrer antisemitischen Texte hochumstrittenen Rapper Kollegah und Farid Bang im Frühjahr 2018, dass muslimischer Antisemitismus unter dem Deckmantel der künstlerischen Freiheit keine gesellschaftliche Anerkennung erfährt, wie von Funkschmidt behauptet.[6] Es kann also kaum die Rede davon sein, dass das Problem des Antisemitismus in bestimmten muslimischen Milieus bagatellisiert wird.
Zwar wurde in Reaktion auf die von Experten im deutschen Bundestag geäußerte Kritik an den Erhebungsfahren der PMK-Statistik[7] im Jahre 2017 die neue Kategorie „religiöse Ideologien“ aufgenommen, um islamistisch motivierte Straftaten genauer erfassen zu können. Auch merkt der Expertenkreis Antisemitismus in einem Bericht an, dass durch die Zuwanderung aus Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten eine neue Form des Antisemitismus hinzukomme[8]. Um eine bessere Einordnung von Tatmotiven zu erreichen, möchte die Antisemitismusbeauftrage der Generalstaatsanwaltschaft Berlin, Claudia Vanoni, Fortbildungen für Staatsanwälte anbieten.[9] All das reicht Funkschmidt aber nicht.
Er kritisiert, dass die neue Kategorie kaum genutzt werde. Antisemitische Straftaten würden automatisch als rechtsextrem motiviert erfasst, wenn es keine Hinweise auf das Tatmotiv gebe oder sich die Täter einer eindeutigen NS-Symbolik (wie Hakenkreuz oder Hitlergruß) bedienten. Diese Feststellung ist eigentlich eindeutig, für Dr. Funkschmidt aber „äußerst vorsichtig“ ausgedrückt. [10]
Dabei fällt die von Funkschmidt behauptete Verzerrung viel weniger ins Gewicht, wenn man bedenkt, dass die Statistik nur die Tatmotive, nicht die religiöse Zugehörigkeit erfasst. Rechtsextreme Täter sind vermutlich recht häufig Christen, handeln deshalb aber noch lange nicht aus religiösen Motiven, und werden auch nicht als christliche Täter mit einer christlichen Ideologie bezeichnet.
Ethnische Zugehörigkeiten und die politische Sozialisation im Herkunftsland spielen bei muslimischen Tätern eine wesentlich wichtigere Rolle als die Religion. So sind bspw. aus Syrien oder dem Irak geflohene kurdische Muslime tendenziell seltener antisemitisch eingestellt und stehen dem Staat Israel differenzierter gegenüber als ihre arabischen Glaubensgenossen.[11] Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, weist darauf hin, dass es „in muslimischen Ländern wie Aserbaidschan, Bahrain oder Albanien (…) kaum Antisemitismus“ gebe. „Muslimische Menschen, die zum Beispiel aus der Region Palästina kommen, sind dagegen eher israelkritisch. Da liegt Antisemitismus sozusagen in der Luft.“[12] Von Muslimen begangene antisemitische Straftatenstehen offenbar in direktem Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt und sind deshalb weniger religiös als anti-israelisch und anti-zionistisch motiviert,[13] weshalb sie sich kaum in die Kategorie „religiöse Ideologien“ einordnen lassen. Straftaten, die im Zusammenhang mit dem Israel-Palästina-Konflikt stehen, fallen stattdessen in die Erhebungskategorien zu „Hasskriminalität – antisemitisch“ oder „Bürgerkriege/Krisenherde – Unterthema Israel-Palästinenser-Konflikt“. Aufgrund eines fehlenden Definition des Begriffs „Antisemitismus“ erfolgt die Einstufung allerdings willkürlich.[14]
In Bezug auf die Wahrnehmung der Opfer antisemitischer Straftaten greift Funkschmidt zum einen auf eine von der Europäischen Union 2013 europaweit durchgeführte Erhebung zurück. Demnach erlebten Juden „(…) die Angriffe ganz überwiegend von Muslimen, und zwar ist der islamische Anteil umso höher, je gravierender ein Vorfall ist (Andeutungen, Beleidigungen, Gewalt)“.[15]
40 Prozent derjenigen, die in den letzten fünf Jahren Opfer schwerwiegender antisemitische Gewalttaten geworden waren, nahmen die Täter als extremistische Muslime wahr. 20 Prozent nahmen die Täter als links-extremistisch und 14 Prozent als rechts-extremistisch wahr.[16] In Bezug auf antisemitische Belästigungen gaben dagegen 27 Prozent an, es habe sich bei den Tätern um extremistisch eingestellte Muslime gehandelt, während 22 Prozent die Täter als links-extremistisch und 19 Prozent als rechts-extremistisch identifizierten. Mehrfachnennungen waren möglich, weshalb in einem Drittel der Fälle die Kategorien muslimisch-extremistisch und links-extremistisch gemeinsam angekreuzt wurden.[17]
Bei antisemitischen Aussagen liegen nach Angaben der Betroffenen mit 53 Prozent Menschen mit links-extremistischen Ansichten vorn, gefolgt von Menschen mit muslimisch extremistischen Ansichten (51 Prozent). Als rechts-extremistisch wurden 39 Prozent eingestuft. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass es dieser Einordnung keine vorab bestimmten Identifikationskriterien zugrunde lagen.[18] Offensichtlich ist, dass der erlebte Antisemitismus in der Regel in Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt steht. Das ist vor allem dann der Fall, wenn Muslime mit extremistischen Ansichten als Täter genannt werden. Ungarn, das einzige Land, in dem vorwiegend Rechtsextremismus als Ursache antisemitischer Straftaten benannt wird, stellt hier eine Ausnahme dar. Nur in Lettland spielt der Nahostkonflikt eine noch geringere Rolle[19]. Hier stellt sich jedoch die entscheidende Frage nach der Definition von Antisemitismus in Bezug auf Israelkritik. Wo verläuft die Grenze zwischen der Kritik an der Politik des Staates Israel und antisemitischer Einstellungen.
Funkschmid kann auf der Basis dieser Studie zwar zeigen, dass die befragten Juden in den meisten Ländern subjektiv am häufigsten Muslime als Täter antisemitischer Gewalttaten nannten, „ganz überwiegend“ sind 40 Prozent jedoch nicht. Mehr als die Hälfte der Befragten identifizierte politisch motivierte, wenn auch nicht nur rechtsextreme, Täter.
Besonders problematisch wird es im Hinblick auf Funkschmids zentrales Argument, die PMK-Statistik widerspreche der Wahrnehmung der Opfer.[20] Laut einer Studie der Universität Bielefeld sind Opferwahrnehmungen aber nur in begrenztem Maße aussagekräftig, da es aufgrund der unterschiedlichen Sichtbarkeit von Tätern zu Verzerrungen kommen kann[21]. Ein weiteres Problem sind mögliche Mehrfachnennungen. So ergibt die Addition der fünf Kategorien, „unbekannte, linksextreme, rechtsextreme, muslimische oder christliche Person/Gruppe“ 169 Prozent. Die Statistik kann also nur Tendenzen in der Wahrnehmung aufzeigen[22].
Die Bielefelder Studie lässt noch weitere interessante Schlüsse über die Wahrnehmung der befragten Juden gegenüber Muslimen zu. So fühlen sich zwar 70 Prozent der Befragten von der Einwanderung durch muslimische Flüchtlinge bedroht, gleichzeitig gaben 84 Prozent an, dass Antisemitismus auch ohne Flüchtlinge in Deutschland ein Problem sei. 75 Prozent der Befragten machen sich außerdem ernsthafte Sorgen angesichts des Erstarkens rechtspopulistischer Strömungen. Rechtsextremismus spielt anscheinend auch weiterhin eine entscheidende Rolle für Juden in Deutschland.