Während der Corona-Pandemie sind in vielen Städten öffentliche Gebetsrufe zu hören. Was für eine Bedeutung sie für Muslime und darüber hinaus haben, beschreibt Murat Gümüş.
Die Einschränkungen aufgrund des Corona-Virus wirken sich auch auf das religiöse Leben aus. Ganz gleich ob Muslime, Christen oder Juden, sie alle müssen seit Wochen auf Gottesdienste und alle anderen Versammlungen in Moscheen, Kirchen und Synagogen verzichten. So schnell u. a. die islamischen Gemeinden es auch geschafft haben, ihren Mitgliedern Vorträge, spirituelle Beratung und Unterrichte per Telefon und Internet anzubieten, diese digitalen Angebote können die spirituelle Leere, die durch das Fernbleiben der Moschee entsteht, nicht füllen.
Nicht wenige Muslime sehnen sich gerade jetzt nach den Moscheen. Viele werden sich dieses Bedürfnisses erst jetzt richtig bewusst. In diesem Augenblick, da die Menschen sich um sich selbst, ihre Familie und Nächsten sorgen, sie ihre Geschäfte schließen, um der Pandemie Einhalt zu gebieten, sie sich der Gefahr gegenübersehen, entlassen zu werden oder Pleite zu gehen, sie sich fragen, ob diese Pandemie eine Mahnung Allahs darstellt oder sie sich aufgrund des Flugverbots nicht um die Bestattung ihrer Nächsten kümmern können, ja in diesem Augenblick brauchen die Menschen vermutlich mehr von dem Trost, den die Moscheen bieten, als je zuvor.
Pensionierte und Ältere sind besonders betroffen. Denn für viele von ihnen sind Moscheen der einzige Ort, an dem sie ihre Zeit verbringen und Gesellschaft erfahren. Insbesondere solche Menschen, die vor vielen Jahren vieles aufopferten, um ein Moscheegebäude zu erwerben, auf dieser Baustelle aufopfernd zu arbeiten und dadurch den Aufbau der Moschee zu gewährleisten – in ihnen verursacht das Fernbleiben müssen zweifellos einen ganz eigenen Schmerz.
Die durch Corona verursachten Umstände haben eine erdrückende Atmosphäre geschaffen. Trost und Erleichterung hingegen bringen die aus Anlass der Corona-Krise öffentlich vorgetragenen Gebetsrufe, die auch durch soziale Medien Verbreitung finden. Die öffentlichen Gebetsrufe begannen in Duisburg (DITIB) und Hannover (IGMG) und wurden daraufhin auch in den Niederlanden und anderen europäischen Ländern durchgeführt. Die Verwirrung beim ersten Ansehen der Aufnahmen wurde abgelöst von Freude und Gefühlen, die schwer zu beschreiben sind. Mit den Gebetsrufen wurde den Muslimen ein Fenster geöffnet, das ihnen Trost spendet.
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Rolle der Kirchen. Auch sie bleiben in dieser schweren Zeit für ihre Mitglieder geschlossen. Um den Christen in Duisburg Lebensmut und Motivation zu spenden, trafen sie die Entscheidung, jeden Abend um 19 Uhr die Kirchenglocken zu läuten. Die Vertreter der Kirche wiesen den Vorstand der Duisburger Zentralmoschee (DITIB) darauf hin, dass in Duisburg auch viele Muslime leben und auch sie Lebensmut und Motivation benötigen. Der Vorstand der Moschee begrüßte diesen Vorschlag und wollte ebenfalls Solidarität bekunden. So wurde der erste Gebetsruf öffentlich vorgetragen.
Die Vorstandsmitglieder anderer Moscheen machten es den Duisburgern nach und beantragten, in ihren Kommunen den Gebetsruf während der bestehenden Beschränkungen öffentlich vortragen zu dürfen. Die Verantwortlichen einiger Kommunen zeigten Verständnis. Viele Moscheen jedoch erhielten keine Erlaubnis. In Berlin wurde eine Erlaubnis wieder entzogen. Als Grund gaben die Verantwortlichen des Berliner Senats an, dass der öffentliche Gebetsruf zu einer Menschenansammlung vor einer Moschee führte und dadurch gegen das Versammlungsverbot verstoßen wurde.
Warum zieht dieses Thema so viel Aufmerksamkeit auf sich? Immerhin wird in den Moscheen täglich zum Gebet gerufen. Es stellt sich die Frage, ob es um den Gebetsruf an sich oder die doch eher um seine Öffentlichkeit geht. Noch wichtiger scheint die Frage: Was ist es, was dieses Thema so interessant macht?
Die Freude der Muslime, die in der Nähe einer Moschee wohnen, in der die Erlaubnis zum Gebetsruf erteilt wurde, ist in vielen Aufnahmen zu sehen. Doch nicht bloß die Bewohner Hannovers, Amsterdams oder Kölns hören und sehen die Stimmen und Aufnahmen. Über soziale Medien erreicht der Gebetsruf viele Menschen. Jedes Video vom Gebetsruf wird tausende Male angesehen.
Auf die Frage, was der öffentliche Gebetsruf für die Gemeinde und ihre Mitglieder persönlich bedeutet, antworteten sie: dass gerade in dieser schwierigen Zeit, da sie nicht in die Moschee, nicht gemeinsam das Freitagsgebet verrichten und sich nicht auf den bevorstehenden Ramadan wie gewohnt in der Moschee vorbereiten können, dass gerade unter diesen Umständen und der mit ihnen einhergehenden Trauer, der Gebetsruf einen kleinen, symbolischen, aber doch starken Trost darstellt.
Andere schauen aus einem anderen Blickwinkel auf das Geschehen: nämlich der Akzeptanz der muslimischen Präsenz im öffentlichen Raum. Wenn auch der öffentliche Gebetsruf in den Bereich der Religionsfreiheit fällt und mithin durch die Verfassung geschützt ist, ist die Zahl der öffentlich vorgetragenen Gebetsrufe recht gering: nur in 35 von 2700 Moscheen darf der Gebetsruf öffentlich vorgetragen werden. Man stößt regelmäßig auf Widerstände.
Eines der strittigen Themen sind die eingehenden Beschwerden mit der Begründung, dass sich Nichtmuslime von den Lautsprechern gestört fühlen. Ein weiterer Streitpunkt rührt daher, dass Nichtmuslime es gar als verfassungswidrig erachten, wenn sie den Gebetsruf hören müssen, weil sie diesen als Beeinträchtigung ihrer „Negativen Religionsfreiheit“ betrachten. Zum öffentlichen Vortrag des Gebetsrufs kommt vor allem von radikalen Rechten Widerstand, um den Bau von neuen Moscheen auf verschiedenen Wegen zu torpedieren versuchen. Um diesen Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen verzichten viele Vorstände von sich aus auf den öffentlichen Gebetsruf.
Unter Muslimen gibt es auch solche, die der Meinung sind, dass all diese strittigen Themen entweder direkt oder indirekt die öffentliche Akzeptanz der Muslime berühren. Und auch solche, die meinen, die vorübergehenden Erlaubnis deute auf Anerkennung hin und dass sich in diesen schwierigen Tagen, um die Muslime gekümmert werde. Dieser Umstand trägt neben dem Trost auch dazu bei, dass sich Muslime stärker ihrem jeweiligen Land zugehörig fühlen.
Für einige sind die öffentlichen Gebetsrufe und die erteilte Erlaubnis ein Trost und Ausdruck davon, dass, nach Jahren der Diskriminierung, ausgrenzender Rhetorik und insbesondere Übergriffe auf Frauen mit Kopftuch und Moscheen, sich nun der Muslime angenommen wird. Und wieder andere blicken ganz anders auf das Thema. Sie deuten es als das „Aufgehen der Sonne (des Islams) im Westen“ oder, wenn man der Deutung rechter Populisten und radikaler Rechter folgt, als Alptraum der „Islamisierung des Abendlandes“.
Letztere Beispiele verdeutlichen, welche übersteigerte Bedeutung dem öffentlichen Gebetsruf in Krisenzeiten beigemessen wird, obwohl er doch weltweit etwas Alltägliches ist. Diese Deutungen sind äußerst problematisch, denn sie können den Boden dafür bereiten, dass Populisten sie instrumentalisieren und die schönen Entwicklungen für Polarisierungen missbrauchen.
Den öffentlichen Gebetsrufen wird von Ort zu Ort eine andere Bedeutung beigemessen: Den einen spendet er Motivation und Trost, für andere bedeutet er Akzeptanz und für wieder andere führt er zu Angst um die eigene Identität. Welche Bedeutung dem Gebetsruf auch beigemessen wird, er ist neben dem Ruf zum Gebet auch eine Chance, sich dem Ideal einer Gesellschaft anzunähern, die von einer Vielfalt geprägt ist, in der ein religiöser Mensch, dem Glauben eines anderen, respektvoll begegnet.
Während darüber gestritten wird, ob die Corona-Pandemie zu mehr Polarisierung oder Solidarität in der Gesellschaft führt, ist es angebracht, über die öffentlichen Gebetsrufe hinweg erbauliche Botschaften zu senden. Der Anfang wurde in Deutschland von den Mitgliedern des Koordinationsrates der Muslime (KRM) gemacht: Damit Christen sich während der für sie bedeutenden Osterfeiertage ihren Gottesdiensten in Ruhe hingeben können, wurde beschlossen, den Gebetsruf an diesen Tagen auszusetzen.
Daneben ist es angebracht, den Kommunen zu danken, die während der Corona-Pandemie und den damit einhergehenden Beschränkungen Feingefühl bewiesen haben, indem sie gestatten, den Gebetsruf öffentlich vorzutragen. In dem Maße, wie die Gebetsrufe Muslime verwundern, werden sie mit Sicherheit auch Nichtmuslime verwundern. Insbesondere mit ihnen muss der Kontakt aufgenommen werden, um zu erläutern, welche Bedeutung der Gebetsruf hat und warum er vorgetragen wird. Ein wichtiger Schritt wird hierbei sein, Nichtmuslime über die Nachbarschaftsprojekte der muslimischen Gemeinden zu informieren und ihnen Hilfe anzubieten. Vor allen anderen Dingen aber sind wir den Duisburger Kirchen dankbar, die mit ihrem ersten Schritt andere inspiriert haben, den Gebetsruf während der Corona-Pandemie öffentlich vorzutragen.