Immer öfter wird von „muslimischem Antisemitismus“ gesprochen. Im IslamiQ-Interview mit dem jüdischen Politologen David Ranan sprechen wir über jüdische und muslimische Minderheiten, Vorurteile und darüber, warum es keinen muslimischen Antisemismus gibt.
IslamiQ: Muslime und Juden in Deutschland haben vieles gemeinsam. Sie sind religöse Minderheiten, werden angefeindet und haben eine besondere Beziehung zu ihren Herkunftsländern. Trotzdem haben sie, so scheint es, nicht viel Verständnis füreinander. Woran liegt das?
David Ranan: Manchmal scheint es, als würden beide Gemeinschaften glauben, in einem Konkurrenzverhältnis um die Aufmerksamkeit der Politik zu stehen. Juden in Deutschland sind eine bevorzugte Minderheit, was natürlich mit ihrer Geschichte zusammenhängt. Das führt dazu, dass Muslime sich benachteiligt fühlen, wenn ein Antisemitismusbeauftragter ernannt wird, aber keiner gegen Islamfeindlichkeit. In Interviews, die ich führte, bemängelten einige, dass Synagogen von der Polizei geschützt werden, Moscheen aber nicht.
IslamiQ: Sollten Juden gerade wegen ihrer historischen Erfahrung als Minderheit nicht mehr Verständnis für die aktuelle Situation der Muslime haben?
Ranan: Verständnis für Andere ist immer eine gute Idee, und das soll keine leere Floskel sein. Sie können damit noch weiter gehen und fragen, wie die Bevölkerung Israels eine Einstellung zu Palästinensern haben kann, wie sie derzeit zu beobachten ist, nachdem, was Juden in der Vergangenheit erlitten haben. Es gibt hier verschiedene Meinungen. Einige verstehen das „Nie wieder“ als „Nie wieder mit uns Juden“. Da eine politische Einstellung auch viel mit der eigenen Psyche zu tun hat, sind Juden, die diese Auffassung vertreten, dann auch bereit, einen Preis dafür zu zahlen, was moralische Normen betrifft. Ich denke, das ist ein Fehler.
Als der jetzige Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, 2014 sein Amt angetreten hat, begrüßte ich ihn, in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung, und schrieb dazu, dass Brücken bauen zur muslimischen Gemeinschaft, seine wichtigste Aufgabe sein sollte. Das wurde leider nicht gemacht.
IslamiQ: Hat das vielleicht mit Vorurteilen zu tun?
Ranan: Wir alle – oder die meisten von uns – haben Vorurteile. Das muss man verstehen. Eine Welt ohne Vorurteile ist unrealistisch. Die Frage ist, was wir mit diesen Vorurteilen machen, denn ausschlaggebend ist das Verhalten der Menschen.
Aus der Beschuldigung „der Juden“ für den Tod des Sohn Gottes im Neuen Testament, entwickelte sich in der christlichen Welt ein heftiger Antijudaismus. Dieser wurde über die Jahren mit den Juden zugeschriebenen, negativen Eigenschaften und Veschwörungstheorien weiter vertieft. Diesen Hintergrund gibt es in der islamischen Welt nicht. Im 19. Jahrhundert wurden diese Verschwörungsmythen von christlichen Missionaren in die arabische Welt exportiert. 1925 wurde der Juden verleumdende Text, die „Protokolle der Weisen von Zion“ ins Arabische übersetzt. Lange Zeit interessierte die Schrift niemanden. Instrumentalisiert wurde diese anti-jüdische Hetzschrift in der arabischen Welt erst mit der Gründung Israels. Erst damit wurde das jüdische Volk zum Feind. Dazu kommt auch, dass unter Muslimen, besonders in der arabischen Welt, oft von „Juden“ gesprochen wird, wenn „Israelis“ gemeint sind.
IslamiQ: Der Sozialforscher Peter Atteslander schreibt: „Von Vorurteilen ohne Weiteres auf Antisemitismus zu schließen ist Unfug, solange nicht zwischen Einstellungen von Befragten und tatsächlicher Verhaltensdisposition unterschieden wird.“
Ranan: Das stimmt. In den Studien zu Antisemitismus geht es fast immer um Einstellungen. Die quantitative Forschung und besonders die oberflächliche und oft marktschreierische Berichtserstattung über deren Ergebnisse sind in der Tat problematisch.
Ein Beispiel hierfür ist die amerikanische „Anti-Defamation League“, kurz ADL. In ihren regelmäßigen Umfragen zu antisemitischen Einstellungen, wird gefragt ob man Aussagen zustimmen würde wie z. B. „Juden denken nur an sich“ oder „Juden denken, sie wären besser als andere“. Ich frage mich dabei, wie vorsichtig muss jemand beim Beantworten einer Umfrage sein? Denken nicht sehr viele Menschen, dass sie besser sind als andere?
Die Schlagzeilen in den Zeitungen, die immer wieder einen hohen Grad an Antisemitismus melden, messen Einstellungen bzw. Vorurteile. Das sagt aber noch nicht viel über ihre Bedeutung aus. Politik und Gesellschaft sollten mehr Energie aufwenden, um Gewalttaten zu messen und in der Bildung dagegen vorzugehen, anstatt dauernd darüber zu sprechen, dass es falsch ist, andere als weniger gut zu sehen.
IslamiQ: Der ADL zufolge haben die europäischen Staaten ein ernsthaftes Antisemitismus-Problem: Laut den Umfrageergebnissen von 2014 sollen 55 % der Muslime in Westeuropa antisemitisch sein. Sie bezweifeln diese Zahlen. Wieso?
Ranan: Ich kann Ihnen versprechen, dass ein Großteil der Israelis nach dieser Umfrage auch als antisemitisch eingestuft werden würde. So gilt eine Zustimmung der Aussage „Juden haben zu viel Einfluss auf die amerikanische Politik“ als Indikator für Antisemitismus. Lesen Sie aber die israelische Presse, dann sehen Sie, dass man sich mit genau diesem Einfluss in den USA, rühmt. In der 2016er Wahlkamapgne, stammten bei Clinton 50 Prozent und bei Trump 25 Prozent der Spenden von Juden, bei einem jüdischen Bevölkerungsanteil von drei Prozent. Liest man diese Fakten in der Zeitung und sagt daraufhin bei einer Umfrage, Juden hätten viel Geld und beeinflussen damit die amerikanische Politik, wird diese Aussage als antisemitisch eingestuft.
Es ist also sehr leicht, den Fragebogen so zu beantworten, dass man als Antisemit rauskommt oder, genauer gesagt Träger antisemitischer Einstellungen zu sein. In den Medien macht das aber keinen Unterschied mehr.
IslamiQ: In Politik und Medien wird mehr über muslimischen Antisemitismus gesprochen als über rechten Antisemitismus, obwohl den Statistiken zufolge das Letztere deutlich überwiegt. Was sind die Gründe dieser Schieflage?
Ranan: Das ist in der Tat eine Schieflage. Sie hat meiner Ansicht nach damit zu tun, dass für viele in Deutschland, diese Möglichkeit, Antisemitismus auf die sowieso unbeliebten „Anderen“ zu schieben und sich damit quasi reinzuwaschen, attraktiv ist. In dem Fall sind die Anderen, Muslime, die halt schlimmer sind als „wir“. So lässt sich auch die Popularität von einigen in Deutschland lebenden Muslimen erklären, die der deutschen Bevölkerung eine Art Persilschein ausstellen, indem sie genau das sagen, was die Gesellschaft hören möchte, nämlich: ‚Die Muslime‘ sind schlimmer als ‚die Deutschen‘, was Juden betrifft.
IslamiQ: Sie haben ein Buch über „muslimischen Antisemitismus“ geschrieben? Was ist das überhaupt?
Ranan: Im Buch zeige ich, dass dies ein Fehlbegriff ist. Es gibt keinen muslimischen Antisemitismus.
IslamiQ: So lautet aber der Titel Ihres Buches, indem sie auch Koranverse und Hadithe aufgreifen.
Ranan: Ich habe eine qualitative Studie durchgeführt und mit mehr als 70 gebildeten Muslimen gesprochen. Mindestens ein Drittel meiner Interviewpartner war ‚gläubig‘. Qualitative Studien behaupten zwar nicht repräsentativ zu sein, doch ist es bemerkenswert, dass nicht einer meiner Interviewpartner die Frage beantworten konnte, was im Koran über Juden steht. In den Gesprächen habe ich teilweise sehr bedenkliche Aussagen über Juden zu hören bekommen, aber die Begründung war der Nahostkonflikt, nicht der Koran.
Extremisten auf beiden Seiten, sowohl muslimische als auch jüdische, wollen zeigen, dass beide Völker nicht miteinander auskommen können, weil im Koran dieses und jenes stehe. Extremisten missbrauchen solche Koranverse und Hadithe, um daraus ein Hassmodell bauen.
IslamiQ: Eine aktuell immer stärker diskutierte Frage ist die der Unterscheidung zwischen Antizionismus und Antisemitismus. Wie unterscheiden Sie diese beiden Phänomene?
Ranan: Antisemitismus ist eine Feindseligkeit gegenüber Juden. Zionismus ist eine jüdische politische Bewegung, die das Problem der Juden, die keinen eigenen Staat hatten, und die unter Antisemitismus litten, lösen sollte. Für mich ist Zionismus das Bestreben, in Palästina einen jüdischen Staat zu etablieren. Das ist 1948 gelungen, und damit hätte der Begriff Zionismus emeritiert werden können. In den ersten zwanzig Jahren war das auch die allgemeine Einstellung in Israel. Nach 1967 wurde der Begriff wieder mobilisiert, um die Besiedlung des Westjordanlands zu fördern. Ich finde das sowohl aus der Perspektive des internationalen Rechts als auch moralisch falsch. Daher stellt sich die Frage, was Antizionismus ist und gegen welchen Zionismus der Antizionist ist.
IslamiQ: Wobei der Trend dahin geht, dass man sagt, wer antizionistisch ist, der ist auch antisemitisch.
Ranan: Ich teile diese Meinung nicht. Wie gesagt, ist die Frage, wie man Zionismus definiert. Die Konstrukte, die Antizionismus als Antisemitismus bezeichnen, sind künstlich und unehrlich.
Das Interview führte Ali Mete.