Interview

„Wir dürfen die Opfer aus Hanau niemals vergessen!“

Vor einem Monat wurden bei dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau zehn Menschen erschossen. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit dem Imam der Hanauer IGMG-Moschee, Macit Bozkurt, über seinen unermüdlichen Einsatz, die Auswirkungen des Anschlags und die Stimmung der Muslime in Hanau.

21
03
2020
Anschlag Imam, Hanau
Imam Macit Bozkurt

IslamiQ: Wie geht es Ihnen und der muslimischen Gemeinde einem Monat nach dem Anschlag in Hanau?

Imam Macit Bozkurt: Das ist schwer zu beantworten. Es ist nicht leicht, die richtigen Worte zu finden nach so einem rassistischen Terroranschlag. Wir versuchen zu verstehen, was nur 600 Meter von uns entfernt passiert ist. Dieser Tag, der 19. Februar 2020, wird als der schwarze Tag in die Geschichte unserer schönen Stadt Hanau eingehen.

Das Gefühl in der Gemeinde schwankt zwischen Trauer, Wut, Ärger, Zorn und Angst auf der einen Seite und Hoffnung und Zuversicht auf der anderen. Trauer fühlen wir, weil wir unsere Geschwister, Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen, unsere Engsten, unsere Gemeindemitglieder verloren haben. Sie werden nicht mehr in unsere Gemeinde kommen können, um sich mit ihren Freunden zu treffen oder mit uns zu beten. Wir trauern und leiden zusammen mit ihren Eltern und Angehörigen.

Wut, Ärger und Zorn verspüren wir gegenüber Menschen, die weiterhin rassistisches Gedankengut und Hass – u. a. in sozialen Medien – verbreiten, unsere Gesellschaft spalten, gegenüber Andersgläubigen hetzen und nicht das friedliche Miteinander, die Vielfalt unserer Stadt fördern.

Wir haben aber auch Angst, weil wir in unserer Heimatstadt Hanau um unsere Sicherheit und um die Sicherheit unserer Kinder bangen. Hätten Sie mich noch am 18. Februar gefragt, welche Stadt die sicherste Stadt auf der Welt ist, hätte ich „Hanau“ geantwortet.

IslamiQ: Sie erwähnten auch Hoffnung und Zuversicht.

Bozkurt: Wir dürfen Hoffnung und Zuversicht haben, weil wir wissen, dass Hanau eine weltoffene und sichere Stadt für Menschen mit Migrationshintergrund war und ist. Hanau hat eine rund 400-jährige Migrationsgeschichte. Hanau pflegt eine vorbildhafte Willkommenskultur.

IslamiQ: Wie ist die Stimmung in Hanau insgesamt?

Bozkurt: Auch einem Monat nach dem Anschlag kann man an fast jeder Ecke der Stadt die Schriftzüge und Hashtags „Die Opfer waren keine Fremden“, „Say their names“, „Wir sind mehr“, „Wir stehen zusammen“, „Wir sind Hanau“, „Gib Rassismus und Hass keine Chance“ uvm. lesen.

Wir haben gesehen, dass die ganz große Mehrheit der Hanauer gegen Ausgrenzung und Ressentiments, gegen Hass und Gewalt ist. Das erkennt man an der Vielzahl der Beileidsbekundungen und dem zahlreichen Erscheinen an den Gedenkfeiern, Trauermärschen und Kundgebungen. Dafür bedanken wir uns sehr. Wir dürfen diesen rassistischen Terroranschlag und die Opfer niemals vergessen. Leider gibt es aber immer noch Menschen, die sich sogar zu diesem Fall rassistisch äußern.

IslamiQ: In wieweit hat dieser Anschlag den Alltag der Muslime in Hanau geprägt?

Bozkurt: Wir mussten – noch vor Corona – viele Veranstaltungen unserer Gemeinde absagen, zum einen, weil wir als Gemeinschaft um die Verstorbenen trauerten, zum anderen, weil wir an die Sicherheit unsere Gemeindemitglieder denken mussten. Wir mussten die Bildungsangebote unserer Moschee absagen, weil die Eltern Angst um die Sicherheit ihrer Kinder hatten. Zum ersten Mal kam die Frage in einem Morgengebet auf, ob man die Türen verschließen soll, während man betet. Oder ob ich als Imam kürzere Suren lesen kann, damit das Gebet in Kürze endet. Zum ersten Mal haben wir uns intensiv darüber unterhalten, welche Sicherheitsmaßnahmen wir als Gemeinde treffen können.

Ferner kamen vermehrt Hanauer Jugendliche, Freunde und Angehörige der Opfer – auch diejenigen, die ich zuvor nicht kannte – zur Moschee, um inneren Frieden zu finden, um für die Ermordeten zu beten und um diese angespannte Situation innerlich zu verarbeiten. Meine Aufgabe war und ist es, diesen Jugendlichen seelsorgerisch und mit Rat und Tat beizustehen.

IslamiQ: Haben die Behörden die Sicherheitsmaßnahmen der Moschee erhöht?

Bozkurt: Nicht nur die Sicherheit unserer Moschee, sondern die der ganzen Stadt wurde erhöht. Nie zuvor hat man so viele Sicherheitsbeamte in Hanau gesehen. Die Polizeipräsenz um unsere Moschee, insbesondere zu Freitagsgebetszeiten und an Wochenenden, wurde sichtbar erhöht. In den Gesprächen mit den Sicherheitsbehörden wurde uns zugesichert, dass man zukünftig öfter zusammenkommen werde. Dafür sind wir dankbar. Die Gespräche stehen noch an.

IslamiQ: Nach dem Anschlag haben Sie die Hinterbliebenen begleitet. Die Opfer waren ungefähr in Ihrem Alter. Das muss eine Herausforderung oder sogar Überforderung gewesen sein.

Bozkurt: Ja, die Opfer waren so alt wie ich, zum Teil sogar jünger. Dieser Anschlag hätte auch mich treffen können. Die Wochen hinweg habe ich mich gefragt: „Was würde ich tun und wie würde ich mich fühlen, wenn meine leibliche Schwester oder mein leiblicher Bruder ermordet worden wären?“ Ich habe stets versucht, mich in die Lage der Opferfamilien zu versetzen.

Mir ging es in diesen Tagen um die Angehörigen und ihre Belange. Die seelsorgerische Betreuung der Opferfamilien und die Organisation der islamischen Bestattungen standen im Vordergrund. Allein das erfordert schon viel Kraft in dieser schwierigen Zeit. Ich habe versucht Trost zu schenken, obwohl ich wusste, dass kein Wort das Leid und Schmerz der Eltern bzw. Angehörigen lindern wird. Wir haben zusammen mit den Angehörigen gegenseitig unsere Tränen abgewischt.

Wir sind der Überzeugung, dass unser Schöpfer uns auch die Kraft gegeben hat, diese Zeit zu überwinden und sie auch als eine Prüfung zu verstehen. Wir waren und sind uns im Klaren, dass der Islam uns ermutigt, im Leben fortzuschreiten. Dass der Tod unserer Freunde kein Ende ist, sondern der Anfang des ewigen Lebens.

IslamiQ: Ihr Engagement wurde von Oberbürgermeister Kaminsky und Stadtrat Morlock gewürdigt. Was bedeutet das für Sie und Ihre Gemeinde?

Imam Bozkurt: Das bedeutet uns sehr viel. Seit Jahren engagieren sich Muslime für das friedliche Gemeinwohl in Hanau. An dieser Stelle möchte ich mich nochmals bei unserem Oberbürgermeister, Herrn Kaminsky, und dem Stadtrat, Herrn Morlock, für ihr erfolgreiches Krisenmanagement und ihren Einsatz danken. Sie haben Tag und Nacht überall dort geholfen, wo geholfen werden kann. Ich kann bezeugen, dass sie mit uns zusammen getrauert haben und sich um alle Belange der Opferfamilien gekümmert haben. Des Weiteren bin ich auch den „Helden der Herzen“ unserer Stadt, also allen Mitgliedern des Ausländerbeirats Hanau, voran der Vorsitzenden Selma Yilmaz-Ilkhan, dankbar für ihren unermüdlichen und herzergreifenden Einsatz zum Wohle der Opferfamilien.

IslamiQ: Was muss sich Ihrer Meinung nach in der Gesellschaft ändern, damit solch eine schreckliche Tat nie wieder passiert?

Imam Bozkurt: Unsere Gesellschaft muss sich gegenseitig besser kennenlernen, als Nachbarn, als Arbeitskollegen und Bürger von Hanau. Man sagt: „Man ist Feind dessen, was man nicht kennt!“ Wir Hanauer lassen uns von solchen rechtsextremistischen Terroranschlägen nicht einschüchtern.

Diese Stadt ist unsere Stadt. Diese Stadt ist unsere Heimatstadt. Diese Stadt gehört uns allen. Wir werden weiterhin als Muslime und Menschen mit Migrationshintergrund diese Stadt prägen und für diese Stadt mit allen Menschen – egal welcher Religion oder Ethnie sie angehören – zusammenstehen.

Wir müssen die Gefahr der Hetze, des Hasses, sowie des Rassismus ernst nehmen und entschieden dagegen ankämpfen, insbesondere in den sozialen Medien. Vielfalt ist eine Bereicherung. Dieses Verständnis müssen wir an erster Stelle unseren Kindern und Jugendlichen in den Schulen beibringen.

Möge Gott uns in dieser Zeit und vor dieser Herausforderung zur Seite stehen.

Leserkommentare

Johannes Disch sagt:
Die Opfer des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt durch den islamistischen Terroristen Anis Amri dürfen wir auch niemals vergessen. Und die 3000 Opfer des islamistisch-terroristischen Anschlags auf das WTC 2001. Und die Opfer des Anschlags in Madrid, London, Bali, etc.
22.03.20
13:40
Ethiker sagt:
Mal ganz langsam Herr Disch, Die Anschläge haben keinen islamischen, sonderen einen politischen Hintergrund. Wäre kein Islam da, würde man aus dem Nationalismus, dem Rassismus oder aus Rache wegen Dem Kolonialismus schöpfen. Anis Amri hatte den Lebensstill eines Jugendlichen in Europa, testen von Alkohol und sog. schwachen Drogen, Clubbing und Partying. War ihnen also näher als sie glauben wollen. Von Islamischen Regeln meilenweit entfernt. Mohamed Atta etc. sind ähnliche Beispiele, die eine Religion missbrauchen um einen Machtanspruch zu deklarieren. Das sind Anschälge von labilen Persönlichkeiten mit einem kruden Islam- und Schariaverständnisses, meist zudem gut Integrierte, die aus einer Ohnmacht mit Macht reagieren. Menschen begegnen statt ausgrenzen.
28.03.20
15:15
Johannes Disch sagt:
@Ethiker 28.03.2020, 15:16) Die üblichen Ausreden, von wegen, das alles hätte nichts mit dem Islam zu tun. Als wäre der islamistische Terror nicht politisch. Der islamistische Terror ist die djihadistische Variante des politischen Islam.
30.03.20
9:44
Kritika sagt:
An Etiker CC Hr. Disch. Gut, dass sie das noch einmal verdeutlicht haben, Etiker. Ich recapituliere: Wenn ein nicht muslimischer Mensch Muslims tötet, einfach so, dann dürfen wir diese Muslims nie vergessen. Wenn aber ein Muslim ' Ungläubige ' tötet, einfach so, dann liegt die die Sache völlig anders, dann kann man die Nicht-Muslimische Opfer ruhig vergessen. Erst recht, wenn der MuslimTerrorist schon mal Alcohol getestet hat. Verstanden. Aber Im WTC, in NYC da töteten Muslims ' Ungläubige ' und Muslims zusammen. Welche der beiden OpferGruppen, muslemischen Terrors sollte man nun vergessen und welche ' niemals ' ? Grusslos Kritika
30.03.20
23:58
Johannes Disch sagt:
@Ethiker (28.03.2020, 15:15) So so, die bekannte Mär vom verwirrten seelisch kranken Einzeltäter, der nicht den "wahren Islam" lebte bzw. angerblich von islamischen Regeln weit entfernt war. Nö, die Regeln des djihadistisch-terroristischen Islam (Islamismus) hatte er verinnerlicht. Amrui war sehr wohl ein Muslim, und zwar ein radikalisierter Muslim. Radikalisiert in einer Berliner Hinterhofmoschee. Dasselbe gilt für Atta & Friends, die den Anschlag asuf die Twin Towers verübten. Auch diese huldigten einem radikalen neo-djihadistischen Verständnid des Islam. Dahinter steckt ein Gedankengebäude: Das Islam-Verständnis von Sayyid Qutb, dem geistigen Mentor des modernen Islamismus. Dieser Islam-Variante huldigte auch Bin Ladn. Das alles -- der islamistische Terror-- hat nichts mit dem Islam zu tun?? Oh doch, es hat eine Menge damit zu tun, nämlich mit einem radikalen Verständnis des Islam, wie es seit ca. 40 Jahrwen in der islamischen Welt en vogue ist. Und dieses radikale Islamverständnis bringen viele Flüchtlinge mit nach Europa. Siehe Anis Amri. Und er ist nur ein Beispiel für viele.
31.03.20
10:49
IslamFrei sagt:
Liebe Leser, " Wir müssen die Gefahr der Hetze, des Hasses - - - ernst nehmen " Ja, verehrter Herr Bozkurt in's Schwarze getroffen, lasst uns das tun. Wir sollten alle Texte und Schriften, in denen gehetzt wird verbieten, vom Markt nehmen. Dazu gehören auch Texte wie " "- - und tötet sie, woimmer ihr sie findet. " - - diese sind schlimmer als das Vieh " Ein berüchtigtes Buch verbreitet diese Hass c.q. Mordaufrufe in der Gegenwartsform. Das bedeutet, sie gelten jetzt und heute und hier. Viele simple Anhänger dieser Bewegung fassen das leider auch so auf und setzten die Mordaufrufe in Mord-Taten um. Einige Einwohner Deutschlands, welche diese Hetze feindselig finden, ' hetzen zurück '. Hierdurch sind auch viele Deutsche mit diesen Hetz- und Hass Verse bekannt geworden, welche gegen alle Einwohner Deutschlands gerichtet sind, sofern diese sie NICHT - aus gutem Grund -- den Islam ablehnen. Die Bewegung mit den HetzVersen ist prompt und verdient auf den allerletzten Sympatie-Platz gefallen, -------- Nun unsererseits zurück zu hetzen halte ich für falsch. Vielmehr sollten wir -- die Islamlose Mehrheit -- darauf hinwirken, dass alle Hetze und HassReden und - Schriften aus Deutschland verbannt werden. IslamFrei
01.04.20
0:54
gregek sagt:
die Kreuzzüge haben nach der kruden Logik von Ethiker zufolge auch nichts mit dem Christentum zu tun. Die Aussagen von Ethiker versinnbildlichen die Doppelmoral einiger Muslime: Für Verbrechen an Muslime ist die immer die Gesellschaft als Ganzes Schuld, bei muslimisch motivierten Terroranschlägen haben es immer Einzelfälle zu sein.
01.04.20
21:03