In Xinjiang werden muslimische Uiguren willkürlich in politischen Umerziehungslagern festgehalten. Die Direktorin von HRW China, Sophie Richardson, spricht im IslamiQ-Interview über schwere Menschenrechtsverletzungen.
IslamiQ: Schätzungen zufolge werden derzeit mehr als eine Million muslimischer Uiguren in sogenannten Umerziehungslagern in Xinjiang festgehalten. Wozu dienen diese Lager?
Richardson: Nun, wenn Sie die chinesische Regierung fragen, die die Existenz dieser Lager etwa ein Jahr lang abgestritten hat, wird man Ihnen sagen, dass es sich um Berufsbildungszentren handelt, in denen man extremistische Bestrebungen bekämpfen und den Leuten berufliche Qualifikationen vermittelten will. In Wahrheit sind es politische Umerziehungslager, in denen Menschen willkürlich festgehalten und dazu gezwungen werden, das Dogma der kommunistischen Partei Chinas zu studieren und Chinesisch zu lernen. Sie werden zwangsweise davon abgehalten, ihre Religion und kulturellen Traditionen zu praktizieren und erst dann entlassen, wenn die Behörden der Meinung sind, dass sie ihre politische Loyalität gegenüber der chinesischen Regierung glaubhaft zum Ausdruck bringen.
IslamiQ: Wie ist die Lage der inhaftierten Uiguren?
Richardson: Es ist erstmal sehr wichtig zu verstehen, dass diese Internierungen keinerlei rechtliche Basis haben. Wenn jemand tatsächlich ein Verbrechen begangen hat, können chinesische Behörden Ermittlungen einleiten und die Tat sicherheitsrechtlich oder auf der Grundlage von Anti-Terror-Gesetzen verfolgen. Aber die Behörden sind nicht befugt, Personen willkürlich zu verhaften, weil ein Mitglied einer Gemeinschaft von zehn Millionen Menschen irgendeine Art von Verbrechen begangen hat. Das ist eine massive Kollektivstrafe. In China ist es rechtswidrig, jemanden außerhalb eines laufenden Verfahrens zu verhaften. Niemandem, der in diesen Lagern inhaftiert ist oder war, wurde ein Haftbefehl vorgelegt, niemand wurde einem Richter vorgeführt, niemandem wurde der Prozess gemacht. Die Menschen wurden einfach verhaftet und in diese Einrichtungen gebracht. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, den man eindeutig einordnen muss.
Was wir dokumentiert haben, beinhaltet die Aussagen von Leuten, die 8 bis 10 Stunden täglich stehend Texte der kommunistischen Partei lesen, regierungs- und parteifreundliche Lieder singen und Chinesisch statt Uigurisch sprechen mussten. Durch diese Arten von Drill wurden sie dazu gezwungen, ihre politische Loyalität unter Beweis zu stellen. Insassen wurden dazu gezwungen, ihre Religion zu verleugnen und sich für die gute Behandlung durch die Partei und die lokalen Behörden zu bedanken, dank derer sie nun von ihrem extremistischen Gedankengut befreit seien. Wir haben Fälle körperlicher Misshandlungen und Essensentzug, Verweigerung medizinischer Behandlung und sogar Folter dokumentiert. Die Häftlinge wissen nicht, wie lange man sie festhalten wird, und haben keine Möglichkeit, Kontakt mit ihren Familien aufzunehmen. Damit werden auch nicht inhaftierte Familienangehörige psychologischer Folter ausgesetzt, denn wissen nicht, wann sie ihre Verwandten wiedersehen werden.
IslamiQ: Wie rechtfertigen die chinesischen Behörden diese Lager?
Richardson: Die Regierung behauptet, es gäbe eine Bedrohung der nationalen Sicherheit. Nur durch eine schnelle und entschiedene Bekämpfung des Extremismus in der Region könne eine langfristige Stabilität in Xinjiang, auch im Hinblick auf die neue Seidenstraßen-Initiative, gewährleistet werden. Natürlich kann eine Regierung, wenn Beweise für tatsächliche kriminelle Akte vorliegen, die öffentliche Sicherheit schützen und die Täter verurteilen. Aber nicht aus Kosten der Menschenrechte von Millionen anderer Menschen. Eine ganze Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer Identität zu dämonisieren und kollektiv zu bestrafen, ist eine schwere Menschenrechtsverletzung.
IslamiQ: Wie ist die Lebenssituation der Uiguren außerhalb der Lager?
Richardson: Sie ist nicht viel besser als in den Lagern selbst. Die Religionsfreiheit wird massiv eingeschränkt, Moscheen werden geschlossen, Eltern dürfen ihren Kindern keine islamischen Namen geben usw. Außerdem ist die Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Nicht nur für die Reise von Xinjiang in andere Provinzen, sogar für die Fahrt von einer Stadt zur nächsten brauchen die Menschen eine offizielle Genehmigung. Die Region ist übersät von Überwachungsinstrumenten. Diese Technologien werden dazu verwendet, um die Menschen zu verfolgen und im Endeffekt bestimmte Verhaltensweisen zu kriminalisieren, die nach geltendem Recht keinen Straftatbestand darstellen.
Erwähnenswert ist auch, dass vor rund drei Jahren aufgelegte Familienprogramm, mit dem die lokalen Behörden die Uiguren und andere turkstämmige Muslime angeblich „unterstützen“ wollen. Lokale Beamte richten sich tage- und manchmal wochenlang in den Privatwohnungen der Familien ein. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Menschen diese Art von Besuchen ablehnen könnten. Uns liegen Fotos von Beamten vor, die mit den Bewohnern im selben Bett schlafen, an ihrem Tisch essen. Mit diesen Maßnahmen haben sie einen intensiven Einblick und Kontrolle über das Alltagsleben der Menschen.
IslamiQ: Die chinesische Regierung lässt die sozialen Medien und allgemein die Telekommunikation streng überwachsen. Wissen die Chinesen, was mit den Uiguren in Xinjiang geschieht?
Richardson: Für die Menschen ist es sehr schwierig, sich frei über Xinjiang auszutauschen. Wir haben eine App rückentwickelt, die von der Polizei in Xinjiang zu Überwachungszwecken eingesetzt wird. Diese App unterstützt sie auch bei der Entscheidung, wen sie als nächstes festnehmen. Wer eine von 15 Kommunikations-Apps, z. B. WhatsApp, Telegram oder Viber auf dem Handy hat, macht sich verdächtig. Aufgrund dieser massiven Überwachung nehmen die Bewohner von Xinjiang Anrufe von außerhalb gar nicht an, oder sie löschen ihre Angehörigen von Plattformen wie z. B. WeChat. Es ist also sehr schwierig, an unabhängige Informationsquellen zu kommen. Mit vielen Überwachungsinstrumenten, die wir gesehen haben, hört der Staat private Festnetz- oder andere Gespräche ab.
IslamiQ: Zahlreiche Berichte der Vereinten Nationen dokumentieren gravierende Menschenrechtsverletzungen in der Region. Folgen dem auch konkrete Schritte?
Richardson: Nein, noch nicht. Tatsächlich wurden kaum Sanktionen gegen China ausgesprochen, egal von welcher Stelle. Die USA haben letzte Woche Handelsbeschränkungen einer bestimmten chinesischen Firma angekündigt, die Zwangsarbeiter aus Xinjiang in der Baumwollproduktion einsetzt. Wir und andere setzen uns jedoch für gezielte Sanktionen ein, besonders gegen nationale und lokale Behörden, die diese Menschenrechtsverletzungen überhaupt erst zu verantworten haben.
IslamiQ: Was halten Sie von der Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf diese humanitäre Krise?
Richardson: Diese fällt in mehrfacher Hinsicht alarmierend schwach aus. Gemessen an der ungeheuren Zahl der Betroffenen, haben wir so weitreichende Menschenrechtsverletzungen in China seit Jahrzehnten nicht erlebt. Ein vergleichsbares Vorgehen Deutschlands oder der USA gegen eine ihrer ethnischen oder religiösen Minderheiten würde ganz andere Reaktionen auslösen würde. Dass sie jetzt ausbleibt, zeigt sehr deutlich, wie einflussreich China im internationalen System inzwischen geworden ist. Das ist besorgniserregend, weil es für China eine Art Straffreiheit schafft. Wenn wir nicht in einer Welt leben wollen, in der die chinesische Regierung mit Menschenrechtsverletzungen dieses Ausmaßes ungestraft davonkommt, müssen wir die Richtung ändern.
Das Interview führten Meltem Kural und Ferhan Köseoğlu.