Die neue Koalition in Österreich hat ihr Regierungsprogramm vorgestellt. Muslime zeigen sich enttäuscht. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit dem IGGÖ-Präsidenten Ümit Vural über die Auswirkungen des umstrittenen Regierungsprogramms für Muslime.
IslamiQ: Wie beurteilen Sie das neue Regierungsprogramm?
Ümit Vural: Die Islamische Glaubensgemeinschaft ist vom von der ÖVP und den Grünen ausverhandelten Regierungsprogramm zweifellos enttäuscht. Nach der Amtsenthebung der ÖVP-FPÖ Regierung im Mai 2019 hatte sich für viele Menschen in Österreich ein Hoffnungsraum aufgetan. Nach dem großen Wahlerfolg der Grünen und der Aufnahme der Koalitionsverhandlungen hatten wir auf einen Systemwechsel und eine Änderung des politischen Klimas und der Diskussionskultur gehofft. Leider findet sich die bisher selbstverständliche und überzeugte Antidiskriminierungspolitik der Grünen im Regierungsprogramm nicht wieder. Im Gegenteil: die politische Agitation gegen Minderheiten scheint unverhohlen fortgesetzt zu werden.
IslamiQ: Was bedeutet es für Muslime in Österreich?
Vural: Anstatt nachhaltiger Maßnahmen, Förderung und konstruktiver Zusammenarbeit sind vor allem die Bereiche Migration, Asyl und Integration von vermehrten Kontrollen, Sanktionen und Strafen gekennzeichnet. Unter dem Schlagwort „Integration“ sind die Mehrheit jener Beschlüsse zusammengefasst, die die muslimische Bevölkerung direkt betreffen. So wird erstmals ein eigenes Integrationsministerium eingerichtet, dessen offizieller Auftrag lautet, die „konsequente Linie im Kampf gegen Parallelgesellschaften und den politischen Islam“ fortzusetzen. Das hat meines Erachtens eine besonders bemerkbare Signalwirkung.
Neben der Ausweitung des bereits im Vorjahr beschlossenen Kopftuchverbotes an Schulen, sollen islamische Bildungseinrichtungen, der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen (inklusive der Bücher und der Unterrichtsmaterialien) und die Arbeit und Ausbildung der Religionslehrerinnen und -lehrer, sowie Moscheen, islamische Stiftungen und Vereine insgesamt strengeren Kontrollen unterworfen werden. Dies zeugt von einem absoluten Misstrauen einerseits gegenüber unseren muslimischen Mitbürgerinnen und – bürgern, aber auch der Arbeit der IGGÖ gegenüber, denn wir haben spätestens mit dem Islamgesetz 2015 den offiziellen Auftrag für die Verwaltung und Kontrolle all dieser Bereiche übertragen bekommen.
IslamiQ: Muslime sind täglich verbalen und körperlichen Angriffen ausgesetzt. Doch wird die steigende Islamfeindlichkeit im Regierungsprogramm kaum erwähnt. Wie beurteilen Sie das?
Vural: Das von oben erzeugte rassistische Klima führt dazu, dass Musliminnen und Muslime in Österreich immer häufiger Opfer von Übergriffen werden. Für viele ist antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit – wie Sie richtig sagen – eine alltägliche Erfahrung geworden. Dass diese Tatsache im Regierungsprogramm keine explizite Erwähnung findet, führt zu Misstrauen innerhalb der muslimischen Community der Politik gegenüber, denn wir sehen ja, dass sich immer öfter auch Personen, die mit hohen politischen Funktionen und viel politischer Macht ausgestattet sind, daran beteiligen, Ressentiments uns gegenüber zu schüren. Auf der anderen Seite ist jedoch ein Aktionsplan gegen Antidiskriminierung geplant. Hier bieten wir sehr gerne unsere Mitarbeit an.
IslamiQ: Die Regierung strebt eine Ausweitung des Kopftuchverbots für Mädchen bis 14 Jahren an. Zuletzt kündigten Sie an, gegen das Kopftuchverbot rechtlich vorzugehen. Wie sehen Ihre weiteren Schritte zu diesem Thema aus?
Vural: Gegen zwei politische Beschlüsse der mittlerweile abgesetzten Regierung geht die IGGÖ aktiv juristisch vor: Der erste betrifft die Abänderung der Bezeichnung „Islam“ zu „IGGÖ“ als Bezeichnung des religiösen Bekenntnisses in Schulzeugnissen, der zweite das Kopftuchverbot in Volksschulen. Hier suchen wir eine rechtskonforme Lösung vor dem Verfassungsgerichtshof in Form eines Individualantrages. Das bedeutet, dass Mädchen, die sich unmittelbar durch das Gesetz in ihren Rechten verletzt fühlen, eine Beschwerde einbringen und das Gesetz prüfen lassen. Die IGGÖ unterstützt sie dabei.
IslamiQ: Vor zwei Jahren löste die manipulierte Kindergartenstudie seitens Sebastian Kurz einen Skandal in Österreich aus. Nun möchte die österreichische Regierung „insbesondere islamische Kindergärten“ verstärkt kontrollieren. Wie beurteilen Sie dieses Vorgehen?
Vural: Die immer wieder zu lesende Hervorhebung „insbesondere islamische“ hat einen unangenehmen Beigeschmack und verdeutlicht die feindselige Haltung dem Islam gegenüber, die sich wie ein roter Faden durch das Regierungspapier zieht. Die umstrittene und viel diskutierte Kindergartenstudie sah Fehlentwicklungen in muslimischen Kindergärten, die im Endeffekt wohl lediglich als schiere Panikmache zu bezeichnen sind. Es gibt laut der Wiener Stadtverwaltung keinerlei bestätigte Hinweise darauf, dass Kindern in diesen Einrichtungen ein extremistisches und politisch motiviertes Weltbild aufgezwungen wird. Verbesserungspotenzial gibt es bestimmt, aber vor allem im Bereich des Spracherwerbs und der Sprachförderung. Für eine Versachlichung der Debatte ist die Formulierung eines allgemeinen pädagogischen Umgangs mit Religion dringend notwendig.
IslamiQ: Im Mai 2019 hat die IGGÖ eine Fachtagung zum “politischen Islam“ organisiert. Die Regierung möchte den “politischen Islam“ bekämpfen. Von welchem “politischen Islam“ wird hier gesprochen?
Vural: Bundeskanzler Sebastian Kurz hat sein Regierungsprogramm auf der Bekämpfung des sogenannten „politischen Islams“ aufgebaut und wie bereits erwähnt diesen Kampf auch als eine Hauptaufgabe des Integrationsministeriums definiert. Es handelt sich hierbei um einen Begriff, der weder von ihm, noch von anderen Mitgliedern der neuen Regierung, jemals näher erläutert wurde. Als Argumente werden einzig und allein „Gegengesellschaften“ und „Gleichbehandlung von Mann und Frau“ angeführt. Hier wird der Islam mit „Islamismus“ vermischt und somit Musliminnen und Muslime der Gefahr ausgesetzt, pauschal als extremistisch diskreditiert und kriminalisiert zu werden. Die Einrichtung einer eigenen Dokumentationsstelle für den politischen Islam erweckt zudem den Eindruck, Musliminnen und Muslime in Österreich seien eine staatsgefährdende Bedrohung.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.