Vorbilder, die uns positiv stimmen, sind heute wichtiger denn je. In der IslamiQ-Reihe möchten wir unsere Leser zu Autoren machen. Heute stellt Ibrahim Gezer sein Vorbild Imam Abû Hanîfa vor.
Der als „größter Meister“ bekannte Gelehrte Imam Abû Hanîfa wurde im Jahre 700 n. Chr. in der Stadt Kufa geboren. Sein eigentlicher Name ist Numân bin Sâbit. Abû Hanîfa war ein intelligenter, sprachlich sehr begabter und ein anerkannter Gelehrter seiner Zeit. Er achtete darauf, gepflegt aufzutreten. So berichtet man über ihn, dass er gutaussehend und stets schick angezogen war. Dies empfiehl er auch seinen Schülern. Sie sollten aber dabei nicht den Ernst verlieren, die bei Gelehrten als Kriterium aufgesucht wurde.
Bevor der große Meister begann, sich mit dem islamischen Recht, dem sogenannten „Ilm al-Fikh“, zu beschäftigen, wandte er sich zunächst der Wissenschaft der islamischen Glaubensnormen zu. Diese Wissenschaft wurde später „Ilm al-Kalâm“ genannt. Die Stadt Kufa, in der Abû Hanîfa lebte und lehrte, war ein kosmopolitisches Zentrum mit vielen verschiedenen Gruppierungen und Strömungen. Um sein Wissen auf dem Gebiet des Kalâm zu vertiefen, nahm er an den dortigen Diskussionsrunden teil und verwickelte sich oft in komplizierte Auseinandersetzungen, die sich um die Glaubensnormen des Islams drehten.
Mit der Zeit dienten diese Diskussionen aber nur noch dazu, Unruhe zu stiften. Deshalb entschied sich Abû Hanîfa, diesen Zirkeln von nun an fernzubleiben. Er war der Meinung, dass die Glaubensnormen klare Grenzen haben und diese bereits vom Propheten und seinen Gefährten gesetzt worden seien. Man musste nicht mehr darüber diskutieren, sondern daran glauben und sie annehmen. Der entscheidende Faktor, der dafür sorgte, dass er nicht mehr an diesen Diskussionen teilnahm, war das Verhalten der Prophetengefährten. Er erkannte, dass die Prophetengefährten zwar über Fatwas sprachen, jedoch kaum über Fragen der Glaubensgrundlagen diskutierten. Deshalb wandte er sich vom Ilm al-Kalâm ab und beschäftigte sich nun mit dem Ilm al-Fikh.
Abû Hanîfâ wurde für die Einführung des Analogieschlusses in das islamische Recht bekannt. Da diese Methode vorrangig auf die Logik und den die menschliche Vernunft setzt, hat man ihm vorgeworfen, eher aus dem Bauch heraus und weniger nach dem Koran zu urteilen. Dieser Vorwurf wurde durch Abû Hanîfâs eigene Strenge in der Rechtsfindung jedoch widerlegt. Zur Lösung eines Problems wandte er sich zunächst dem Koran und der Sunna zu. Danach untersuchte er die Urteile, welche die Prophetengefährten, in ähnlichen Situationen gefällt hatten, um sie auf das bestehende Problem zu übertragen. In einigen Fälle konnte weder mit Hilfe der Quelltexte noch durch einen Analogieschluss eine Lösung erarbeitet werden. Hier wandte er eine andere Methode der Urteilfindung an, die sowohl den islamischen Prinzipien entsprechen als auch den Muslimen bei der Problemlösung nützlich sein musste.
Laut Abû Hanîfa ist das Studium mit einem Lehrer unerlässlich. Denn der Lehrer vermittelt dem Schüler nicht nur Wissen, sondern auch eine gewisse Ethik im Umgang mit seinen Mitmenschen, ohne arrogant auf diese herabzuschauen. Für Abû Hanîfa war es wichtig, das Gelernte auch praktisch anzuwenden.
Er war sich zu Lebzeiten seiner Vorbildrolle bewusst und achtete deshalb darauf, Worte und Taten in Einklang zu bringen. Laut Überlieferung soll er täglich nur drei Stunden geschlafen und den gesamten Koran rezitiert haben. Ansonsten sprach er jedoch nur sehr wenig und widmete sich dem Gottesdienst.
Als man ihm anbot, das höchste Richteramt des Irak anzunehmen, lehnte Abû Hanîfa ohne zu zögern ab. Daraufhin ließ man ihn öffentlich auspeitschen. Er hielt dennoch an seinem Grundsatz fest, kein öffentliches Amt zu bekleiden. Denn er befürchtete, dass der Idschtihâd (freie Rechtsfindung) nicht mehr von den Prinzipien des Islams, sondern vom Willen der Herrschenden beeinflusst werden könnte.
Abû Hanîfa verdiente seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Stoffen. Als er eines Tages erfuhr, dass sein Geschäftspartner einen Stoff teurer als nötig verkauft hatte, spendete er die Differenz an Bedürftige, weil er im Jenseits nicht dafür zur Verantwortung gezogen werden wollte. Trotz seiner Berühmtheit als Lehrer nahm er sich die Ratschläge anderer zu Herzen. Es heißt, er habe einmal einen kleinen Jungen getroffen, der im Schlamm spielte. Er sagte zu ihm „Pass bloß auf, dass du nicht fällst!“ Das Kind antwortete: „Wenn ich falle, dann schade ich mir nur selbst. Sei du lieber achtsam! Denn wenn du stürzt, dann stürzen alle, die dir folgen. Sie alle aus dieser schlimmen Situation herauszuholen, ist noch schwieriger.“ Tief bewegt von diesen Worten sagte Abû Hanîfâ später zu seinen Schülern: „Sollte es in einer Angelegenheit bessere Beweise geben als meine, dann folgt nicht mir in dieser Sache, sondern dem stärkeren Beweis.“
Abû Hanîfa war ein wohlhabender Mann. Trotzdem gab er für sich selbst und seine Familie nur wenig aus und spendete den Rest. Jedem seiner Schüler gab er etwas Geld und wenn einer von ihnen ihn darum bat, half er ihm auch, eine Frau zu finden.
Diese wenigen Beispiele seiner Gottesfurcht und Frömmigkeit machen Abû Hanîfa nicht nur für die Anhänger der hanafitischen Rechtsschule, sondern für alle Muslime zu einem wahren Vorbild.