Die Massenproduktion bringt viele ethische Fragen mit sich. Insbesondere bei der Herstellung tierischer Produkte. Was der Islam dazu sagt, erklärt Isabel Schatzschneider.
Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges hat sich die Landwirtschaft in der westlichen Welt drastisch verändert. Technische und wissenschaftliche Fortschritte ermöglichen es, mit wenig Kosten und Arbeitskräften erhebliche Ertragssteigerung zu erzielen. Moderne landwirtschaftliche Methoden hat man in westlichen Ländern entwickelt, breiten sich jedoch immer mehr in der restlichen Welt aus. Auch muslimisch geprägte Länder und die Halal-Industrie sind von diesen Veränderungen betroffen.
Die effiziente und kostenminimierende Produktion hat jedoch massive Konsequenzen: Bodenverdichtung, Ressourcenverknappung, Verlust der Agrobiodiversität durch Überdüngung, Pestizideneinsatz, hochsensible und krankheitsanfällige Nutztiere, Hormon-, Antibiotika- und Pestizidrückstände in Lebensmitteln, schlechte Löhne und Arbeitsbedingungen, Land Grabbing, Bauernsterben, Überfischung und Weltmeere, Verletzung von Verbraucherrechten usw.
Je industrieller die Methoden zur Produktion, desto intensiver werden moralisch relevante Güter tangiert. Der Fachbereich der Ernährungsethik beschäftigt sich mit den Folgen der Land- und Lebensmittelwirtschaft, mit Verhaltensmustern der Konsumenten und gesellschaftspolitischen Werten. Es werden insbesondere die ökologischen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Produktion, Verarbeitung, Vermarktung und des Konsums von Lebensmitteln beleuchtet.
In diesem Artikel wird die Ernährungsethik als eine säkulare Wissenschaft mit islamischen Prinzipien zur Ernährung und Lebensmittelproduktion verbunden. Eine dualistische Trennung zwischen Religion/Spiritualität und Wissenschaft/Natur gibt es im Islam nicht.
Die islamische Religion offenbart ein holistisches und breitgefächertes Rechtssystem – die „Scharia“. Das Ziel dieses Rechtssystems ist es, die islamische Religion, das Leben des Menschen und das Wohlergehen des gesamten Universums zu sichern und zu bewahren. Aus dem Koran und den Überlieferungen des Propheten Muhammads lassen sich eine Vielzahl von rechtlichen sowie ethischen Regeln und Pflichten zur Herstellung, Verarbeitung und Konsumption von Lebensmitteln ableiten.
In der säkularen Ernährungsethik haben sich vier Grundprinzipien vor allem ausgeprägt, die ethisches Verhalten im Konsumverhalten und in den Methoden im Bereich der Lebensmittel betreffen: Vorsorge, Verantwortung, Gerechtigkeit und Vielfalt.
Gemäß dem Vorsorgeprinzip, das als wesentlicher Grundsatz auch in der Umwelt- und Gesundheitspolitik verankert ist, sollen Schäden und Belastungen vermieden werden, bevor sie entstehen. Maßnahmen, die Schäden, beispielsweise Umweltverschmutzungen, herbeiführen können, sind nach dem Vorsorgeprinzip nicht gestattet. Ähnlich verankert ist dies auch in der islamischen Ethik. Hier wird von Prävention von Unheil gesprochen. Die Hauptaufgabe des Menschen liegt in der Vermeidung von Schaden gegenüber der Mitwelt. Das arabische Wort „fasad“ (Unheil) bezieht sich auf alle Handlungen und Methoden, die direkt oder indirekt physikalischen oder spirituellen Schaden gegenüber Individuen, Gemeinschaften oder Gesellschaften anrichten (Sure Bakara, 2:204-205).
Das Verantwortungsprinzip zielt nicht nur auf die Verantwortbarkeit der Handlungsfolgen für die eigene Person und das unmittelbare Umfeld ab, sondern auch auf viel weiter gefasste soziale und ökologische Ressourcen, für die die Nutzer Verantwortung tragen (müssten). Nach dem islamischen Weltbild hat Gott den Menschen die Führerschaft oder Statthalterschaft (Kalif) für Mitmenschen, Lebewesen und dieser Erde übertragen. Es ist die Pflicht jedes Muslims, die Aufgaben, die ihm zugeteilt wurden, nach den göttlichen Regeln auszuführen. Wenn der Mensch diese Verantwortung nicht erfüllt, wird er für seine Taten zur Rechenschaft gezogen. Das Missachten der göttlichen Regeln führt immer zu einem Schaden des Menschen und seiner Umgebung, da die Offenbarung Gottes sich immer auf das Wohlbefinden seiner Geschöpfe ausrichtet.
Gerechtigkeit kann als der optimale Zustand des sozialen Miteinanders betrachtet werden, in dem Interessen, Güter und Möglichkeiten angemessen berücksichtigt werden. Aus islamischer Perspektive wurden die Tiere und die Natur für die menschliche Verwendung erschaffen. Dies gibt dem Menschen jedoch nicht das Recht, diese auszubeuten und zu kontaminieren. Die Erde ist die Schöpfung Gottes und er ist der rechtmäßige Besitzer.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Ernährungsethik ist die Herstellung und Verteilung von Lebensmitteln. Bei diesem Aspekt geht es um die faire Befriedigung von Bedürfnissen und die Vermittlung von Zugangschancen zu genügend und guter Nahrung für alle Menschen. Auch ein wichtiger Bestandteil der islamischen Ethik ist die Bekämpfung von Armut und Welthunger. Dieser Kampf wird durch das Konzept von Zakât und der Institution von Awkâf realisiert. Es gibt zahlreiche Koranverse und Überlieferungen des Propheten Muhammad, die Muslime auffordern die Armen zu speisen. Ein Hadith besagt: „Wer satt zu Bett geht, während sein Nachbar hungert, ist nicht von uns“ (Sunan al-kabîr).
Natürliche Ressourcen wie Wasser und fruchtbare Böden werden immer knapper, sie werden auf unverantwortliche Weise ausgebeutet – zum Leidwesen eines Großteils der heute lebenden Menschen und aller späteren Generationen. Biodiversität ist für die Erhaltung der Gesamtheit aller Lebensformen entscheidend. Täglich sterben über 100 Arten für immer aus, manche von ihnen sind dem Menschen noch nicht einmal bekannt. Dabei ist es allgemeiner Konsens, dass es ethisch (und vielerorts rechtlich!) nicht vertretbar ist, momentan lebende Menschen zu schädigen; ebenso wenig kann es moralisch zu verantworten sein, nachfolgenden Generationen durch einen Verlust an Mitweltqualität zu schaden.
Gott hat den Menschen, seine Mitwelt und das ganze Universum delikat, präzise und in einem perfekten Gleichgewicht erschaffen. Das Universum ist somit unversehrt und frei von jeglichem Defekt und Fehler (Sure Rahmân, 55:1-10). Der Koran warnt davor, dieses Gleichgewicht zu zerstören oder zu schaden. Alle Menschen sollten zusammenarbeiten, um dieses Ökosystem zu schützen und keine Taten begehen, die Ungleichgewicht oder jegliche Form von Zerstörung verursachen. Gott erschuf die Welt für alle Lebewesen (Menschen, Tiere, Insekten, Organismen etc.). Keine dieser Lebewesen dürfen ein Teil dieser Welt okkupieren oder ihre Ressourcen ausbeuten.
Im Islam wird die Umwelt metaphorisch als die Mutter der Menschheit (al-Umm al-Insâniyya) bezeichnet. Gott hat den Menschen aus Erde, Wasser und Staub erschaffen. Es ist eine Pflicht, Wohltun und Güte gegenüber der Mutter zu haben. Ungehorsam ist ein tabu. Nichts auf dieser Welt ist vom Menschen trennbar und der Mensch ist nicht von seiner Umwelt trennbar, da der Mensch von den Bestandteilen der Erde erschaffen wurde. Um den Ressourcenbestand zu bewahren und für zukünftige Generationen zu sichern, muss der Mensch sein momentanes Konsum- und Produktionsverhalten auf nachhaltige Methoden ausrichten.
Die industriellen Land- und Lebensmittelwirtschaft macht viele Konsumenten zu Opfern und Tätern. Vielen Menschen ist dabei bewusst wie die moderne Lebensmittelproduktion agiert. Umfragen haben gezeigt, dass ein Großteil der Verbraucher durchaus Produkte mit höheren Tierschutzstandards wünschen. Jedoch macht sich hier eine Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und tatsächlichem Verhalten sichtbar. Ökologische und nachhaltige Methoden werden meist dann umgesetzt, wenn andere Handlungsmotive mitspielen. Gesundheit könnte beispielsweise so ein Handlungsmotiv darstellen. Auch die islamischen Gebote können eine derartige Verstärkung darstellen. Gute Intentionen und die Verrichtung guter Taten werden belohnt, wohingegen Intentionen und Taten, die zu einem Ungleichgewicht der Natur führen, bestraft werden.