In Myanmar findet ein Völkermord statt. Der Menschenrechtsaktivist Nurul Islam, Chef der Arakan Rohingya National Organisation (ARNO), spricht im IslamiQ-Interview über das Schweigen der Weltöffentlichkeit, die Lage der Rohingya-Muslime und mögliche Lösungen.
IslamiQ: Die Menschenrechtskrise in Myanmar dauert an. Zahlreiche UN-Berichte belegen das. Wie kann eine Lösung für die Rohingya herbeigeführt werden?
Nurul Islam: Die von der NLD (Nationale Liga für Demokratie) geführte Regierung und das immer noch mächtige Militär in Myanmar haben anscheinend nicht das geringste Verständnis für die Menschenrechte der Rohingya. UN-Resolutionen, Empfehlungen und Ratschläge seitens der UN, Regierungen, der internationalen Gemeinschaft und hochrangiger Politiker werden ignoriert. Alles, was gegen ihre menschenunwürdige Politik spricht, lehnen sie ab.
Die Rohingya-Krise muss zu allererst in Myanmar vor Ort gelöst werden. Dazu müssen die Behörden ihre Einstellung den Rohingya gegenüber ändern. Die Regierung muss ihnen die Staatsbürgerschaft zuerkennen und ihnen Rechtsgleichheit mit den anderen ethnischen Minderheiten des Landes gewähren. Alle in Bangladesch und andernorts überlebende Flüchtlinge müssen an ihren vormaligen Wohnort zurückgeführt, und nicht weiter in Auffanglagern festgehalten werden. Die burmesische Regierung muss die freiwillige, sichere, würdige und nachhaltige Wiedereinbürgerung unter Aufsicht der internationalen Gemeinschaft gewährleisten.
Die Rohingya müssen Teil eines umfassenden Demokratisierungsprozesses sein. Sie müssen auf der Grundlage ihrer verfassungsmäßigen Rechten mit anderen ethnischen Minderheiten in Rakhine friedlich zusammenleben dürfen. Sie müssen uneingeschränkten Zugang zu humanitärer Hilfe haben, Ghettoisierung und Verfolgungen müssen beendet werden. Die Regierung sollte in einen verlässlichen Beitrag zur Förderung eines echten Dialogs zwischen den muslimischen und buddhistischen Gemeinschaften in Rakhine leisten. Dieser Dialog muss auf die Wiederherstellung des Friedens und auf Versöhnung ausgerichtet sein.
IslamiQ: Welche Maßnahmen müssten ergriffen werden?
Die internationale Gemeinschaft ist aufgefordert, folgende Maßnahmen zu ergreifen:
– Den effektiven Druck auf Myanmar und seine beiden wichtigsten Alliierten, Russland und China, ausüben, die als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats mit ein Veto haben.
– Die Verbrechen gegen die Rohingya als Völkermord und Verstoß gegen die Menschlichkeit anerkennen, die von der unabhängigen Aufklärungsmission der UN als solche bezeichnet wurden.
– Unterstützung von Bemühungen, um sicherzustellen, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfährt und sich der Kreislauf der Gewalt nicht wiederholt. Alle Täter müssen vor Gericht gestellt werden. Hierzu bedarf es der Einschaltung des Internationalen Strafgerichtshofs und anderer internationaler Tribunale. Vertragsstaaten müssen einzeln oder gemeinschaftlich in Übereinstimmung mit der Völkermord-Konvention dafür Sorge tragen, dass Myanmar vor dem Internationalen Strafgerichtshof zur Verantwortung gezogen wird und Interimsmaßnahmen ergreifen, um den Genozid zu stoppen und Entschädigungsleistungen zu erwirken.
– Zielgerichtete Sanktionen gegen die burmesische Regierung und das Militär verschärfen. Es ist an der Zeit, über rein symbolische Sanktionen hinauszugehen und die konkreten ökonomischen Interessen des Militärs ins Visier zu nehmen. Präferenzregelungen müssen an die Einhaltung der Menschenrechte und die handfeste Verbesserung der Lebensbedingungen für die Rohingya gebunden sein.
– Unterstützung von Bemühungen zur Entsendung einer Stabilisierungstruppe unter Überwachung durch die internationale Gemeinschaft, um den friedlichen Rückführungsprozess zu gewährleisten, die Rohingya in Myanmar zu schützen, zukünftige Gewalt zu unterbinden und eine friedliche Koexistenz aller ethnischen Gruppen zu sichern. Die Stabilisierungstruppe soll darüber hinaus den traumatisierten Flüchtlingen dabei helfen, Vertrauen aufzubauen.
– Direkte Einbindung der Rohingya in die Entscheidungsfindung, um sicherzustellen, dass sich ihre Sichtweise in den Rückführungsbemühungen angemessen spiegelt.
– Verbesserte Unterstützung für die Flüchtlinge in den bengalischen Lagern, die dringend Bildung, Sicherheit und angemessene Gesundheitsversorgung benötigen. Dies schließt psychiatrische Betreuung und Traumabehandlungen vor allem von Kindern und Opfern sexueller Gewalt ein.
– Alle Beschränkungen, Verfolgungen und Ghettoisierungen der Rohingya müssen beendet werden. Alle Rohingya, die seit 2012 in konzentrationslagerähnlichen Camps in Sittwe und anderen südlichen Städten gefangen gehalten werden, müssen rehabilitiert und wieder in ihre Dörfer eingegliedert werden.
– Die burmesische Regierung muss die ungehinderte humanitäre Versorgung von Bedürftigen und den unbeschränkten Zugang internationaler Medien, Beobachter und Menschenrechtsgruppen zum nördlichen Rakhine-Staat zulassen.
IslamiQ: Wie ist die Situation der Rohingya, die nicht aus Myanmar fliehen konnten?
Islam: Derzeit leben noch rund 600,000 Rohingya in Rakhine. Sie werden weiterhin verfolgt und leben in abgeschotteten Dörfern, Ghettos und Konzentrationslagern. Die dortigen Bedingungen werden von internationalen Hilfsorganisationen als die schlimmsten der Welt beschrieben. Es gibt keine Bewegungsfreiheit, keinen Zugang zu Arbeit, Bildung, medizinischer Versorgung und anderen Hilfsleistungen.
Seit der Gewaltwelle von 2012 wurden über 140.000 Muslime, darunter Rohingya und Kaman, in Flüchtlingslagern in den Vorstädten der Provinzhauptstadt Sittwe und anderer Städte im Süden Rakhines deponiert. Dort warten sie vergeblich auf die Rückkehr in ihre Heimatdörfer. Sie leiden unter massiven Unterdrückungen und Einschränkungen, während der Genozid weitergeht.