70 Jahre Grundgesetz

„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und dem Menschen…“

Das Grundgesetz ist 70 Jahre alt. Was sie für Muslime bedeutet und wieso die Verfassung mehr denn je beschützt werden muss, schreibt IGMG-Generalsekretär Bekir Altaş.

24
05
2019
Grundgesetz
Grundgesetz

Vor 70 Jahren wurde unser Grundgesetz, unsere Verfassung erlassen. Sie beginnt mit den Worten: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und dem Menschen…“. Damit wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes, die damaligen Mitglieder des Parlamentarischen Rates, zum Ausdruck bringen, dass es überstaatliche Normen gibt, über die auch eine verfassunggebende Versammlung nicht hinwegschreiten kann.

Die Verfasser des Grundgesetzes haben offengelassen, welchen Inhalt diese Grenzen haben. Dies muss durch Auslegung ausgefüllt werden; und sie muss allen Auffassungen gerecht werden können – den Christen, den Juden, den Atheisten und schließlich auch den Muslimen.

Religionsfreiheit – schrankenlos oder relativ?

Unstreitig hat für uns Muslime die Religionsfreiheit im Grundgesetz – genauso für andere Gläubige – eine besondere Stellung. Sie garantiert die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Sie sind unverletzlich. Sie ist schrankenlos. Die ungestörte Religionsausübung wird garantiert; und zwar auch im öffentlichen Raum. Die Religion wird nicht ins Private eingesperrt.

Muslime haben aber auch, trotz dieser starken Worte, trotz dieser Garantie, erfahren müssen, dass Religionsfreiheit relativ ist. Im Einzelfall kann es leider auch mal darauf ankommen, wer betroffen ist. Das haben sie beispielsweise bei der Beschneidungsdebatte erfahren. Wären nur Muslime von einem Verbot betroffen gewesen, wäre die religiös motivierte Beschneidung sicherlich verboten worden. So makaber es sich anhören mag, sprechen wir vom Glück, dass ein Verbot auch Juden getroffen hätte. So blieb uns vermutlich ein Straftatbestand erspart, der in der Praxis fast ausschließlich Muslime getroffen hätte. Ähnliche Erfahrungen machen wir auch an anderen Stellen: Beim Kopftuch, bei der Schächtung, beim Gebet im öffentlichen Raum und kürzlich auch beim Thema Fasten im Monat Ramadan.

Dort, wo die Religionsfreiheit uns nicht mehr zu schützen scheint, eilt uns oft das Gleichbehandlungsgebot zur Hilfe. Weil der Staat sich allen Religionen gegenüber neutral verhalten muss, keins bevorzugen oder benachteiligen darf, müssen gleiche Rechte oft auch den Muslimen gewährt werden. Doch auch dieser Grundsatz wird nicht selten ausgehebelt, indem vermeintliche Unterschiede vorgeschoben werden.

Bei der Frage beispielsweise, ob eine Religionsgemeinschaft auch als solche behandelt wird, stellen wir fest, dass Gleiches doch nicht immer gleichbehandelt wird. Obwohl beispielsweise die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG), genauso wie andere islamische Religionsgemeinschaften auch, unstreitig sämtliche Voraussetzungen einer Religionsgemeinschaft erfüllen, tun sich die Landesregierungen immer noch schwer, dies zu akzeptieren; trotz zahlreicher Gutachten und zum trotz der Lebenswirklichkeit, die in diesen Gutachten skizziert werden. An anderer Stelle hingegen beobachten wir einen großzügigen Staat, der – wenn es politisch passt – sogar beide Augen zudrückt.

Grundgesetz wird aufgeweicht

Eine Aufweichung unseres Grundgesetzes erleben wir zunehmend auch im Artikel 6. Der Schutz der Familie wird bereits seit vielen Jahren durch Sprachtests ausgehebelt. Tausende Familien müssen viele Jahre warten, bis sie zusammenleben dürfen. Nicht selten führt diese Trennung dazu, dass Familien kaputtgehen.

Noch größere Sorge bereitet mir die aktuelle Flüchtlingspolitik. Auch dort wird auf Kosten der Familien Abschottungspolitik betrieben. Schutzberechtigte Asylbewerber werden kraft Gesetzes gehindert, ihre Familien nachzuholen, obwohl zahlreiche Studien darauf hinweisen, dass dieser Weg die Integration dieser Menschen hinauszögert und sogar verhindert.

Alles andere als ein würdiges Geburtstagsgeschenk ist die aktuelle Flüchtlingspolitik. Wir opfern dieser Politik nicht nur das Recht auf Asyl, sondern auch die unantastbare Menschenwürde. Viele mehr noch, wir opfern dieser Politik auch das, worauf in der Präambel Bezug genommen wird: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und dem Menschen…“

Durch die Einstellung der Rettungsmission im Mittelmeer hat Europa sich dafür entschieden, keine Menschen aus Seenot mehr zu retten. Mit anderen Worten haben wir uns dazu entschlossen, Menschen in Not ertrinken zu lassen – darunter Ältere Menschen, schwangere Frauen und kleine Kinder. Wir schauen weg, obwohl wir ganz genau wissen, dass dort Menschen unsere Hilfe brauchen. Wir setzen dieser menschenverachtenden Politik auch noch die Krone auf, indem wir private Seenotretter dafür bestrafen, sie anklagen und sie vor Gericht zerren, weil sie das tun, was die Pflicht jeden Menschen ist: Menschen in Not zu helfen.

Würde jemand im Rhein ertrinken und wir würden keine Hilfe leisten, indem wir uns einfach abwenden, wäre das unterlassene Hilfestellung; wir würden uns nach unserem Strafgesetzbuch strafbar machen. Geschieht das jedoch im Mittelmeer und sind es Afrikaner die sterben, wird genau dieses Weggucken von uns verlangt. Eine Rechtfertigung für diese Politik im Grundgesetz zu finden, ist unmöglich. Sie ist schlicht unvereinbar mit unserer Verfassung.

Grundgesetz schützen – heute mehr denn je

Das Grundgesetz ist in erster Linie ein Schutzgesetz der Bürger gegenüber dem Staat. Dieser Schutz ist aber nicht selbstverständlich, sondern muss immer wieder eingefordert und erstritten werden. Aber wir alle stehen gleichermaßen in der Pflicht, dem Staat, der Politik, auch der Judikative und Exekutive immer wieder deutlich zu machen, dass unsere Grundrechte weder verhandelbar noch relativierbar sind.

Wir stehen heute, 70 Jahre nach seinem Inkrafttreten, in der Pflicht, ihn zu beschützen und zu stärken. Sie ist die beste Verfassung, die wir haben können, wenn wir sie mit Leben füllen – im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und dem Menschen.

Leserkommentare

Dilaver Çelik sagt:
Super Beitrag. Danke dafür. Was nützen Gesetze, wenn sie nicht im rechtsstaatlichen Rahmen zur Anwendung kommen und dem Konsens nicht gerecht werden? Nicht das Grundgesetz ist das Problem. Ganz im Gegenteil. Verantwortungslose Menschen sind das Problem.
24.05.19
14:58
Wolf D. Ahmed Aries sagt:
Wenn man wie ich seit den siebziger Jahren im Dialog mit den Mitbürgern und den Institutionen steht, dann wird man geradezu dankbar, daß die vocatio dei thematisiert wird. Ich habe immer wieder auf sie verwiesen, was mir selbst von Journalisten manches Mal nicht abgenommen wurde. Vor wenigen Tagen bezweifelte eine höchst komptente Journalistin, daß es die vocation dei überhaupt gäbe. Daher bin ich dankbar ffür diesen Beitrag.
24.05.19
18:36
Kritika sagt:
L.S. Der Bericht berichtet: » Würde jemand im Rhein ertrinken und wir würden keine Hilfe leisten, indem wir uns einfach abwenden, wäre das unterlassene Hilfestellung; wir würden uns nach unserem Strafgesetzbuch strafbar machen. « Geschieht dies jedoch im Mittelmeer - - - -------- Das mit dem Rhein stimmt aber- - Unser Grundgesetz gilt für Deutschland, nicht für das Mittelmeer. Niemand macht sich Schuldig, falls er dort nicht hilft. Dennoch, trotz aller negative Erfahrungen mit Muslims, Trotz der vielen KopftuchProzesse (Querulantin Lunde ) Trotz der vielen Kopftuch Provokationen durch eingeströmte Muslims, Trotz der vielen Vergewaltigungen durch eingeströmte Muslims, Trotz der vielen Morde durch eingeströmte Muslims, Hat auch Deutschland die Rettung von Muslim Schiffbrüchigen intensiv und unter hoher finanziellen Aufwendung betrieben. Nur in letzter Zeit ist die MuslimBelästigung derart gross geworden, dass sogar Deutschland sich sträubt, auch nur noch einen weiteren Muslimischen TroubleMaker hinein zu lassen. Der FamilienNachzug würde weitere KopftuchQuerulanten mit sich bringen. Vielleicht auch weitere Messermänner. FamilienNachzug würde auch das Problem der Muslimischen Viel-Weiberei nach Deutschland tragen. Alles Gründe der Muslim-Plage zuzurufen: Enough is enough. ------------------ Falls es Allah denn geben sollte, Allwissend Allmächtig Dann, Ja dann wäre er, nach Kritikas bescheidene Korankenntnis, auch für das Mittelmeer zuständig, auch zuständig, dort zu helfen. Dass dort noch nie ein Allah aufgetaucht ist, um zu helfen, legt die Vermutung nahe, dass entweder Allah unwissend statt allwissend, ohnmächtig statt allmächtig ist oder - für Kritika die wahrscheinlichste Vermutung, dass Allah ein Fantom ist. Ein Fantom, dass sich die Muslims lediglich einbilden, ausgedacht haben. Gruss, Kritika
24.05.19
23:44
Kafira sagt:
Liebe Leser, » Schutzberechtigte Asylbewerber werden kraft Gesetzes gehindert, ihre Familien nachzuholen, « ----------- Ja, das stimmt. Es mag zunächst unverständlich und sogar nicht sehr menschenfreundlich klingen Es ist dennoch wohl durchdacht und gut begründet. Da ist zunächst die Frage : warum sollten wir? Familienzusammenführung ist eine gute Sache aber - - Weshalb sollte diese Rückführung nicht an der Stätte stattfinden, in dem " die Familie " wohnt? Es steht jedem Flüchtling frei, zu seiner Familie zurückzureisen. Das dort kein Wohlstand, Freiheit, Sicherheit herrscht wie in Germany liegt nicht an Deutschland, sondern es liegt daran, dass dort der Islam herrscht besser gesagt: der Islam wütet. Deshalb wehren wir uns hier gegen den Islam mit Händen und Füssen. Einige eingeströmte IslamFlüchtlinge arbeiten daran, hier islamische Sitten und Gebräuche hoffähig zu machen: Moscheen bauen, Kopftücher , wo immer möglich durchzusetzen Rücksicht auf Ramadan, Muslimische Feiertage, Kantinen sollen Halal anbieten, Bet-Räume in Unies, möglichst nach Geschlechter getrennt, prüde Burkinies, möglichest überall usw. Keines dieser Deutsch-Fremde Forderungen möchten wir hier. Damit wir hier nicht ver-islamisieren, ist Familienzusammenführung nur im unserem Sinne, wenn sie ausserhalb Deutschland stattfindet. Die Deutsche Bevölkerung kennt jetzt Islam hat mehr als genug davon, will sie nicht, betrachtet sie als Fremdkörper "der Islam gehört zu Deutschland" ist leider eine Lüge. Daher wehrt sich die Mehrheit gegen Familienzusammenführung hier. Kafira
25.05.19
0:47
mo sagt:
Schwer nachvollziehbar, dass die/der Einreisewillige tatsächlich „mehrere Jahre“ benötigt, um die Anforderungen zu erfüllen, die die Kompetenzstufe A1 vorgibt. Mit ein bisschen Mühe kann man das in zwei Wochen lernen – aber heutzutage darf man eben nichts mehr außer Forderungen erwarten. Auch in anderen Punkten kann man eine andere Meinung vertreten, als Herr Altaş: Nach Lektüre der ersten zehn Sätze des entsprechenden Wikipedia-Artikels und einiger Google-Treffer scheint mir die „Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş“ ebenso eine Religionsgemeinschaft zu sein, wie die „Grauen Wölfe“ oder die Kinder von Odin. Schlimm sich vorzustellen, dass der Despot aus Ankara auf diese Weise direkten Einfluss auf deutsche Schulen hätte. Fraglich ist, ob der Autor eine große Liebe für die Ideale des Grundgesetzes auch in einem mehrheitlich islamischen Staat fühlen würde. Die demokratische Überzeugung reicht zwar bis ans Mittelmeer, aber eben nicht mehr bis nach Istanbul.
26.05.19
16:28
grege sagt:
Der Beitrag zeigt mal wieder, dass die Nichtgewährung von Sonderrechten und die gebotene Nichtbeachtung islamistisch gesinnter Religionsgemeinschaften wie die IGMG mit der Diskrminierung von Muslimen gleichgesetzt wird. Von daher kann man den Verbalerguss von Herrn Atlas getrost ignorieren.
26.05.19
19:33
Johannes Disch sagt:
@grege (26.05.19, 19:33) Da bin ich ganz ihrer Meinung. Zur Zwischenüberschrift: "Religionsfreiheit - schrankenlos oder relativ?": Kein Grundrecht-- mit Ausnahme von Art. 1 -- ist schrankenlos. In dem Artikel wird suggeriert, dass jede Einschränkung eines Grundrechts eine Aufweichung der Verfassung wäre. Dem ist nicht so.
28.05.19
11:01