Wie leben Menschen mit Migrationshintergrund, deren Familien vor Jahren nach Österreich ausgewandert sind? Drei junge Erwachsene berichten darüber, was es heißt, österreichisch zu sein und einen Migrationshintergrund zu haben.
Natasha Ghulam (27) ist die Tochter einer nach Österreich ausgewanderten pakistanischen Familie. Die Eltern des 22-jährigen Asim Behari hingegen sind ursprünglich aus dem Sudan. Die 24-jährige Meltem hat ihre Wurzeln in der Türkei. Asim ist in Wien geboren und aufgewachsen. Der 22-jährige lebt zusammen mit seinen Eltern, seinen jüngeren Geschwistern und seinem älteren Bruder. Asims Vater, der 1989 aus dem Sudan nach Österreich kam, um Physik zu studieren, konnte sein Studium aus finanziellen Gründen nicht abschließen und musste stattdessen arbeiten. Asims Mutter studierte Politikwissenschaften an der Islamischen Universität zu Omdurman (Sudan), nachdem sie geheiratet hatte. Nach ihrem Studium im Sudan kam sie nach Wien, um ein Masterstudium zu beginnen. Asim ging auf eine arabische Schule, um dort die arabische Sprache sowie den Islam zu lernen. Mit 12 Jahren war er auf einer Sekundarschule in Schwechat. Dann zog er nach London und schloss dort die High School ab. Der 22-jährige studiert derzeit Jura und Soziologie an der Universität Wien.
Die Migrationsgeschichte der Familie von Natasha Ghulam reicht etwas weiter zurück. Natashas Großeltern wanderten im Jahre 1947 nach Pakistan aus, während der Teilung von Indien und Pakistan. In den 80er Jahren kam Natashas Vater mit einem Touristenvisum nach Österreich, begann dort zu arbeiten und heiratete 1992 Natashas Mutter, die er nach Österreich holte.
Meltem kam im Jahre 1995 in Salzburg auf die Welt. Ihr Großvater war der erste aus ihrer Familie, der nach Österreich kam, dort für eine längere Zeit arbeitete und anschließend wieder in sein Heimatland, die Türkei zurückkehrte. Meltems Vater kam in den 70er Jahren aus Ordu (Türkei) nach Salzburg. Auch er wollte ursprünglich wieder zurück in die Türkei. Doch vorher holte er seine Frau und Söhne zu sich nach Österreich.
Asim besuchte in seiner Kindheit eine arabische Schule. Dass er zwischen zwei Kulturen aufwuchs, war ihm damals als Kind nicht bewusst. Asim erzählt, dass seine Schule multikulturell war, sein familiäres Umfeld stets gleiche kulturelle Gewohnheiten hatte und er sich deshalb nicht fremd fühlte: „Als ich mit 12 Jahren auf das Gymnasium kam, sah die Realität anders aus. Meine multikulturelle Herkunft wurde zuvor nie in Frage gestellt. Meine Erwartungen und Vorstellungen waren völlig anders als das, was ich begegnete. Ich musste mich meiner neuen Umgebung schnell anpassen, damit ich dazu gehörte.“ Asim ist der Meinung, dass die heutige Generation „anders“ sei. „Unsere Generation hat die Besonderheit, dass sie sich überall anpassen und zwischen zwei Welten leben und agieren kann, ohne sich dabei zu verlieren.“
Natasha glaubt, dass das Aufwachsen in zwei Kulturen nicht nur Schwierigkeiten mit sich bringt, sondern auch gute Seiten hat und aufregend sein kann. „Multikulturelle Kreise sind für mich eine große Bereicherung“, erklärt die 27-jährige Österreicherin. Natasha glaubt, dass die heutige Generation ihre Rechte bewusster einfordern könne als die Generationen davor; das Selbstbewusstsein sei dabei der wichtigste Aspekt. „Die älteren Generationen waren dankbar dafür, dass ihnen überhaupt dieselben Rechte zustanden wie die eines Österreichers. Wir hingegen sind hier geboren und aufgewachsen. Die Rechte sind selbstverständlich unsere Grundrechte. Wir können sie jeder Zeit und ohne Zögern einfordern.“
„Meine Generation schlägt eine Brücke zwischen Gesellschaft und zugewanderten Familien. Wir, die neue Generation, haben nicht nur die Aufgabe, Defizite zu beseitigen, sondern uns trotz der Vorurteile zu verteidigen und zu behaupten und uns unseren Platz in der Gesellschaft zu schaffen“, betont Asim. „Unsere Familien haben viele Opfer gebracht. Sie haben sozusagen für uns vorgearbeitet; im Gegenzug müssen wir heute eine Bindung zur Gesellschaft aufbauen.“
Natasha und Asim fühlen sich nicht zu einem bestimmten Ort und einer bestimmten Nationalität zugehörig. „Ich bin beiden Nationalitäten angehörig, aber irgendwie gehöre ich gleichzeitig auch zu keiner zu“, beschreibt Natasha ihr Zugehörigkeitsdilemma. „Unter Zugehörigkeit verstehe ich die Bindung zur Familie, den Freunden und denjenigen Menschen um mich herum, mit denen ich auf derselben Wellenlänge bin. Zugehörigkeit bedeutet nicht, einem Ort zugehörig zu sein.“ Asim erzählt, dass er sowohl Österreicher wie auch Sudanese sei. Demnach sei es nicht unmöglich, zwei oder mehrere Nationalitäten zu haben. „Die Bestätigung sehe ich in meinen sudanesischen Wurzeln. Sudanesen sind Afro-Araber, also ihre Muttersprache ist arabisch, ihre Kultur ist arabisch, trotzdem sind sie Afrikaner. Ich bin auch Österreicher, meine Muttersprache ist Arabisch und meine Religion ist der Islam.“ Menschen mit Schwarz-Weiß-Denken werden in dieser komplexen Welt nicht weit kommen können, so Asim. „Ich bin der Ansicht, dass eine doppelte Kulturzugehörigkeit möglich ist. Ich muss mich für keine der beiden entscheiden. Denn ich fühle mich zu beiden Nationalitäten zugehörig.“
Für die 24-jährige Meltem, die sich im Hinblick auf Kultur und Werte zur Türkei gebunden fühlt, stehen Prinzipien wie Disziplin und Fleiß aus der österreichischen Kultur an wichtiger Stelle: „Allerdings reicht dies für mich nicht aus, um sagen zu können, dass ich mich zu Österreich gebunden fühle. In meiner Natur fühle ich mich eher zur Türkei gebunden.“
Meltem glaubt nicht, dass sie multikultureller Herkunft ist: „Ich bin zwar zweisprachig, also mit zwei Kulturen aufgewachsen. Allerdings bedeutet dies nicht, dass ich dadurch eine doppelte nationale Zugehörigkeit habe.“ Das Leben „zwischen zwei Kulturen“ sei die Erscheinung „einer neuen Sache“, so Meltem. In einer multikulturellen Gesellschaft geboren und aufgewachsen zu sein, bringe dennoch Positives mit sich, man gewinne eine breite Sicht der Dinge und könne ein starkes Empathie-Gefühl entwickeln.
Meltem unterstreicht auch die negativen Seiten: „Die Werte und Erwartungen der Familien stimmen nicht immer mit den der hiesigen Gesellschaft überein. Es kann soweit kommen, dass Jugendliche in eine Identitätskrise geraten und sogar ihre eigene Identität verlieren, also zu einer Art ‚verlorenen Gesellschaft‘ werden.“
Meltem sagt, dass sie ihre Generation dreierlei betrachtet und dass jeder seine Chancen anders bewertet: „Die erste Gruppe meiner Generation bemüht sich nicht besonders darum, die eigenen, also ursprünglichen Werte, die eigene Kultur und Natur zu wahren. Die zweite Gruppe sieht sich zwischen zwei Kulturen hin- und hergerissen, in einem Chaos also. Die letzte Gruppe ist sich der eigenen Identität sicher, nimmt das Chaos an und macht es zu einer Bereicherung für sich, d. h. bemüht sich dahingehend, die guten Eigenschaften beider Kulturen zum Guten einzusetzen.“