In Myanmar findet ein Völkermord statt. Der Menschenrechtsaktivist Nurul Islam, Chef der Arakan Rohingya National Organisation (ARNO), spricht im IslamiQ-Interview über das Schweigen der Weltöffentlichkeit, die Lage der Rohingya-Muslime und mögliche Lösungen.
IslamiQ: Wie steht es um ihre ehemaligen Wohnorte?
Islam: Das Land der Rohingya wurde zum Staatseigentum erklärt, um es an das Militär und buddhistische Siedler zu verteilen. Mit ausländischer Hilfe wurde im Maungdaw Township eine sogenannte Sonderwirtschaftszonen eingerichtet. Die Dörfer wurden niedergewalzt und zerstört, um mögliche Beweise für Gräueltaten und Massengräber zu vernichten, aber auch, um die Flüchtlinge in Bangladesch von einer Rückkehr abzuhalten.
Nord-Rakhine wurde zur Sperrzone erklärt, humanitäre Hilfe blockiert, Mobil- und Internetverbindungen gekappt. Seit sich die Kämpfe zwischen Rohingya-Armee und Myanmar intensiviert haben, leiden die Menschen dort große Not. Es droht eine Hungerkatastrophe. In diesen Kämpfen werden immer wieder Männer, Frauen und Kinder der Rohingya getötet.
IslamiQ: Wie ist die Lage der Rohingya in den bengalischen und indischen Flüchtlingslagern?
Islam: Einschließlich derjenigen, die nach dem 25. August 2017 eingereist sind, beträgt die Zahl der Rohingya-Flüchtlinge in Bangladesch rund eine Million. Trotz der angespannten Wirtschaftslage hat Bangladesch sie aus humanitären Gründen großzügig aufgenommen. Nach über zwei Jahren sitzen viele der traumatisierten Flüchtlinge immer noch in behelfsmäßigen Lagern in dem begrenzten Gebiet um die Stadt Cox’s Bazar fest. Es fehlt an allem, vor allem an Bildungsmöglichkeiten. Sie brauchen Grund- und weiterführende Schulen, medizinische Betreuung und Traumabehandlungen.
Nach Angaben der indischen Regierung leben 40.000 Rohingya in Indien. Sie gelten dort als illegale Einwanderer aus Myanmar. Die Flüchtlinge leben in Slums, in ständiger Angst vor Abschiebungen. Kleine Flüchtlingsgruppen wurden an der Grenze zu Myanmar abgewiesen, obwohl Indien eine lange Tradition der Aufnahme von Asylsuchenden aus verschiedenen Ländern hat, darunter Angehörige anderer Ethnien aus Myanmar.
Weder Indien noch Bangladesch haben die UN-Flüchtlingskonvention von 1951 unterzeichnet. Da die Rohingya sich bereits auf ihrem Staatsgebiet befinden, gelten für sie die Bestimmungen der Flüchtlingskonvention. Ihre Rückführung in ihre burmesischen Heimatdörfer sollte freiwillig, sicher, würdevoll und nachhaltig erfolgen.
IslamiQ: Die UN und internationalen Menschenrechtsorganisationen verurteilen die Verfolgung der Rohingya in Myanmar scharf. Sie sprechen von Völkermord. Was hat das für Folgen für Myanmar?
Islam: UN-Ermittler haben die Weltgemeinschaft aufgefordert, Sanktionen gegen Firmen zu verhängen, die die wirtschaftlichen Interessen des burmesischen Militärs bedienen. Demnach seien mindestens 59 ausländische Firmen in Handelsbeziehungen zum burmesischen Militär u. a. auch solche aus Frankreich, Belgien, der Schweiz, Hongkong und China. Die Ermittler rufen auch zu einem Waffenembargo auf und nennen 14 Firmen, die die Sicherheitskräfte Myanmars mit Waffen und anderer Ausrüstung ausgestattet haben. Dazu gehören staatliche Unternehmen aus Israel, Indien, Nordkorea und China. Einzelne Firmenangehörige können wegen Verletzung internationaler Menschenrechtsnormen und des humanitären Völkerrechts angeklagt werden.
Trotz alldem wurden immer noch keine konkreten Maßnahmen gegen die burmesische Regierung und das Militär seitens der internationalen Gemeinschaft und mächtiger Staaten ergriffen. Im Juli 2019 kündigte der US-Außenminister Sanktionen an. Gegen den Oberbefehlshaber des burmesischen Militärs, Min Aung Hlaing, dessen Stellvertreter Soe Win und zwei weitere hochrangige Kommandeure und ihre Familien, wegen der rechtswidrigen Tötung von Rohingya. Die USA untersagte ihnen die Einreise.
Am 9. September 2019 nahm das Europäische Parlament ein Resolutionspapier an, in dem der Sicherheitsrat dazu aufgefordert wird, ein „umfassendes Waffenembargo“ in gezielte Sanktionen gegen diejenigen „die offensichtliche Verantwortung für ernste Menschenrechtsverletzungen“ gegen die Rohingya-Bevölkerung tragen. Dazu gehören „systematische und großangelegte Angriffe“, die dem Hochkommissariat für Menschenrechte zufolge „an Genozid, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit heranreichen“. Die Resolution fordert die EU-Mitgliedsstaaten außerdem auf, während der nächsten Sitzung des UN-Menschenrechtsrats für die Verhängung von Sanktionen gegen Myanmar einzutreten. Bisher wurde gegen 14 burmesische Offizielle ein Einreiseverbot in die EU verhängt, ihre Konten wurden eingefroren. Ein EU-weites Waffenembargo trat in Kraft.
Völkermord ist die Tat eines Staates und fordert die Reaktion anderer Staaten. Aufgrund der Passivität der internationalen Gemeinschaft geht der Völkermord an den Rohingya jedoch weiter. Ermutigt durch diese passive Haltung konnte das burmesische Militär seine kriminelle Politik ungestraft umsetzen und sein Ziel erreichen: die Eliminierung der Rohingya.
IslamiQ: Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs hat die Richter aufgefordert, eine Untersuchung der Verbrechen gegen die Rohingya zu autorisieren. Was, denken Sie, wird bei dieser Untersuchung herauskommen?
Islam: Seit seinem Bestehen 2002, als das Rom-Statut in Kraft trat, ist der Internationale Gerichtshof der erste ständige, autonome Gerichtshof, vor dem Individuen wegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angeklagt werden können. Myanmar akzeptiert die Gerichtsbarkeit des ICC jedoch nicht, da es kein Vertragsstaat des Rom-Statuts sei. Die Vorverfahrenskammer des ICC hat jedoch die Zuständigkeit des Gerichts für die Zwangsdeportationen in Bangladesch anerkannt, der ein Vertragsstaat ist.
Unter richterlicher Ermächtigung hat eine Delegation aus dem Büro des Chefanklägers Bangladesch vom 6. bis zum 11. März 2019 im Rahmen der Vorprüfung besucht. Eine Voruntersuchung ist keine Untersuchung, sondern lediglich eine von den Kriterien des Rom-Statuts ausgehende Entscheidung, ob eine Untersuchung der Situation veranlasst wird. Es ist also noch ein langer Weg. Die Frage der Zwangsdeportation kann keine Verantwortung für andere, auf burmesischem Territorium begangenen Verbrechen begründen, z. B. Mord, Vernichtung, Haft, Folter, Vergewaltigung, sexuelle Gewalt usw. Die Zuständigkeit wäre auf Bangladesch begrenzt.
IslamiQ: Welche Handlungen sollten folgen?
Islam: Es bleibt nur der Weg über den Sicherheitsrat. Dafür gibt es jedoch nur ein schmales Gelegenheitsfenster, weshalb auch andere Optionen in Betracht gezogen werden müssen. Zum Beispiel die Einrichtung eines neuen Ad-hoc-Tribunals. Die UN-Aufklärungsmission macht klar, dass dieses von der UN-Generalversammlung einberufen werden könnte. Möglich wäre auch eine weitere, von den UN-Aufklärern vorgeschlagene Einrichtung eines neuen Gerichtshofs durch gleichgesinnte Staaten auf der Grundlage einer Kooperationsvereinbarung. Eine Mittelmacht wie Kanada oder Australien könnte dem vorstehen. Auch die Rolle der ASEAN-Staaten wie Indonesien oder Malaysia ist wichtig. Und auch die Türkei ist ein wichtiger Faktor. Staaten sollten auch ihre Bereitschaft zum Ausdruck bringen, internationalem Recht ggf. durch ihre eigenen Gerichte zur Durchsetzung zu verhelfen. Deutschland hat dies z. B. im Fall Syrien getan.
Das Interview führten Yasemin Yıldız und Ferhan Köseoğlu.