Muslimische Erinnerungskultur in Europa

„Erinnerungen sind ein Teil unserer Identität“

Erinnerungen und Vergangenheit prägen uns und unser Leben. Mevlida Mešanović schreibt über die muslimische Erinnerungskultur in Europa.

26
10
2019
Erinnerungen
Erinnerungen

Alptraum

Was tust du, Sohn? – Ich träume, Mutter. Ich träume Mutter, wie ich singe,

und du fragst mich, in meinem Traum: Was machst du, Sohn?

Wovon singst du im Traum, Sohn?

Ich singe, Mutter, davon wie ich ein Haus hatte.

Und jetzt habe ich kein Haus. Davon singe ich, Mutter.

Dass ich, Mutter, eine Stimme hatte, und eine Sprache hatte.

Und jetzt habe ich weder Stimme noch Sprache.

Mit der Stimme, die ich nicht habe, in der Sprache, die ich nicht mehr habe,

von dem Haus, das ich nicht mehr habe, singe ich in meinem Lied, Mutter.[1]

„Warum hast du mir nie davon erzählt?“ – Ich verstand die Frage, versuchte aber Zeit zu gewinnen und fragte zurück: „Was meinst du?“ – „Mama, du weißt ganz genau, was ich meine.“ Ich holte tief Luft und sagte: „Wir wollten nicht, dass in deinem Herzen Hass gegen andere Menschen entfacht wird.“

Das kurze Telefongespräch hat sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt und viele neue Fragen aufgeworfen. Im Alter von zwanzig Jahren besuchte mein Sohn zum ersten Mal die Stadt Srebrenica in Ostbosnien. Hier hatte er über die traurigen Geschehnisse aus der Zeit von 1992 bis 1995 erfahren. Er hörte und sah den „Genozid von Srebrenica, bei welchem die serbischen Militäreinheiten innerhalb weniger Tage über 8.000 bosniakischer Knaben, Männer und greise systematisch ermordeten und ihre sterblichen Überreste in primäre, sekundäre und tertiäre Massengräber verscharrten, um das ungeheuerliche Ausmaß des Verbrechens zu vertuschen. […].

Zieht man die Bilanz der Getöteten vorwiegend muslimischen Bosniaken heran, dann kommt heraus, dass jeder achte im Krieg getötete Bosniake in Srebrenica ermordet wurde. Und all das innerhalb von nur ein paar Tagen und unter der Aufsicht der Vereinten Nationen, einer Organisation, die just fünfzig Jahre zuvor, bei ihrer Gründung und nach den Schrecken des Holocausts, geschlossen gesagt hatte. Nie wieder!“ [2]

In den österreichischen Schulen wird das Thema behandelt, jedoch nur am Rande, da nicht genug Unterrichtsstunden im Fach Geschichte zur Verfügung stehen. So hat mein Sohn in der Schule von Srebrenica erfahren. Doch als er den Ort des Geschehens besuchte und mit eigenen Augen sah, was alles passiert war, wollte er von seinen Eltern wissen, warum sie nie mit ihm darüber gesprochen haben.

Ja, warum haben sie mit ihm nicht darüber gesprochen? Was wollten sie damit bezwecken? Dachten sie, die Kinder werden nie davon erfahren? Meinten sie, sie tun den Kindern Gutes, in dem sie das Thema tabuisieren? War es Schande darüber zu sprechen, oder vielleicht doch verboten? Wollten sie sich an diese Zeiten nicht mehr erinnern?

Ein Leben ohne Erinnerung?

Erinnerungen prägen uns und unser Leben. Von ihnen wird eine Vielzahl unserer Handlungen im Alltag geleitet. Erinnerungen sind etwas Persönliches, etwas was jeder von uns mit sich und in sich trägt, etwas was sowohl mit Einzelnem als auch mit Gemeinschaft geteilt werden kann. Sie sind ein Teil unserer Identität.

Erinnerungen können nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Gemeinschaften, bestimmten Gruppen oder Institutionen gehören.Sie sind Ausdruck nationaler Homogenisierung. Manche von ihnen werden zum Gründungsmythos von Staat und Nation. Andere können auch zum Heldenpunkt der nationalen Geschichte werden. Einige von ihnen können aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt und in Vergessenheit geraten, was zu einer ambivalenten Entwicklung in der Gesellschaft führen kann. Durch das Pflegen der Erinnerungen mittels verschiedener Möglichkeiten, wie Erzählungen, Bilder, Rituale, Denkmäler, Institutionen usw. wird Erinnerungskultur gepflegt.

Erinnerungskultur

Erinnerungskultur ist ein Begriff, der seit den 90er Jahren im Gebrauch ist. Er bezeichnet sowohl den individuellen als auch kollektiven Umgang mit der eigenen Vergangenheit und Geschichte.

Durch individuelle und kollektive Erinnerungen kann auf die Stimmung der Gesellschaft gewirkt werden. Individuen gehören unterschiedlichen Erinnerungsmilieus an. Diese werden durch Familien, Vereine, kulturelle oder religiöse Gemeinschaften oder durch die Massenmedien geschaffen.

Die kleinste Gemeinschaft, aus Individuen bestehend, ist die Familie. Bei der Narrative, die in Familien und kleinräumigen Erinnerungsgemeinschaften vorkommt, handelt es sich nicht unbedingt um die großen Erzählungen und Erinnerungen, sondern um die kleinen, alltäglichen Geschichten über einzelne Ereignisse und persönliche Erlebnisse. Aus diesen wird das gemeinsame Gedächtnis gebildet und tradiert. Durch sie wird der Bezug zwischen biographischem Erinnern auf der einen und öffentlicher Erinnerungskultur auf der anderen Seite hergestellt.

Im Unterschied zur individuellen bezieht sich die kollektive Erinnerungskultur auf die Gesellschaft, die durch Individuen beeinflusst und verändert werden kann, und zwar unabhängig von Nationalität, Religion und kulturellem Hintergrund. Dabei gibt es zwei Konzepte zur Auffassung kollektiver Erinnerungen. Die erste Theorie bezieht sich auf den Begriff der „Gegenwart“. Demnach werden die Vergangenheit und unser Gedächtnis unter dem Einfluss der Gegenwart ständig verändert (Aguilar Fernandez 2002:14-15)[3]. Die zweite Theorie geht davon aus, dass jedes persönliche Gedächtnis durch Gruppen- oder kollektives Gedächtnis beeinflusst wird und sein Inhalt von einer bestimmten Gruppe abhängt, die zeitlich und räumlich getrennt ist (ebd.: 14).

Leserkommentare

Emanuel Schaub sagt:
Den Anhängern der so bequemen "in der Gegenwart Leben" Ideologie sei dieser Beitrag zur dringenden lektüre empfohlen . Auch und gerade den Nicht-Muslimen unter den Bio...Deutschen ,ob Religion oder Politik dieser Spezies... die einschlägige "Jetzt2 Literatur passt zu ihr. Aber diese lesen ja nicht im Islamiq.... gruß emanuel
28.10.19
13:26
Johannes Disch sagt:
@Emmanuel Schaub Ich finde, die Bundesrepublik Deutschland kann auf ihre Erinnerungskultur durchaus stolz sein. Da wurde vieles geleistet. Auch wenn im Augenblick die politischen Verhältnisse in Deutschland bedenklich werden (Wahlerfolge der AfD, vor allem in Thüringen).
28.10.19
23:42