HADITHLITERATUR

Die „Kutub as-sitta“ in der islamischen Wissenstradition

Muslime weltweit berufen sich auf den Propheten Muhammad (s). Genauer auf seine tradierten Aussprüche, Hadithe genannt. Die „Kutub as-sitta“ ist eines der wichtigsten Kompendien in diesem Bereich. Mehmet Genç stellt sie vor.

08
02
2020
Wissenstradition
Symbolbild: Wissenstradition

Die Lebensweise des Propheten, „Sunna“ genannt, spiegelt sich in der Gesamtheit der überlieferten Aussprüche und Handlungen (Hadithe) wider und ist die zweite Quelle des Islams. Im Unterschied zum Koran, dessen Authentizität gesichert ist, führte die Frage der Authentizität einzelner Hadithe im Laufe der Jahrhunderte zur Herausbildung einer eigenen Hadithwissenschaft. Diese hat das Ziel, die einzelnen Hadithe nach ihrer Authentizität hin zu überprüfen und zu klassifizieren.

Aufgrund der Bedeutung der Sunna für das Leben und Denken der Muslime konzentrierten sich verschiedene Gelehrte der ersten Jahrhunderte auf die Sammlung, Klassifizierung und Zusammenstellung der recht unübersichtlichen Menge an Hadithen. Die Frucht dieser aufwendigen Arbeiten sollte u. a. die „Kutub as-sitta“ („Sechs Bücher“) werden.

„Die zuverlässigen Sechs“

Die „Sechs Bücher“ (Kutub as-sitta) bestehen aus sechs einzelnen Sammlungen, von denen jede Tausende Überlieferungen umfasst, die wiederum aus Hunderttausenden heraussortiert und anhand verschiedener Kriterien klassifiziert wurden. Die Kutub as-sitta ist die Weiterentwicklung bereits vorhandener kleinerer Sammlungen. In der sunnitischen Tradition des Islams gelten die Hadithe dieser sechs Bücher im Allgemeinen als zuverlässig. Deswegen werden sie auch „as-Sihah as-sitta“ („die zuverlässigen Sechs“) genannt. Diese Bezeichnung wurde wahrscheinlich Mitte des 10. Jahrhunderts zum ersten Mal verwendet, um Laien authentische Quellen empfehlen zu können. Somit wurde diese Bezeichnung zu einem Synonym für authentische Überlieferungen.

Diese sechs Hadithsammlungen und ihre Kompilatoren sind:

1.und 2. Buch: „al-Dschâmi as-Sahîh“, jeweils von Buchârî (gest. 870) und Muslim (gest. 875)

3. Buch: „al-Dschâmi as-Sahîh fis-sunan“ von Tirmizî (gest. 892)

4., 5. und 6. Buch: „Kitâb as-Sunan“, jeweils von Abû Dâwûd (gest. 889), Nasâî (gest. 915) und Ibni Mâdscha (gest. 887)

Als sechstes Buch werden verschiedene Hadîthsammlungen genannt. Manche nehmen die „Muwatta“ von Imâm Mâlik (gest. 795) und andere die „Sunan“ von Dârimî (gest. 869) als das sechste Buch. Einige Gelehrte benutzen auch die Bezeichnung „Sieben Bücher“, da sie sowohl das Werk von Ibni Mâdscha als auch das von Imâm Mâlik in die Sammlung miteinschließen.

As-Sahihayn: die zwei authentischen Hadithsammlungen

Alle Kompilatoren haben andere Kriterien festgelegt, an denen sie sich bei ihrer Zusammenstellung orientierten. Jeder Gelehrte kannte eine unterschiedlich große Menge an Hadithen und hatte unterschiedliche Bedingungen für den einzelnen Überlieferer der jeweiligen Überlieferung. So kommt es, dass z. B. ein Hadith, der bei Muslim als authentisch („sahîh“) eingestuft ist, bei Buhârî durchaus als nicht authentisch gilt. Die Werke von Buhârî und Muslim gelten als die zuverlässigsten Sammlungen, da sich die Kompilatoren zur Aufgabe gemacht haben, nur solche Hadithe aufzunehmen, die nach ihrer Ansicht sahîh sind. Deshalb werden sie auch „as-Sahihayn“, d. h. „die zwei authentischen Hadithsammlungen“ genannt. Im Laufe der Zeit hat sich die Sammlung von Buhârî als das zuverlässigste Buch unter den verschiedenen Sammlungen durchgesetzt.

Die Kriterien, die von den jeweiligen Kompilatoren bei der Bearbeitung beachtet wurden, sind uns heute nicht unmittelbar bekannt. Später gab es eine Reihe von Gelehrten, die sich intensiv mit den Werken auseinandergesetzt haben und somit auf gewisse Kriterien zurückschließen konnten. So hatte z. B. Buhârî die Bedingung, dass die Überlieferer (innerhalb einer Überliefererkette, Isnâd) eines Hadithes sich mindestens einmal getroffen haben müssen. Dagegen hat es für Muslim ausgereicht, wenn die Überlieferer im gleichen Jahrhundert gelebt haben und die Möglichkeit bestand, dass sie sich getroffen haben könnten.

Die Sunan-Werke

Das Werk von Nasâî kommt – nach einigen Gelehrten – aufgrund seiner hohen Anfor­derungen an die Überlieferer direkt nach den „as-Sahihayn“.

Die vier „Sunan“ unterscheiden sich insofern von den ersten zwei Werken, als dass deren Schwerpunkt im Bereich der „Ahkâm“, also den Bestimmungen liegt. Hier ist vor allem Abû Dâwûd zu nennen, bei dem diese Eigenschaft besonders ausgeprägt ist. Er gibt verschiedene Versionen einer Überlieferung oder aber verschiedene Überlieferungen zu dem gleichen Thema wieder.

Weiterhin zeigt er auch die Widersprüche unter den verschiedenen Überlieferungen auf. Abû Dâwûd zog es vor, zu den Themen, zu denen er keine sahîh Hadithe finden konnte schwache Überlieferungen mit aufzunehmen. Denn schließlich bestand immerhin noch eine Wahrscheinlichkeit, dass diese Überlieferungen tatsächlich auf den Prophet Muhammad (s) zurückgingen. Somit zog er solche Überlieferungen der „Meinungsfindung“ (Idschtihâd) der Rechtsgelehrten vor.

Isnâd und Dalîl bei Tirmizî

Ähnlich ging auch Tirmizî vor, da er ebenfalls schwache Überlieferungen in seine Sammlung mit aufnahm. Im Gegensatz zu Abû Dâwûd war es ihm wichtig, den Isnâd, also die Überliefererkette des einzelnen Hadithes, einer genauen Überprüfung zu unterziehen und die Vertrauenswürdigkeit der einzelnen Überlieferer wiederzugeben. Tirmizî achtete besonders darauf, dass ein Hadith, den er in seine Sammlung aufnahm, von einem Rechtsgelehrten (Fâkih) als Beweis (Dalîl) verwendet wurde.

Weiterhin beschreibt Tirmizî das bis auf zwei Überlieferungen, alle tradierten Hadithe in der Praxis der Muslime präsent sind. Aus diesen Gründen bezeichnen einige Gelehrte das Werk von Tirmizî als das authentischste nach Buhârî und Muslim.

Einige Gelehrte hatten Zweifel, was die Zugehörigkeit von Ibn Mâdschas Werk zur „Kutub as-Sitta“ angeht, da er Überlieferungen mitaufnahm, dessen einzelne Überlieferer der Lüge beschuldigt wurden.

Weitere Hadithwerke

 Naturgemäß gibt es auch viele Überlieferungen, die nicht in der „Kutub as-sitta“, sondern in weiteren Werken tradiert werden. Hierzu zählen etwa das Werk „Madschma’u Zawâ’id“ von Nûr ad-Dîn al-Haysamî (gest. 1405) oder das Hadithwerk des bekannten Hadithgelehrten Ibni Hadschar al-Askalâni (gest. 1449).

Eine ähnliche Entwicklung fand auch in der schiitischen Hadithtradition statt, allerdings ist dort meist die Rede von den „Vier Büchern“. Diese beinhalten nicht nur Überlieferungen des Propheten Muhammad (s), sondern auch die von den Imamen der Schia.

Die Hadithsammlungen ermöglichen den Muslimen einen Einblick in das Zeitalter, aber auch in das Leben des Propheten sowie sein Verständnis der Offenbarung (Wahy) Gottes. Die Tatsache, dass unter den vielen Überlieferungen auch erfundene oder manipulierte Hadithe existieren bzw. in einem bestimmten Kontext stehen, beeinflusste die Entwicklung von Rechtsschulen (Mazâhib) und deren Methodik mit dem Umgang der Hadithliteratur.

Leserkommentare

Stratmann sagt:
Interessanter Artikel über die Arbeit an den Aussprüche und Handlungen des Propheten Sehr gerne würde ich mal von dem Lehrer und Verfasser des Artikels mitgenommen in seinen islamischen Religionsunterricht.
11.02.20
19:54