Muslimische Akademiker

Das Böse als Gottesbeweis bei Mâturîdî

Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute mit Hureyre Kam über die Theodizee-Frage bei Mâturîdî.

02
11
2019
Hureyre Kam zur Theodizee
Hureyre Kam zur Theodizee

IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?

Dr. Hureyre Kam: Ich bin 1981 in der türkischen Ägäis geboren. Als ich schulreif war, sind wir nach Berlin gezogen. Als ein Kreuzberger Junge habe ich dort meine Schullaufbahn abgeschlossen. Meinen Magister habe ich an der Freien und der Technischen Universität Berlin in den Fächern Islamwissenschaft und Philosophie erworben. 2017 bin ich mit meiner Dissertation „Das Böse als ein Gottesbeweis. Die Theodizee al-Māturīdīs im Lichte seiner Epistemologie, Kosmologie und Ontologie“ an der Goethe Universität Frankfurt promoviert. Im Anschluss hatte ich die Möglichkeit, in Frankfurt und auch in der Schweiz am dortigen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) an der Universität Fribourg als Post-Doc zu lehren und zu forschen. Gegenwärtig bin ich Vertretungsprofessor an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg.

IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?

Kam: Das Thema meiner Arbeit ist „Theodizee“. Das ist die Frage, wie wir das Üble, Böse, Schlechte in der Welt angesichts eines absoluten und guten Gottes zu erklären haben. Ich diskutiere das Problem anhand eines zentralen Textes von Mâturîdî, einem bedeutenden islamischen Theologen aus der Frühzeit (4./10. Jh.). Er lebte und wirkte in Samarkand und gehört zu einem der zentralen Figuren des sunnitischen Islams während der formativen Periode. Die theologische Schule der sog. „Mâturîdîya“ fußt auf seiner Autorität, obschon diese Schule erst einige Generationen nach ihm in Erscheinung trat. Der Großteil der Muslime in der Türkei beispielsweise identifizieren sich mit dieser Schule.

IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?

Kam: Das ich in der Türkei geboren bin, war nicht Grund, warum ich Mâturîdî für meine Forschung gewählt habe. Es war der Umstand, dass er in seinem Ansatz zur Theodizeeproblematik einzigartig innerhalb der islamischen Theologie ist. Seine Position, dass das Böse in der Welt als ein Beweis für die Existenz eines weisen und gerechten Gottes anzusehen ist, hat mich auf Anhieb fasziniert. Ich habe das als einen „game changer“ empfunden und wollte dringend wissen, wie das denn eigentlich zu verstehen ist – ob das in sich kohärent und warum das eigentlich nicht bekannt geworden ist. Zumal Mâturîdî ja auch keine Randerscheinung innerhalb des sunnitischen Islams war.

IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?

Kam: Natürlich, viele positive und negative Erfahrungen, woran ich sehr gewachsen bin. Was mich vorantreibt? Ich habe eine große Abneigung gegen Langeweile und lerne am liebsten jeden Tag etwas Neues. Ich versuche dann eine eigene Perspektive zu den Dingen zu entwickeln und frage mich immer, was wohl dabei herauskommt, wenn ich mit einem ganz anderen, manchmal abstrus scheinenden Ansatz an die Sachen, die mich faszinieren, herangehe. Auch wenn am Ende nichts dabei rauskommen sollte, hat mir der Versuch dann Spaß gemacht.

IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?

Kam: Das kann ich nicht wissen. Vielleicht gar nicht und vielleicht mehr als ich erhofft habe. Bleiben wir realistisch: Niemand, der nicht gerade an einer Forschung sitzt oder ein genuines Interesse an einem bestimmten Thema hat, steht morgens auf und denkt sich „Welche Doktorarbeit will ich heute lesen?“. Ich bin froh, wenn sich meine Arbeit für die künftige Forschung als nützlich erweisen sollte.

Das Interview führte Kübra Zorlu.

Leserkommentare

Ute Fabel sagt:
"Seine Position, dass das Böse in der Welt als ein Beweis für die Existenz eines weisen und gerechten Gottes anzusehen ist, hat mich auf Anhieb fasziniert." Wie bitte? Kriege wären demnach ein faszinierender Beweis, dass es einen weisen und gerechten Gott gibt. Wenn unschuldige Kleinkinder an Krebs erkranken, soll das auch ein faszinierender Beweis sein, dass es einen weisen und gerechten Gott gibt? Ich finde es viel faszinierender und beindruckender, dass es im Laufe des 20. Jahrhunderts der Medizin gelungen ist, die Kindersterblichkeit drastisch zu reduzieren und wir zumindest in Westeuropa seit 1945 in relativem Frieden leben, ganz ohne göttliche Einflüsse.
04.11.19
8:16
Emanuel Schaub sagt:
Dies eine verbindet uns.. beide ganz gewiss :die Abneigung gegen LANGEWEILE. Nur wie kann man die Arbeit von Herrn Kam lesen; mein Philosoph.. Dr.Kurt Port würde sie gewiss auch gern in seiner jedem ARGUMENT offenen Art studiert haben!! gruß emanuel
04.11.19
10:59
Charley sagt:
Da mein Beitrag, den ich vor 3 Tagen schrieb, hier nicht veröffentlicht wurde, schicke ich ihn noch einmal (etwas entschärft). Zugleich staune ich über die Maßstäbe der Zensur hier, weil etliche Ausdrücke (Allah-Marionette) ich schon früher in anderen Postings gebrauchte und diese auch sehr sachlich-bildhaft meine, deutlich den mangelnden Individualitätsbegriff des Islam markierend. Hier also mein (entschärftes) Posting: Ein vielleicht spannender Ansatz.... und ein erbärmliches Interview. Die "üblichen" Religionen sehen "das Böse" als "Unfall der Weltenevolution", als "Blechschaden" am per se Guten, und diesen Blechschaden muss man "reparieren" falls er eintritt (Reue, noch mehr Beten usw..) oder am Besten vermeiden. Die Frage, warum es "das Böse" (fürchterliche Verballhornung) überhaupt gibt, wird dabei kaum gestellt. Dabei zeigt schon das gewöhnliche Leben, dass "die eigentliche Wahrheit der überwundene Irrtum" ist, dass das "wirklich Gute das überwundene Böse" ist. Dabei entwickelt sich eine besonders starke Wahrheitsliebe, dabei entwickelt sich ein besonders starkes Gutes! Solch eine Sicht auf Gutes und Wahres schließt also eine Auseinandersetzung, d.h. eben NICHT Vermeidung, sondern Verwandlung des Bösen ein. Das Böse als eine Arbeitsaufgabe meines wahren, zukünftig zu entwickelnden Selbst zu begreifen, ist eine Perspektive der höheren Religion(en). Die "bekannten" christlichen Religionen haben - meiner Kenntnis nach - kein Konzept dazu und der "übliche" Islam schon gar nicht. Da dieser sich sowieso schon längst im Besitz der absoluten Wahrheit dünkt, wie sollte diese in der Auseinandersetzung mit dem Bösen "noch wahrer" werden? Und sektenintern ist sowieso nur eine Rückkehr ins - ursprüngliche, verloren gegangene - Paradies geplant. Dass damit jegliche Evolution der Menschheit für einen Irrtum behauptet wird hat der Islam mit anderen rückwärts gewandten Religionen gemein (z.B. Hinduismus). Einen Sinn in der Kulturevolution, ja überhaupt eine Entwicklung in der Menschheit wird ja insofern sowieso geleugnet, da die Regeln und moralischen Maßstäbe des islamischen Propheten sowieso für alle Zeiten als (end(!)-)gültig angesehen werden. Insofern ist der Islam (auch) - man zeige Gegenteiliges auf! - als inkompetent für eine fruchtbare Auseinandersetzung mit "dem Bösen" beschrieben. Eminent gehört in diese Thematik die Frage der individuellen Freiheit dazu. Dazu hat der Islam kaum etwas substantielles zu bieten, weder zur Frage der Freiheit noch zur Frage, was eigentlich Individualität letztendlich ist. Das Ganze mündet doch immer wieder im Ideal der Allah-Marionette. Nichtsdesotrotz hat mich diese Thematik sehr hellhörig gemacht. Islamiq vermeidet natürlich irgend eine ins Inhaltliche der Thematik gehende Frage, man könnte ja ggf. Unruhe in die Sekte bringen. Bei Wikipedia findet sich zu Maturidi kaum etwas Inhaltliches. https://de.wikipedia.org/wiki/Ab%C5%AB_Mans%C5%ABr_al-M%C4%81tur%C4%ABd%C4%AB bei seinem (dort so genannten) Lehrer Abu l-Hasan al-Asch?ari findet sich dann in seiner Glaubenslehre https://de.wikipedia.org/wiki/Ab%C5%AB_l-Hasan_al-Asch%CA%BFar%C4%AB#Glaubenslehre folgendes: "Sie bekennen ferner, dass es keinen Schöpfer außer Allah gibt, dass Allah die schlechten Taten der Menschen schafft, dass Allah ()die Handlungen der Menschen schafft und dass die Menschen nicht vermögen, irgend etwas zu schaffen …" Nun, da fällt - wie üblich im Islam - jegliche individuelle Verantwortung wieder unter den Tisch. Zugleich muss hier "das Böse" ("schlechte Taten der Menschen") aber differenziert gesehen werden. Dass Maturidi in Samarkand lehrte ist darum interessant, weil es in dieser Gegend lange Zeit manichäische und vermutlich auch zoroastrische Gemeinden gab. Der Manichäismus hat als einzige christliche Religion die eingangs aufgeworfene Frage bearbeitet, welche Mission der Mensch in Bezug auf das Böse hat, ... zwecks dessen Verwandlung/Erlösung. Dass der Manichäismus damit zugleich in dieser Mission einen Schöpfungsgrund des Menschen erkannte (und das Böse also keinesfalls "als Blechschaden der Weltenevolution" behauptete) stellt ihn als einzigartig in die Weltgeschichte. Evtl. ist ja hierin ein Grund zu finden, dass Maturidi diese Frage aufgriff. Leider fehlt eben irgend etwas Inhaltliches zu dieser Arbeit. Schade!
05.11.19
13:51
Charley sagt:
Jetzt erscheint mein Beitrag doch doppelt, obwohl im Fenster, in dem die Anzahl der Kommentare aufgelistet sind, noch immer 0 (null) steht...! Also.... :-))
05.11.19
13:53
Charley sagt:
Ein dritter Versuch, ein Posting hier zu landen (ich muss ja immer rätselraten, wo ich evtl. irgend eine Empfindlichkeit getroffen haben könnte): Ein vielleicht spannender Ansatz.... und ein erbärmliches Interview. Die "üblichen" Religionen sehen "das Böse" als "Unfall der Weltenevolution", als "Blechschaden" am per se Guten, und diesen Blechschaden muss man "reparieren" falls er eintritt (Reue, noch mehr Beten usw..) oder am Besten vermeiden. Die Frage, warum es "das Böse" (fürchterliche Verballhornung) überhaupt gibt, wird dabei kaum gestellt. Dabei zeigt schon das gewöhnliche Leben, dass "die eigentliche Wahrheit der überwundene Irrtum" ist, dass das "wirklich Gute das überwundene Böse" ist. Dabei entwickelt sich eine besonders starke Wahrheitsliebe, dabei entwickelt sich ein besonders starkes Gutes! Solch eine Sicht auf Gutes und Wahres schließt also eine Auseinandersetzung, d.h. eben NICHT Vermeidung, sondern Verwandlung des Bösen ein. Das Böse als eine Arbeitsaufgabe meines wahren, zukünftig zu entwickelnden Selbst zu begreifen, ist eine Perspektive der höheren Religion(en). Die "bekannten" christlichen Religionen haben - meiner Kenntnis nach - kein Konzept dazu und der "übliche" Islam schon gar nicht. Da dieser sich sowieso schon längst im Besitz der absoluten Wahrheit dünkt, wie sollte diese in der Auseinandersetzung mit dem Bösen "noch wahrer" werden? Jedoch "islamintern" ist sowieso nur eine Rückkehr ins - ursprüngliche, verloren gegangene - Paradies geplant. Dass damit jegliche Evolution der Menschheit für einen Irrtum behauptet wird hat der Islam mit anderen rückwärts gewandten Religionen gemein (z.B. Hinduismus). Einen Sinn in der Kulturevolution, ja überhaupt eine Entwicklung in der Menschheit wird ja insofern sowieso geleugnet, da die Regeln und moralischen Maßstäbe des sog. "Propheten" sowieso für alle Zeiten als (end(!)-)gültig angesehen werden. Insofern ist der Islam (auch) - man zeige Gegenteiliges auf! - als inkompetent für eine fruchtbare Auseinandersetzung mit "dem Bösen" beschrieben. Eminent gehört in diese Thematik die Frage der individuellen Freiheit dazu. Dazu hat der Islam kaum etwas substantielles zu bieten, weder zur Frage der Freiheit noch zur Frage, was eigentlich Individualität letztendlich ist. Das Ganze mündet doch immer wieder im Ideal der völligen Hingabe (marionettenartig) an "Allah", in dem sich dann auch jegliche Individualität auflöst. Nichtsdesotrotz hat mich diese Thematik sehr hellhörig gemacht. Islamiq vermeidet natürlich irgend eine ins Inhaltliche der Thematik gehende Frage, man könnte ja ggf. Unruhe in die "fromme Gemeinde" bringen. Bei Wikipedia findet sich zu Maturidi kaum etwas Inhaltliches. Bei seinem dort so genannten Lehrer Abu l-Hasan al-Aschari findet sich dann bei Wikipedia in seiner Glaubenslehre folgendes: "Sie bekennen ferner, dass es keinen Schöpfer außer Allah gibt, dass Allah die schlechten Taten der Menschen schafft, dass Allah ()die Handlungen der Menschen schafft und dass die Menschen nicht vermögen, irgend etwas zu schaffen …" Nun, da fällt - wie üblich im Islam - jegliche individuelle Verantwortung wieder unter den Tisch. Zugleich muss hier "das Böse" ("schlechte Taten der Menschen") aber differenziert gesehen werden. Dass Maturidi in Samarkand lehrte ist darum interessant, weil es in dieser Gegend lange Zeit manichäische und vermutlich auch zoroastrische Gemeinden gab. Der Manichäismus hat als einzige Religion die eingangs aufgeworfene Frage bearbeitet, welche Mission der Mensch in Bezug auf das Böse hat, ... zwecks dessen Verwandlung/Erlösung. Dass der Manichäismus damit zugleich in dieser Mission einen Schöpfungsgrund des Menschen erkannte (und das Böse also keinesfalls "als Blechschaden der Weltenevolution" behauptete) stellt ihn als einzigartig in die Weltgeschichte. Evtl. ist ja hierin ein Grund zu finden, dass Maturidi diese Frage aufgriff. Leider fehlt eben irgend etwas Inhaltliches zu dieser Arbeit. Schade!
06.11.19
13:43
Ute Fabel sagt:
Der griechische Philosoph Epikur schon viel früher und mit wesentlich größerer Geistesschärfe mit der Theodizee-Frage auseinandergesetzt: "Entweder will Gott das Böse nicht verhindern, dann ist er nicht allgütig. Oder er kann es nicht verhindern, dann ist er nicht allmächtig. Oder er kann und will nicht, dann ist er schwach und neidisch zugleich. Oder er kann und will – und dies allein ist Gott angemessen -. woher kommt dann aber das Böse, und warum hebt er es nicht auf?" Die Schlussfolgerung daraus: Es kann keinen allmächtigen und allgültigen Gott geben, den es zu verehren gilt.
07.11.19
7:42
Kritika sagt:
An Charley und weitere Leser, Der § des Deutschen Grundgesetz " eine Zensur findet nicht statt " gilt zwar für alle Menschen, in Deutschland, Muslims wie normale Menschen, aber Islamiq orientiert sich lieber nach den Orient und dort ist Zensur völlig normal. Dabei sind kritischer Kommentar gerade das Salz in der geschmacklosen IslamSuppe. Gruss Kritika
08.11.19
1:27
Charley sagt:
"Zensur": Ich bin im Ganzen durchaus der Meinung, dass für Muslime hier in islamiq relativ locker z.T. recht widerstrebende Meinungen auftauchen dürfen. Das könnte viel schlimmer und restiktiver gehandhabt werden. Und es gibt den Ausschluss als zu "anderer" Meinungen woanders auch. Sogar Kritika wird hier ständig geduldet, das ist schon beeindruckend. ;-) Allerdings verstehe ich nicht die angelegten Maßstäbe: Sind dies diejenigen des Artikelautors? Oder macht das die Islamiq-Redaktion? Vor allem gab es hier verblüffenden zeitliche Verzögerung von etlichen Tagen, bis mein(e) Artikel erschien(en)... darum auch das Chaos oben, dass nicht von mir verursacht wurde. Natürlich haben die Herrschaften von Islamiq schon ihre religösen Steifheiten, wo also dann die (Zensur-)klappe fällt, aber im Ganzen würde ich schlimmeres erwarten. Es gibt viel engere Moslems. Letztlich ist mir diese Metadiskussion egal, viel interessanter bzw. wichtiger ist mir der Inhalt, auf den ich oben hinwies, bzw. der fehlende Inhalt im Interview. Letzteres ist ein Problem.
08.11.19
22:27
Tarik sagt:
"Das Böse als eine Arbeitsaufgabe meines wahren, zukünftig zu entwickelnden Selbst zu begreifen, ist eine Perspektive der höheren Religion(en). Die "bekannten" christlichen Religionen haben - meiner Kenntnis nach - kein Konzept dazu und der "übliche" Islam schon gar nicht." (charley) Es gibt zahlreiche orginelle und lesenswerte Werke aus der klassischen sowie nachklassischen Zeit in der islamischen Welt sowohl zum Thema "das Böse" als auch "Determinismus/freier menschlicher Wille", etc.pp. Und was wir sowohl in der Tiefe als auch Breite in solchen und anderen philosophischen Grundsatzfragen in der islamischen Philosophie (Hikma) als auch der diskursiven Theologie (kalam) finden, ist sowohl beeindruckend, prägend und solange im Westen unbekannt, dass erst in den letzten 20 Jahren die Forschung das bisher in der Orientalistik geltende Bild (eine rückwärtsgewandte Orthodoxie hätte Philosophie verteufelt und letztlich "abgeschafft") aber mal komplett dekonstruiert und ins Reich der eurozentrischen Mythenbildung verworfen. Eine Mythenbildung, welche die Geburt der modernen Philosophie mit "plötzlichen Geistesblitzen" a la Descartes und Newton einherging und welche all die östlichen wegweisenden Vorarbeiten unter den Teppich kehrte. Kein Leibiz ohne Ibn Sina. Kein Descartes ohne Ghazali. Kein Spinoza ohne Ibn Arabi und Ibn Sina. Kein Thomas Aquin ohne Ibn Rushd. Kein Kopernikus ohne Ibn al-Shatir. Und so weiter. Tatsächlich wurden in der sogenannten "Rennaissance" weitaus mehr Werke aus Naturwissenschaft und Philosophie ins Lateinische übersetzt als im 13. Jahrhundert, der Hochphase der "Scholastik" - was übersetzt "Schulung" heißt und de facto nichts anderes hieß, als "bei den Arabern zur Schule zu gehen" (wobei wir hier "Araber" auf die Schrift der Werke anlegen, denn auch die Perser schrieben in der damaligen Lingua Franca). Tatsächlich, und genau DAS ist der "islamische Standpunkt" zu Themen wie "Vorherbestimmung, freier Wille, das Böse" (oder auch "Jenseits", "Seele" "göttliches Wissen (allgemein oder im Detail)" : Es gibt ihn nicht. Jeder Schüler einer Madrasa hatte JEGLICHE geltende Theorie zu kennen. Ich zitierte andernorts bereits Goethe, der genau diese Art von Bildung bewunderte (die alsbald im Zuge des Kolonialismus sehr schnell verschwand): "im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen […] Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der Lehre, daß nichts existiere, wovon sich nicht das Gegenteil sagen lasse; und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muß. Nun aber, nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegenteil behauptet worden, entsteht der Zweifel, welchesdenn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewißheit hervorgeht, welches das Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet. Sie sehen, daß dieser Lehre nichts fehlt und daß wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind und daß überhaupt niemand weiter gelangen kann." Nehmen wir das Beispiel "Determinismus". Wir finden hier in den islamischen theologischen Denkschulen auf einem Spektrum von "Der Mensch ist seines Glückes eigener Schmied" bis hin zu "Gott hat alles genau vorherbestimmt" - mit allen Zwischenstufen - alle Meinungen sehr gut begründet wieder. Und so sieht es auch mit dem Thema "das Böse" aus. Alleine was ein Ibn Arabi in seinem genialen "das Buch der Liebe" (Kapitel seines Opus Magnum "Mekkanische Eröffnungen") verfasst hat, sucht seinesgleichen. Ich empfehle - eins Einstiegsliteratur - "Islamische Theologie im 14. Jahrhundert" von Thomas Würtz, das er anhand eines Fallbeispiels - des Gelehrten at-Taftazani aufzeigt. Wissenswert weniger wegen des genannten Gelehrten als vielmehr deshalb, dass die unterschiedlichen theologischen Denkschulen (nicht zu verwechseln mit den Rechtsschulen) aufgezeigt werden. Die "Qadariyya" räumen dem Menschen eine nahezu völlige Freiheit ein, dicht gefolgt von der "Mu'atizila". Eine Mittelposition nehmen die Maturiden ein, die etwas weniger deterministisch argumentieren als die asch-Schariya. Dem striktesten Determinismus fröhnt die Dschabiriya. Die Salafis - jener calvinistisch-protestantische Abklatsch (der nicht zufällig auf US-Unterstützung bauen kann) - lehnt JEGLICHE Theologie (kalam) ab, er kennt NUR einen radikalen Literalismus. Und solch ein Literalismus war bis vor kurzem in der islamischen Welt zu keiner Zeit salonfähig sondern immer nur in Teilen von einzelnen Personen vertreten worden ohne politischen/gesellschaftlichen Einfluss. Ein Ibn Taimiyya war bis 1900 weitgehend unbekannt und erst durch Neuauflagen von "Reform-Salafisten" wie Muhammad Abduh und Raschid Rida wurde sein Denken - oder genauer: ein Teil seines Denkens, der den Salafisten zu pass kam - einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Es ist übrigens kein Zufall, dass Muhammad Abduh vom damaligen britischen Gouverneur gefördert wurde. Abduh und seine Schüler kritisierten auf Äußerste sowohl a) die traditionelle islamische Gelehrsamkeit als auch b) den Sufismus. Und wir sehen, dass die Enkel und Urenkel dieser Kritik genau jene beherzigt haben. Schon Platon hat einst, wie Bertrand Russell bemerkte, treffend festgestellt, dass es allerhöchstens zwei Generationen bedarf, um ein völlig neues Weltbild und Gedankengebäude zu installieren (Platon ging es dabei um seinen idealen Staat, befreit von Demokraten und Künstlern). Der Verlust der eigenen jahrhundertealten Tradition in Sachen Bildung durch einen oberflächlichen Anpassungsprozess an den Westen (siehe Ägytpen im 19. Jahrhundert) einerseits sowie die innermuslimische Polemik und letztlich Marginalisierung des lange Zeit prägenden Sufismus - dem spirituellen Herz des Islams - haben zu einer Ausbreitung eines puritanischen Reform-Islams calvinistischer Prägung geführt, der durch bestimmte politische Prozesse begünstigt wird.
13.11.19
14:51
Tarik sagt:
Das Böse als eine Arbeitsaufgabe meines wahren, zukünftig zu entwickelnden Selbst zu begreifen, ist eine Perspektive der höheren Religion(en). Gerade diese Sicht ist dermaßen in der islamischen Denkweise ausgebreitet und vertieft worden, dass alleine der Raum hier fehlt, um sämtliche Gelehrte mitsamt ihren Werken zu nennen, die sich damit gründlich und originell damit beschäftigt haben. Mir gefiel in einer dieser Werke der Vergleich mit der Kokosnuss ein: Sie ist haarig und hart und von außen sieht sie nach allem möglichen aus, aber - für denjenigen, der sie zum ersten Mal sieht und nie von einer Kokosnuss gehört hat - niemand käme auf den Gedanken, dass man sie essen könne. Geschweige, dass sie nahrhaft, gesund und lecker ist. Doch wie gelangen wir an die Schätze der Kokosnuss? Wir müssen sie aufbrechen. Und Gott, so die Interpretation, will aus uns allen Schätze herausholen. Wir müssen manchmal durch Leid und Prüfungen durch, und wenn wir diese als Arbeitsaufgabe meistern, kommen wir vlt. zur Erkenntis und werden womöglich gar bessere Menschen. Die Behauptung, solch eine Auslegung gäbe es im "üblichen" Islam nicht, zeugt von einer völligen Unkenntis klassischen und prägenden Islamischen Denkens par excellence. Das ist übrigens kein Vorwurf. Dimitri Gutas, Experte für islamische Philosophie, merkte in seinem Werk "The Golden Era of Avicenism" an, dass er in seinem Titel deshalb die "Goldene Ära avicennischer Philosophie" mit dem Jahr 1350 enden ließ, weil über 90 Prozent aller WErke danach gar nicht in europäische Sprachen übersetzt wurden, und oftmals nur in Manuskripten zu finden sind - und eben nicht, weil irgendwann, wie uns "Islamexperten" a la Tibi, Scholl-Latour und co. weiß machen wollen, eine gebieterische islamische Orthodoxie gesat hätte, "nun ist Schluss mit Philosophie". DAs ist historisch widerlegter Humbug. Nachzulesen und Nachzuhören bsp. bei Peter Adamsons (auch als Podcast zu ergoogeln) "History of Philsophy without any gap" (der Teil "Philosophie in der islamischen Welt")
13.11.19
15:00
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