Dialog ist sinnvoll und notwendig, jedoch nur wenn er frei und offen geführt wird. Für den Islamwissenschaftler Dr. Ahmet Inam ist jedoch der akademische wie der politische Dialog von Diktaten geprägt. Ein Gastbeitrag.
Seit nun mehr als 20 Jahren nehme ich an verschiedensten Dialogveranstaltungen teil. Von wissenschaftlich-theologischen Dialogsymposien bis hin zu kommunalen Dialogabende. Ich war meist gewöhnlicher Teilnehmer, von Zeit zu Zeit aber auch eingeladener Redner. In den meisten Veranstaltungen war ich vielmehr passiv und beobachtete einfach das Geschehen. Sowohl in den Veranstaltungen, in denen ich passiver Beobachter war als auch in den Veranstaltungen, in denen ich ein Thema vorgetragen habe, gab es immer wieder eine Situation, bei der das Wort „Dialog“ einfach verblasste.
Mehrmals musste ich beobachten, aber auch selbst erfahren, wie manche Personen – zu denen u. a. auch Organisatoren der Veranstaltungen gehörten – ihr Missbehagen mit Mimik und Gestik oder mit Worten deutlich zeigten, wenn ein muslimischer Redner, Teilnehmer oder Mitorganisator nicht die von ihnen erhofften und erwünschten Aussagen tätigte. Als ich vor ein paar Jahren eine Rede über mein Promotionsthema „Sünde im Islam“ hielt, zeigte mir ein nichtmuslimischer Teilnehmer offen seine Bitterkeit und Enttäuschung darüber, dass ich die historisch-kritische Lesart des Korans missachtet hätte, obwohl er mit so vielen Erwartungen gekommen sei. Seine Erwartung bestand anscheinend darin, eine Tür zum Paradies zu ergattern, ohne an die Religion zu glauben. Da ich aber nicht – wie andere es tun – Nichtmuslimen das Paradies versprach, wozu ich nicht befugt bin, und sogar von der Deutlichkeit der jenseitigen Pein für Ungläubige im Koran sprach, war ich für diesen Laien weder ein guter Muslim, der seine Religion nicht besonders gut kannte, noch ein guter Akademiker, der sich der historisch-kritischen Lesart mit Leidenschaft hingeben müsste.
Die historisch-kritische Lesart ist nichts weiter als eine Methode von vielen, deren Anwendung an der Bibel nicht mit der Anwendung am Koran gleichzusetzen ist. Seit ein paar Jahren ist sie die magische und alles erklärende Methode, die nur „Konservative, ewig Gestrige, Unaufgeklärte“ missachten. Das scheint das aktuelle Diktat auf die akademisch-theologischen Kreisen zu sein. Die laienhafte Lesart dieser Methode ähnelt zwar in gewissem Rahmen der der Akademischen, doch die Erwartungen sind – wenn auch nicht immer – unterschiedlich. Während der Akademiker zumeist versucht, das historisch Geschehene erst einmal wissenschaftlich in der Geschichte zu verorten, zu reproduzieren, das Geschehene zu verstehen und anschließend die Ergebnisse zur Diskussion stellt, geht es den Laien zumeist darum, alles – von der Vorbildhaftigkeit des Propheten bis hin zu den Grundlagen der Religion – für immer in die Abgründe der Geschichte zu versenken oder diese zumindest geringzuschätzen.
Die Ambiguitätstheorie von Thomas Bauer, die zurecht große Anerkennung bekam, hat es dagegen nicht geschafft, ein Diktatswerkzeug zu werden, zumal diese Theorie für ein Diktat nicht taugt. Denn dieser Theorie zufolge wären die klassischen Methoden und Lesarten in den Koran- und Hadithwissenschaften oder die islamisch klassische Form der historisch-kritischen Lesart (Stichpunkt: Offenbarungsanlässe) mit der modernen Form dieser Lesart gleichgestellt. Diese Methode ist für den modernen Menschen nur zur Positionierung der eigenen Meinung im Diskurs nützlich, sie wird quasi missbraucht. Doch da er lieber selbst – unabhängig von Quellen und weiterer Meinungen und Methoden – für sich das Richtige zu seinem Wohlgefühl bestimmen möchte, ist sie danach unzweckmäßig.
Der moderne Mensch braucht keine gemoderte Weltvorstellungen, er braucht keine Gebote und Verbote, keine Regeln aus dem Himmel. Er hat Kant, Marx und Nietzsche gelesen und machte Gott obsolet. Er ist der Supermensch! Der Zeitgeist von heute, der dank des Globalismus überall hin schwappt, ist die Unbekümmertheit. Die Unbekümmertheit dank des Kapitals und der Aufklärung. Und diese Unbekümmertheit will man nicht nur im Diesseits. Nein, auch für das Jenseits beansprucht der moderne aufgeklärte Mensch für sich das Heil, unabhängig dessen, ob er daran überhaupt glaubt oder nicht. Der Glaube ist auch nicht wichtig, sondern das Wohlgefühl. Da ist jemand, der von der Pein und Strafe für Sünden im Diesseits spricht oder die Aufklärung kritisch betrachtet, ein Störenfried. Aufgrund dieses Diktats habe ich nicht selten beobachten können, wie manche muslimischen Redner – Akademiker, Verbandsleute oder einfache Engagierte – sich dem Diktat nicht widersetzen konnten, nur um Ende nicht als „inhumane und unaufgeklärte Person“ dazustehen.
Das bisher Gesagte soll die guten Erfahrungen, die aufrichtigen Dialogpartner oder den wichtigen Austausch zwischen den ernsthaft am Dialog interessierten Menschen in den Dialogveranstaltungen nicht in den Schatten stellen. Das ist sicherlich nicht beabsichtigt. Es geht mir hierbei um die voreingenommene Haltung derjenigen, die, entgegen eines Bestrebens nach wissenschaftlichen Erkenntnissen oder entgegen einer auf Augenhöhe geführten Diskussion, zweckmäßige Methoden herauspicken, unbekümmert vorgedachte Schlussfolgerungen ziehen und diese versuchen anderen zu diktieren. Diese sind keine Einzelfälle mehr, sondern vermehren sich in akademischen Kreisen und Dialogveranstaltungen, verbreiten sich in der Bevölkerung und sind derzeit in Politik und Medien präsent. Das herrschende Diktat in und durch Politik und Medien lässt sich nicht minder durch die Akzeptanz von fragwürdigen Personen als Ansprechpartner für das muslimische Leben oder durch die Vermarktung dieser seitens der Medien verdeutlichen.
Eine Pervertierung des Wortes „Dialog“ geschieht nicht einseitig, diese falsche Herangehensweise findet sich auch innerhalb der muslimischen Seite. Nicht wenige Muslime sehen in diesen Veranstaltungen eine lukrative Möglichkeit, stellen sich als aufgeklärte „Kuschel-Muslime“ vor, wirbeln mit kuscheligen Wörtern wie Freiheit, Demokratie, liberal, historisch-kritische Lesart oder geben unbedachte und theologisch fragwürdige Sätze ab wie „der Glaube im Herzen ist wichtiger als die Handlung…“, „die Konservativen sind so und so…“, „es gibt nicht den Islam…“, „der Koran muss neu ausgelegt werden..“, „diese Auffassung über diese Sünde ist nicht mehr zeitgemäß, sondern gehört zum Mittelalter..“ etc. Und doch sind es zumeist diese Kuschel-Muslime, die mit wenigen schmeichelnden Worten und Sätzen, ohne ausreichendes Fachwissen oder wissenschaftliche Seriosität zu Ansprechpartnern der Politik werden. Mehr noch, sie werden in den Dienst des Staates aufgenommen, wodurch die Politik nochmals verdeutlicht, dass es ihr weniger um ernsthaften und ehrlichen Dialog mit den Muslimen geht, sondern um ihre Muslime, die dem Zeitgeist ihre Hochachtung bieten.
Der Inhalt des Diktats ändert sich nicht nur hin und wieder, sondern je nach Bereich des sozialen Lebens ist der Inhalt unterschiedlich. Ist das Diktat auf die theologisch-akademischen Kreisen die historisch-kritische Lesart, so bestand vor ein paar Jahren der Inhalt des Diktats auf das muslimische Leben in Deutschland darin, sich vom Terror und von den Salafisten zu distanzieren. Als wären diese „Frankenstein-Muslime“ ein islamisches und nicht ein modernes Problem. Das aktuelle, von der Politik und den Medien geleitete Diktat auf das muslimische Leben in Deutschland besteht nun darin, den hiesigen und seit Jahrzehnten wertvolle Dienstleistungen bietenden Religionsgemeinschaften eine Absage zu erteilen, diese mehr als nur kritisch zu beäugen und die Wurzel des ganzen Übels im Ausland zu lokalisieren.
Eine fachlich bis zu den elementarsten Themen noch so unwissende Person kann dank der gleichgesinnten diktierenden Medien und Politik zu einer Ansprechperson zum Thema Islam werden. Dazu muss sie nur die hiesigen Religionsgemeinschaften angreifen, sie diffamieren und ihre Beziehungen ins Herkunftsland verteufeln. Wer diesem Diktat folgt, der kann auf die Unterstützung der Medien und des Staates zählen, wie so einige mini- muslimische Vereine diesen Sachverhalt verdeutlichen, die bei der vierten Deutschen Islam Konferenz (DIK) zu gleichwertigen Ansprechpartner des Staates wurden. Konnte eine muslimische Kommentatorin in einer Zeitung mal aus der Reihe tanzen und mutig die hiesige rechtspopulistische Politik kritisieren, so reichte ein neuer kritischer und herablassender Artikel über die Religionsgemeinschaften, um die Gunst der vielen Kritiker ihres mutigen Artikels wieder zu gewinnen.
Es geht mir hierbei nicht um die teilweise berechtigte Kritik an die Auslandspolitik von Herkunftsländern wie der Türkei oder um berechtigte Kritiken über die Versäumnisse der islamischen Religionsgemeinschaften. Es geht um Stimmungsmache gegen diese Gemeinschaften, aus der dann das Diktat entsteht. Als es noch keine Probleme zwischen der Türkei und Deutschland gab, waren die Religionsgemeinschaften stets gern gesehene Gäste und galten als Schutzbolzen gegen die Radikalisierung innerhalb der Muslime. Das zeigt, wie schnell, beliebig und undankbar der Inhalt des Diktats sich ändern kann. Die Frage der fachlichen Kompetenz, der jahrzehntelangen aufrichtigen Engagements, des ehrlichen Dialogs, der Rücksichtnahme der Wünsche und Gefühle der meisten Muslime, sind für das Diktat nebensächlich.
Doch der Kontakt und der „Dialog“ soll weiter existieren. Die großen Religionsgemeinschaften können auch nicht einfach übergangen werden, da sie zu wichtig für das muslimische Leben sind und die überwältigende Mehrheit der Muslime ihre Dienstleistungen tagtäglich – ob sie nun Mitglied sind oder nicht – in Anspruch nehmen. Der „Dialog“ und der Kontakt soll also weiterhin bestehen, doch die Religionsgemeinschaften werden bei den wichtigen Entscheidungen über das muslimische Leben aktuell übergangen. Aber der „Dialog“ mit ihnen soll weiterbestehen, auch wenn in NRW gerade ein Runder Tisch mit „Experten“ entsteht, um den Einfluss der Religionsgemeinschaften zu mindern. Doch der „Dialog“ ist wichtig, auch wenn die Bundesländer den Islamunterricht mit Ausschluss der Religionsgemeinschaften allein organisieren möchten. Zum Iftar lädt man sich ein, doch bei der Islamkonferenz sind die Gemeinschaften lediglich belanglose Teilnehmer und sind den säkularen, also „Kulturmuslimen“ und weiteren „50-Mann und Frau Vereinen“ gleichgestellt. Aber nicht vergessen, „Dialog“ ist wichtig, doch staatliche Fördergelder bekommen nur die, die dem Diktat folgen. Der „Dialog“ ist von großer Bedeutung, natürlich, doch bei den wichtigen Personalentscheidungen der theologischen Fakultäten haben sie nicht mehr oder nur begrenzt mitzureden.
Würden die Religionsgemeinschaften in diesem „Dialog“ die gemäß dem Diktat erwünschten Aussagen tätigen, also das demokratische Recht der Meinungsfreiheit und das Recht der verfassungskonformen Selbstentfaltung nicht in Anspruch nehmen, sie wären wohl schon morgen wieder beliebt.
Wäre das Problem dann wirklich gelöst? Hätte ich dem Teilnehmer einen Platz im Paradies verheißen, wozu ich weder befugt bin noch die Macht besitze? Was käme danach?