Architektur reflektiert die innere Welt, die Spiritualität und den Lebensstil des Architekten. Heutzutage werden viele Moscheen in Europa von nichtmuslimischen Architekten entworfen. Inwieweit können dabei islamische Prinzipien beachtet werden? Der Versuch einer Erklärung.
Das Raumerlebnis eines Besuchers beim Betreten eines Zimmers, einer Moschee oder einer Wohnung ist individuell verschieden. Der gebaute Raum spricht zu seinem Betrachter, er enthüllt sich ihm, sobald er ihn betreten hat. Wir kennen dies als “Phänomenologie des Raumes”. Doch wie werden Moscheen als “Räume” erlebt? Wird das Raumerlebnis vom Glaubensbekenntnis des Architekten beeinflusst? Berechtigte Fragen angesichts der Tatsache, dass zahlreiche Moscheen in Europa von nichtmuslimischen Architekten entworfen wurden.
Eine Moschee ist mehr als eine Ansammlung von Kuppeln und Halbkuppeln. Es geht nicht allein um die bloße Handhabung von Form und Material, sondern darum, der göttlichen Wahrheit durch diese Formen und Symbole Ausdruck zu verleihen.
In den räumlichen und plastischen Formen der islamischen Architektur finden göttliche Einheit und Offenbarung ihren künstlerischen Ausdruck. Aufgrund dieses gemeinsamen Kerns gibt es immer auch Ähnlichkeiten in der Architektur muslimischer Länder.
Die in der Moscheearchitektur verwendete Ornamentik, ihre räumlichen und plastischen Formen lassen sich ohne Rückbezug auf jene metaphysischen und kosmologischen Prinzipien, aus denen sie sich speisen, nicht verstehen. Eine Kuppel ist beispielsweise keine Erfindung von Muslimen, die Art und Weise, wie die Kuppel in der Moscheearchitektur eingesetzt wird, kann jedoch durchaus als einzigartig bezeichnet werden. Individuelle architektonische Elemente oder Lösungen werden zu einem unverwechselbaren, von spirituellen Prinzipien genährten Ganzen vereint.
Architektur besitzt die Fähigkeit, den Menschen sowohl körperlich zu umfassen als auch geistig zu erleuchten. In der sakralen Architektur vermag sich die göttliche Wahrheit dem menschlichen Bewusstsein unmittelbar zu offenbaren. Sie verkörpert das Zeitlose, das Unendliche, die formlose Essenz.
Im Gegensatz zur profanen Architektur muss die Auswahl der Form in der Sakralbaukunst auch deren Inhalt und Symbolik berücksichtigen, will sie die richtige Botschaft vermitteln. Die islamische Architektur verkörpert sich durch religiöse Formen und traditionelle Symbole. Der Sufiforscher Titus Burkhardt bezeichnet sie deshalb auch als die “zweite Offenbarung” des Islams.
Der Entwurf einer Moschee unterscheidet sich nicht von der Rezitation des Korans oder dem Werk des Kalligraphen: Er spiegelt die innere Welt, die Spiritualität oder den Lebensstil des Künstlers bzw. Architekten wider. Deshalb sollten Moscheen von Architekten entworfen werden, die in der Lage sind, die Symbolik erfolgreich in bauliche Formen zu übersetzen.
Die Moscheen jeder Region besitzen ihren unverwechselbaren Stil, ihre eigene “Persönlichkeit”. Als eines der berühmtesten Symbole der islamischen Kultur vereint die Moschee Kunst, Architektur und handwerkliches Können in einer heiligen Sphäre. Aus diesem Grund sollten Hand, Herz und Verstand eines muslimischen Architekten den Entwurf einer Moschee bestimmen. Seine bzw. ihre Kreativität steht in den Diensten der göttlichen Einheit und Wahrheit, der sie entsprungen ist. Diese Sensibilität ist notwendig, um künftig wieder “echte” Moscheen zu bauen.
Kann denn jemand, der noch nie ein Moscheebauprojekt betreut, in einem islamischen Land gelebt, gebetet, Zeit in einer Moschee verbracht oder über deren Umgebung reflektiert hat, dieselbe Moschee bauen, wie einer, auf den all das zutrifft?
Die Mehrheit der europäischen Moscheen wurde und wird von nichtreligiösen Architekten entworfen. Wo jedoch eine echte geistige Verbindung zwischen baulicher Form und den Betenden hergestellt werden soll, müssen Muslime das Ruder übernehmen. Nur jemand, der die göttliche Wahrheit versteht, kann mit ihren äußeren Formen spielen, sie verändern und den islamischen Prinzipien wahrhaft Ausdruck verleihen.
Die erste zweckgebundene Moschee Großbritanniens, die Shah Jahan-Moschee, wurde 1889 in Woking errichtet. Ihr Erbauer, der christliche Architekt W. I. Chambers, verband bauliche Elemente des späten Mogulreichs mit gotischen Bögen. Diese erste Moschee ist heute das Zentrum einer blühenden Gemeinde.
Die erfolgreiche Kombination historisch authentischer Anleihen aus unterschiedlichen religiösen Traditionen innerhalb eines neuen Bauwerks konnte deshalb gelingen, weil der Architekt selbst in diese Traditionen eingebunden war. Die geometrischen Proportionen der Moschee von Woking finden sich auch in anderen Sakralbauten wieder. Der Architekt besaß offensichtlich ein gewisses Feingefühl gegenüber jenen Werten, welche die göttliche Wahrheit widerspiegeln. Indem er sich der von diesen Werten inspirierten Formen und Proportionen in seiner Bauweise bediente, konnte der nicht-muslimische Architekt der Shah Jahan-Moschee an die historische Vergangenheit anknüpfen.
Anders verhält es sich im Falle des jüngsten Moscheeneubaus in Großbritannien, dem Cambridge Mosque Project. Der 23 Millionen Pfund teure Bau der Londoner Architektengruppe Marks Barnfield wird als Europas erste “Öko-Moschee” gelobt.
Die Moschee trägt zum einen den Forderungen britischer Muslime nach repräsentativen Gebetsräumen Rechnung zum anderen bietet sie eine zeitgenössische, Architektursprache an, und eröffnet der Gemeinde damit die Vision eines neuen baulichen Ansatzes.
Aus architektonischer Perspektive sehen wir ein schönes Gebäude. Die Kombination aus Kuppel und Holzkonstruktionen kann zumindest technisch als erfolgreicher Versuch eines Moscheeraums betrachtet werden. Anders als von Marks Barnfield behauptet, sind die Holzkonstruktionen jedoch wohl weniger Ausdruck oder Schaffung einer “lokalen islamischen Architektur”, sondern vielmehr eine Hommage an den japanischen Architekten Shingeru Ban. In dem von Ban entworfenen südkoreanischen Luxusressort “Nine Bridges Golf Club House” finden sich nämlich ganz ähnliche Konstruktionen.
Im Zusammenspiel mit der Kuppel, einem Brunnen, dem andalusischen Garten, Kalligraphien und Arabesken entsteht aus technischer Sicht dennoch eine gelungene Verbindung aus islamischen Architekturelementen und modernem Design.
In Europa gibt es hervorragende muslimische Architekten, die ihre Entwürfe in erfolgreiche Projekte umsetzen können. Diese Architekten setzen nicht allein auf die “Schönheit” eines von irgendwoher übernommenem Modell. Sie kennen die Anliegen der jeweiligen Gemeinden und arbeiten in einem islamischen Rahmen. Es gilt, die sakrale Form der islamischen Architektur wiederzuentdecken. Wir haben dies bereits bei früheren Muslimen und muslimischen Architekten beobachten können.
Die Rolle des Architekten lässt sich mit der eines Dirigenten vergleichen. Er ist das Hirn, in dem die Idee erblüht. Ingenieure führen Berechnungen durch und setzen den Gedanken um, technische Zeichner fertigen die Skizzen an, die von Grafikdesignern in 3D-Modelle übersetzt werden; Künstler und Handwerker gestalten das Innere, Landschaftsgärtner kümmern sich um die Anlage der Grünflächen. Für einen harmonischen Klang benötigt dieses “Orchester” finanzielle Förderung.
Anstatt Unterstützung von außen anzufordern, müssen muslimische Organisationen im Westen muslimische Architekten, Ingenieure, Designer und Handwerker im Sinne einer zeitgenössischen islamischen Architektur fördern. Die drängende Frage, der wir uns stellen müssen, lautet nicht, ob nichtmuslimische Architekten die symbolträchtigen Moscheen von heute entwerfen können, sondern warum sie es tun.