Erinnerungen und Vergangenheit prägen uns und unser Leben. Mevlida Mešanović schreibt über die muslimische Erinnerungskultur in Europa.
Die Erinnerungskultur bei Muslimen in Europa ist nicht stark ausgeprägt. Es sind wenige, sowohl individuelle als auch kollektive, Aktionen präsent, die Erinnerungskultur stärken und pflegen. In muslimischen Familien ist die Bedeutung der Weitergabe von Vergangenheitsvorstellungen durch direkte Kommunikation zwischen Familienmitglieder eklatant vernachlässigt worden.
Während religiöse Inhalte, Geschichte, Sprache, Praktiken und Tradition von unseren Eltern und Großeltern, die meist Analphabeten waren, an unsere Generation mündlich vermittelt wurden, hat sich die Situation in Bezug auf Erinnerungskultur bei Muslimen heutzutage, bezüglich der Weitergabe von Erinnerungen, drastisch verändert. Wenn wir im islamischen wissenschaftlichen Kontext bleiben wollen, so können wir sagen, dass der „Isnad“, also die authentische und unterbrochene Kette an Überlieferungen, in diesem Bereich nicht vorhanden ist. Ein Grund dafür kann sein, dass in unserer Gesellschaft immer mehr Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen leben, die über eigene Erinnerungen und Erfahrungen verfügen und deren Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungen ausgeübt wird.
So oder so ist Erinnerungskultur erheblich unterschätzt worden. Was in der Familie beiläufig und absichtslos, aber emotional nah, vermittelt wird, was mit der eigenen Identität zu tun hat, kann andere Vorstellungen erzeugen als das, was über dieselbe historische Zeit durch weitere Quellen als Wissen erlangt wird. Die Gegenwart kann über die Vergangenheit durch Erinnerungen gemeistert werden.
Letztendlich verursachen Erinnerungen die Spannung, die zwischen dem Individuum und der Familie einerseits und den offiziellen gesellschaftlichen Erinnerungen andererseits besteht – denn nicht selten unterscheiden sich individuelle und kollektive Erinnerungen voneinander.
Um die bestehende muslimische Erinnerungskultur zu pflegen und, was noch wichtiger ist, zu fördern, sollten die folgende Aspekte beachtet werden. Fakt ist, dass Muslime in allen Gesellschaften Europas präsent sind. Betrachtet man muslimische Familien, so kann festgestellt werden, dass viele von ihnen ein enormes Potenzial an Friedensstiftung in sich tragen. Sie haben unterschiedliche Herkunftsländer und haben dementsprechende unterschiedliche Lebenserfahrungen gemacht. Durch den Austausch und das Beleben der Erinnerungskultur können verschiedene Erfahrungen erörtert und weitergegeben werden. Es kann zu einer Art Friedenserziehung der Gesellschaftsträger beigetragen werden.
Erinnerungskultur bei Muslimen kann zudem die individuelle und somit kollektive Identität stärken. Betrachtet man bosnische Muslime und ihre Vergangenheit, so lässt sich feststellen, dass sie durch ihr Schweigen ihren Kindern ein Stück der eigenen Identität vorenthalten. Alleine das Thema Srebrenica ist tabuisiert worden. Was noch lebt, sind Erinnerungen an den Genozid, der durch die Veranstaltungen am 11. Juli jedes Jahres abgehalten und organisiert werden. Mit Bedauern kann hier erwähnt werden, dass diese in den letzten Jahren enorm geschwächt sind. Selten wollen sich Menschen, an die nicht schönen Geschehnisse aus der Vergangenheit, erinnern. So versuchen sie letzten Endes einen Teil der eigenen Erinnerung aus dem Gedächtnis zu verdrängen. Manche spüren Wut und Trauer, andere bauen emotionale Schutzmechanismen auf. Das aber dadurch genau das Gegenteil erreicht wird, nämlich die Schwächung der Identität, bleibt vielen unbewusst.
Veranstaltungen zum Thema Kultur, Vergangenheit, Denkmäler und Institutionen gelten als Träger und Unterstützer der Erinnerungskultur. Jan Assman führt Institutionen in seine Theorie des kulturellen Gedächtnisses als wichtiges Instrument der Erinnerungsarbeit ein. Die Erinnerungskultur ist eine Art Institution. Es ist eine Erinnerung, die aus der Vergangenheit extrahiert, entkleidet und in symbolischer Form gespeichert wurde. Beispiele hierfür sind Museen, Denkmäler und alles, was uns dazu bewegen kann, die Erinnerungen zu aktivieren, die wir selbst in die Schaffung dieser Inkarnation investiert haben. Das kulturelle Gedächtnis ist oft extrem elitär, es gehört zu denen, die in diesem historischen Moment die Macht haben, zu denen, die „auserwählt“ sind, um Erinnerungen zu schaffen. (Assman 2008:113).[4]
Durch die Institutionalisierung von Erinnerungskultur kann das Schulsystem enorm unterstützt werden. So besteht für die Schüler eine Möglichkeit, sich vor Ort mit Zeitzeugen zu treffen und mit Inhalten über ein bestimmtes Thema, sei es Religion, Geschichte, Sprache, Mode, Tradition und vor allem Vielfalt des Islams, mehr erfahren. Das Interesse an der Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Vorfahren kann bei Kindern und Jugendlichen in vielfältiger Weise geweckt werden. Sie bietet unzählige Möglichkeiten, aktuelle Probleme der Gesellschaft zu thematisieren: Sprachprobleme, kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Ausgrenzung und Verfolgung. Zugänge zum Thema können über die eigenen Erfahrungen als Minderheit, über Diskriminierungserlebnisse, über Flucht- und Asylerfahrungen geschaffen werden, wobei immer der jeweilige Kontext mitgedacht werden muss.
Ein weiterer Punkt, der hier erwähnt werden soll, ist die Vielfalt an Erfahrungsgeschichten von Muslimen. Unterschiedlich sind nicht nur die jeweiligen Migrationserfahrungen, sondern auch die Opferdiskurse, die insbesondere einen erheblichen Einfluss auf die Stärkung der Identität haben können. Durch Begegnung entsteht Austausch, der für Aufbau von Respekt dem Gegenüber sorgt. Muslime unterschiedlicher Herkunft bringen durchaus auch ihre eigenen Erfahrungen und Erinnerungen in den Diskurs, der anerkannt werden muss. Junge Generationen bekommen die Chance zu lernen was im Umgang mit Menschen nicht angebracht ist und was passieren kann, wenn Menschen andere Menschen nicht respektieren. Ausgrenzung und Diskriminierung werden vermindert. Wenn die Gemeinsamkeiten im Mittelpunkt stehen und nicht die Differenzen, können heterogene Lerngruppen die Auseinandersetzung mit historischen Fakten und verschiedenen Erinnerungskulturen befruchten und zu einem besseren Verständnis beitragen.
Tatsache ist, dass ganze Generationen von Muslimen völlig ohne Kenntnis ihrer eigenen Vergangenheit, Identität, Kultur und Geschichte aufgewachsen sind. Das Ziel war klar: Wenn sie nicht wissen, woher sie kommen, wissen sie nicht, wohin sie gehen sollen. Die wurzellose Pflanze kann auseinander gezogen werden. Die Vergangenheit darf nicht ins Vergessen geraten.
[1] Sidran, Abdulah (1993). Sarajevski tabut. Bosanska knjiga Sarajevo. S. 9. (eig. Ü.)
[2] Ćatić, Esmir in Begić, Adisa (2016).Über/Leben im Krieg. Al Hamra Verlag Wien. S. 13-14
[3] Aguilar Fernandez, Paloma (2002). Memory and Amnesia: The Role of the Spanish Civil War in the Transition to Democracy, Oxford, New York: Berghahn Books.
[4] Assman, Jan (2008), „Communicative and Cultural Memory“, in Erll, Astrid und Ansgar Nunning (Handbuch.), Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin/ NewYork: Walter de Gruyter, 109–118.aa